Picasso und das sich selbst malende Bild

Überarbeitete Fassung des Vortrags auf der Tagung der WSG ‚Sinn-Bilder-Sinn‘ am 17. September 2021 an der BSP in Berlin

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domke

Autor:in

Dr. Wolfram Domke studierte an der Universität Köln Psychologie und wurde später wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. W. Salber am Psychologischen Institut II. Er promovierte 1993 zum Thema „Psychologie von Leserbriefen“. Seit 1995 Beteiligung an verschiedenen Forschungsprojekten im Markt- und Medienbereich und Arbeit als Analytischer Intensivbehandler in eigener Praxis in Köln. Ab 2003 Leiter der rheingold Akademie in Köln sowie Gastdozent an verschiedenen Universitäten u.a. in Berlin und St. Gallen. Redaktionsmitglied der morphologischen Zeitschriften „Zwischenschritte“ (Print-Ausgaben) und „anders“, für die er auch zahlreiche eigene Beiträge schrieb.

wolfram@dom-ke.de

Picasso und das sich selbst malende Bild

Wir haben heute schon eine ganze Reihe von Bildern hier auf der Tagung gesehen. Es waren alles scheinbar feststehende Bilder, und genauso sind wir es ja auch gewöhnt. Wenn wir ins Museum gehen oder in eine Ausstellung, dann sind die Bilder fertig, fest aufgehangen und stehen erst einmal still. Wir haben in der Morphologischen Kunstpsychologie aber gelernt, dass man die Bilder durch unser Erleben beim Betrachten und vor allem durch die Beschreibung dieses Erlebens in Bewegung und zum Leben bringen kann. Vor längerer Zeit habe ich einen Film entdeckt, der einen anderen Zugang zur Bildbewegung ermöglicht und über den möchte ich heute sprechen. Kleine Ausschnitte des Films werden wir uns anschauen und können dann sehen, dass die Bilder der Kunst nicht vom Himmel fallen als perfekte Werke, sondern in einem Prozess entstehen, der sich erst entwickeln muss. Dass Werke also werden müssen, bevor sie etwas sind, ist eine banale Tatsache, die später jedoch oft vergessen wird. Der Film „Le mystère Picasso“ erinnert uns daran, indem er spannende Einblicke in die Unruhe, Unfertigkeit und Dramatik dieses Werdens gibt.

Eine Einsicht vorweg: Im Laufe der Beschäftigung mit dem Film kam mir immer mehr die Redewendung in den Sinn ,,ein Bild sagt mehr als 1000 Worte‘‘. Ich glaube, es steckt eine tiefe psychologische Wahrheit darin. Bildhaftes verstehen ist wirklich anders als das, was über Worte geschieht. Und so hatte ich bei der Vorbereitung zu diesem Vortrag gelegentlich Anwandlungen, vielleicht doch besser zu schweigen und die Filmbilder für sich sprechen zu lassen. Natürlich weiß ich, dass hier Tagungsbeiträge in Worten erwartet werden, aber ich möchte schon darauf hinweisen, dass es eine gewisse Diskrepanz gibt zwischen der Wirkung eines Bildes und dem, was Worte daraus machen. Darauf weist vielleicht eine andere Redewendung hin, die eine Art Synonym für verstehen ist: ,,im Bilde sein‘‘. Wenn man das sagt, heißt das: Man hat verstanden. Und ‚verstanden‘ heißt dann doch: Ganz in dem Bild drin sein und keine Worte mehr brauchen, weil das Bild für sich selbst spricht. Wenn Bilder eine Art Grundsprache des Seelischen sind – wovon die Morphologie ausgeht –, dann gibt es wohl so etwas wie ein ästhetisches Verstehen, das vielleicht sogar vor den Worten oder jenseits der Worte liegt. Um sich dieses andere Verstehen aber verfügbar zu machen, sind Worte – immer nahe am Erleben – zweifellos hilfreich. Das zeigt auch der Film, in den wir gleich hineinschauen werden. Während da die meiste Zeit über schweigend gemalt wird, kommen an einer bestimmten Stelle plötzlich doch Worte auf. Und das geschieht nicht zufällig, wie mir scheint. Aber dazu später mehr.

Nach dieser längeren Vorrede möchte ich ihnen nun gerne den Anfang des Filmes zeigen, damit Sie sehen können, welches besondere Setting hier gewählt wurde. Der Film aus dem Jahre 1956 ist vom französischen Regisseur Henri Clouzot, den Sie vielleicht von dem spannenden Film „Lohn der Angst‘‘ kennen. Clouzot hat seinen Freund Picasso überreden können, ihn beim Malen filmen zu dürfen. Die Besonderheit ist hier, dass Picasso auf einer semi-transparenten Leinwand malt, die von der Rückseite gefilmt wird. Dadurch bleibt der Maler meistens unsichtbar, während wir eine Leinwand sehen, auf der sich nach und nach ein Bild scheinbar wie von selbst malt. Durch dieses eigentümliche Setting setzt der Film die morphologische Auffassung sichtbar ins Werk, wonach das Seelische ein sich selbst malendes Bild ist. Wir wissen natürlich, dass es Picasso ist, der den Pinsel führt. Aber Dank des Kunstgriffes mit der halb durchsichtigen Leinwand bekommen wir hier einen bildhaften Begriff davon, wie jene ‚Entwicklung in sich‘ des Seelischen aussehen kann, von der die Morphologie so oft spricht.

Gesprochener Vorspanntext zu Beginn des Films gesprochen von Henri Clouzot:

„Wir wollen wissen, was in Rimbauds Kopf vor sich ging, als er das ‚Trunkene Schiff‘ schrieb; in Mozart, als er die Jupiter-Symphonie komponierte. Wir wollen dem geheimen Mechanismus auf die Spur kommen, der den Genius bei seinen gefährlichen Abenteuern leitet. Gott sei Dank kann man das, was man in der Musik und in der Poesie nicht zeigen kann, in der Malerei zeigen. Um zu erfahren, was im Kopf eines Malers vorgeht, brauchen wir nur seiner Hand zu folgen. Sie werden sehen, wie außergewöhnlich, das Abenteuer des Malens ist: Er läuft, er gleitet im Gleichgewicht über das gespannte Seil. Eine Kurve nach der rechten Seite, ein Tupfer nach der Linken. Wenn er sein Gleichgewicht verliert, bricht alles auseinander. Alles ist verloren. Wie ein Blinder tastet sich der Maler durch die Dunkelheit der weißen Leinwand. Und das Licht, das langsam entsteht, schafft der Maler paradoxerweise, indem er immer mehr schwarz verwendet. Zum ersten Mal spielt sich das alltägliche und geheime Drama des Schöpferisch-Blinden vor allen Augen ab. Denn Picasso ist bereit, es hier zu leben – vor Ihnen und mit Ihnen.“

Nun weiß ich nicht,  wie Sie diese Vorrede erleben. Der Film ist immerhin 65 Jahre alt und die Art, wie Clouzot hier spricht, passt wohl nicht mehr so ganz in unsere Zeit. Das Gesagte holt weit aus, ruft große Namen auf, kommt vielleicht allzu pathetisch daher, ist also überhaupt nicht ‚cool‘. Ich muss aber ehrlich sagen, mir gefallen die Worte ganz gut, weil sie nahe an dem sind, was man auch aus psychologischer Sicht sagen kann. Das einzige, was ich ändern würde, ist das Subjekt des Geschehens. Clouzots Einleitung ist verständlicher Weise ganz zentriert auf Picasso als Autor der nachfolgend gezeigten Werke. Ich würde aber gerne vorschlagen, nicht die Person, sondern den bildschöpferischen Prozess zum Subjekt des Geschehens zu machen – also nicht den Maler, sondern das Malen. Wenn wir das machen, gewinnt das Gesagte einen allgemeingültigeren psychologischen Sinn.

Wir wollen dann also nicht so sehr wissen, was im Kopf eines Genius vorgeht, sondern was den bildschöpferischen Prozess ‚in sich‘ ausmacht: Welchen geheimen Mechanismen folgt er? Wie findet und verliert er Gleichgewicht beim Fortschreiten auf einem stets gespannten Produktions-Seil? Wie lässt er langsam Licht entstehen ausgerechnet durch Schwärzungen? Wie tastet er sich im Dunkeln seines Schöpfungsdramas zu einer Bildgestalt voran? Dieses ganze Unternehmen nennt Clouzot „gefährliches Abenteuer“ und die Morphologie „riskantes Werk“. Jede Bildentwicklung ist ein riskantes Werk, das eindrucksvoll gelingen, immer aber auch daneben gehen kann. Wir werden im Film Beispiele für beides sehen und sie sollen die morphologische These veranschaulichen, dass es im Seelischen genauso zugeht: Das Seelische ist ein sich selbst malendes Bild.

In diesem Film werden insgesamt 8 oder 9 Bilder gemalt, die meisten davon aber im Zeitraffer gezeigt. Das heißt, wir erleben sie nicht im ursprünglichen Produktionstempo mit, sondern in einer verdichteten Form. Wir werden später ein Beispiel haben, wo eine Bildproduktion im Film etwa 10 Minuten dauert, im Originaltempo aber 5 Stunden brauchte. Das nun folgende Beispiel ist das einzige in dem Film, das im Originaltempo abläuft. Der Regisseur macht ein Experiment mit Picasso, indem er ihm sagt, der Film reiche nur noch für etwa 5 Minuten. Auf die Frage, ob er in der Zeit ein Bild schaffe, antwortet Picasso „kein Problem“ und lässt sich auf diese Herausforderung ein. Und das macht die Sache psychologisch nun so spannend, denn was dann passiert, ist nichts anderes als eine regelrechte Bild-Aktualgenese, die wir im Originaltempo miterleben können.

 Anstelle der demnächst hier einzufügenden Filmausschnitte, auf die sich der Vortrag jeweils bezieht, können wir zunächst ‚nur‘ einige Stand-Fotos aus dem Film zeigen. Nach Klärung von Urheberrechten und in Handhabung des damit verbundenen technischen Aufwands werden die entsprechenden Filmausschnitte dann jedoch ebenfalls zu sehen sein.

Oft klingt es so theoretisch, wenn die Morphologie von Gestalt und Verwandlung spricht. Hier in dem Beispiel kann man sie nun am Werk sehen: anschaulich im Bild und konkret im Prozess. Wie beginnt das? Den Anfang bilden drei so krumme Eier, die noch sehr unbestimmt sind. Dann kriegen die viele Stacheln rundherum und könnten womöglich so etwas wie Igel werden. Dann geht es langsam über in eine Spirale in der Mitte, wo man denkt, das könnten auch Blumen sein. Und tatsächlich geht es nun in Richtung eines Blumenstraußes, zu dem sich die Igel-Eier mühelos verbinden. Und weiter: Mit einer rasch umrundenden Bewegung wird das, was eben noch ein Blumenstrauß war, im Handumdrehen auf einmal ein Fisch. Wenn wir uns anstrengen, können wir den Blumenstrauß von davor noch sehen,  aber auf den ersten Blick ist die Gestalt so verwandelt worden, dass wir nun eindeutig einen Fisch sehen. Die vorherige Gestalt ist als Innenleben noch mit drin in der Fischgestalt, ist jetzt aber anders geworden. Und dann sieht man irgendwie, da wird noch ein bisschen was ausgeführt innen, dann wieder links oben, als ob die Malbewegung die Stelle suchen würde, an der die weitere Verwandlung wieder ansetzen kann. Und sie findet diese Stelle. Denn nun geht es mit einem Mal auf die Gestalt eines Huhnes oder Hahnes zu. Was vorher also eine Art Igel war, dann zu Blumen wurde, und dann zu einem Fisch, geht nun in Richtung Hahn oder Huhn. Und die Umgestaltung geht so leicht, gelingt so gut, dass der Hahn nun ganz das Bild beherrscht. Wenn man sich anstrengt, kann man die alten Sachen noch sehen, aber auf den ersten Blick hat sich die Gestalt tatsächlich verwandelt, ist eine andere geworden.

Und dann geht es an die bisher schwarz-weiße Grundstruktur der Gestalt, in die jetzt offenbar Farbe hineinkommt. Zunächst sieht es so aus, als würde das bis dahin Entstandene einfach nur bunt koloriert. Schnell merken wir aber, dass die Farbe nicht nur koloriert, sondern selbst anfängt, mit der Gestalt etwas anderes zu machen. Sie fängt nämlich an, bestimmte Teile zu überdecken und andere wieder hervorzuheben aus dem Inneren: Zwei dieser krummen Eier oder Igel vom Anfang bekommen einen Strich dazwischen, so dass man das Gefühl hat, das könnten nun zwei Augen sein und eine

 

Nase dazwischen. Tatsächlich geht es nun zügig in Richtung eines Gesichtes. Am Schluss entsteht eine komische Gestalt, in der manche so etwas wie ein Katzengesicht, andere eine Art Harlekin oder eine Teufelsfratze sehen. Und dann kommt etwas ganz Bemerkenswertes: Das meiste von dem, was der Bildprozess bis dahin zustande gebracht hat, wird nun weitgehend geschwärzt. Wenn nun auch vieles weg ist, einige Reste des Vorlebens der Gestalt gucken an manchen Stellen noch hervor. Man könnte sagen, das sind die berühmte „Fransen“ nach W. James, von denen W. Salber oft sprach. In dem Bild, dass am Ende als ‚fertig‘ angehalten wird,  stecken also viele andere Bilder drin, die nun fast nicht mehr sichtbar sind. Wie beim Wolf in den Märchen, der andere Gestalten auffrisst und sie in seinem Bauch verschwinden lässt. Man kann diese einverleibten Vor-Bilder als reiche Vorgestalten dessen ansehen, was sich als reduzierte Endgestalt dann durchsetzt. Oder man versteht sie als verschiedene Versionen, die die Bildproduktion alle braucht und erst durchlaufen muss, um überhaupt befriedigend enden zu können.

So ist es mir bei diesem ganzen Film immer mehr zu einer Frage geworden und zu einem Problem, was eigentlich eine „Endgestalt“ ist. Also, wir haben ja alle gelernt, dass es am Schluss von Sanders ‚Aktualgenese‘ so etwas wie eine ‚gute Gestalt gibt‘: Die unruhige Bildbewegung findet ihr ‚happy end‘ und es herrscht endlich wieder ‚Ruhe im Karton‘ des Seelischen. Diese Endgestalt kann man dann als fertiges Bild ins Museum hängen, denn sie hat ihren immanenten ‚Bildersturm‘ ja bereits hinter sich. Ist das wirklich so? Die Morphologie hat die Prozess-Dramaturgie der Aktualgenese immer lehrreich gefunden, der ‚guten Endgestalt‘ aber beharrlich misstraut, weil sie doch nicht erklären konnte, wie es danach weitergeht im seelischen Geschehen. Ja, hier in Picassos Werk findet die Bildbewegung tatsächlich ein Ende, aber es sieht nicht aus wie beruhigte Endgestalt.  Dafür sorgen eben jene alte ‚Fransen‘, die aus der Endgestalt herausgucken und jene neue Randfigürchen – neben der Teufelsfratze –, die uns beim Betrachten vor Rätseln stellen. Das fertige Bild ist eher ein Bildrätsel als eine klar erkennbare Lösung; es hat etwas durchaus Geschlossenes, aber eben auch etwas Offenes.

Eine weitere Frage: Was ist dieses beherzte Schwärzen gegen Ende der Bildentwicklung? Es ist ein ja ein ziemlicher Gewaltakt, der viele Spuren der bisherigen Bildgeschichte radikal beseitigt. Man könnte den schönen Zwischenstationen nachtrauern, die hier so mitleidslos überdeckt werden, aber ganz offenkundig hilft das, eine bestimmte Gestalt letztlich herauszustellen. So ist das Schwärzen sowohl ein Verdrängungsvorgang als auch eine notwendige Herausmodellierung, um eine bestimmte Gestalt aus dem Grund ins Licht zu rücken. Prägnant-Machen, Gesicht-Gewinnen gehört zum ganzen Bildprozess dazu, aber die Endgestalt ruht hier nicht in Frieden, sondern bekommt gewissermaßen Widerhaken, an denen sich der Bildprozess wieder starten lässt. Und wenn eine Gestalt oder ein Bild diese Widerhaken nicht hat, wird es für uns beim Betrachten im Museum nicht so leicht sein, in das Bild hineinzukommen. Ich glaube, das hat vor allem die moderne Kunst gut verstanden, solche Widerhaken miteinzubauen.  Also etwas, was mit im Bild ist und zugleich rebelliert gegen das Bild, so dass die Unruhe der Bildbewegung spürbar in Gang bleibt.

Es ist doch interessant, dass die Bildbewegung im gezeigten Beispiel sich nicht mit dem erstbesten Sinn begnügt, den es gefunden hat – auch nicht mit den zweiten oder dritten Sinn. Der Prozess der Bedeutungsmetamorphose will weitergehen – muss vielleicht weitergehen, bis die verschiedenen Sinne sich in einem erschöpfen. Armin Schulte hat mich im Vorfeld auf das bekannte Zitat von Picasso hingewiesen: ,,Ich suche nicht, ich finde‘‘. Was wollte Picasso damit sagen? Vielleicht, dass ein gutes Bild nicht (nur) durch angestrengte Ausrichtung auf etwas Gewolltes zustande kommt, sondern auch durch Zulassen von Ungewolltem, Ungeplantem. ‚Finden‘ hieße dann: Aufgreifen-Können dessen, was sich im Bildprozess unterwegs entwickelt, und das lässt sich am Anfang noch gar nicht absehen. Aber dass man etwas finden kann, ganz ohne zu suchen, erscheint mir aus psychologischer Sicht eher unwahrscheinlich. Schließlich gibt es doch so etwas wie eine unbewusste Suche, die dann scheinbar absichtslos findet und doch eine geheime Richtung verfolgte. Insgesamt hilft es vielleicht weiter, den Prozess des sich selbst malenden Bildes als etwas Halboffenes zu betrachten: Irgendetwas ist immer schon da und sucht sowohl seine gestalthafte Weiterführung als auch seine Verwandlung. So gesehen, findet der Prozess immer eine Fortsetzung, aber er weiß noch nicht welche. Wie sollte er sonst jenes „Abenteuer“ sein, von dem Clouzot eingangs spricht? Wenn ich am Anfang schon genau weiß, wo ich enden werde, ist es doch kein Abenteuer, sondern eine sichere Sache wie etwa beim ‚Malen nach Zahlen‘. Aber sicher scheint die Sache der Bildentwicklung und die Sache des Seelischen eben nicht zu sein – dafür werden wir nun ein Beispiel sehen.

Es wurde eben noch einmal nach dem Titel des Films gefragt. Er heißt „Le mystère Picasso“, aber für unsere Zwecke würde ich ihn gerne umbenennen: Wenn schon Mysterium, dann besser ‚Mysterium des Bildschöpfungsprozesses‘, denn der hat ja wirklich etwas Geheimnisvolles, was wir hier auch beim zweiten Beispiel sehen können. Also da geraten wir – ich hoffe, dass Sie das auch erleben –, in eine Bildstörung hinein, in eine Bildproduktionsstörung. Es fängt wie gewohnt zügig und gekonnt an: Schnell ist ein Entwurf mit ersten Strukturierungen da, die eine Art mediterranen Strand mit Badegästen erkennen lassen. Zuversicht macht sich breit, das Bild gewissermaßen schon ‚im Kasten‘ zu haben. Und dann passiert etwas Merkwürdiges. Das schwungvoll begonnene Bild gerät irgendwie in Schwierigkeiten, die schwer zu bestimmen sind. Es wird an vielen Stellen herumgebastelt, hier etwas entfernt, da etwas hinzugefügt und trotzdem kommt das Bild nicht recht weiter. Es stockt irgendwie.

Wir haben im Psychologiestudium einmal das sogenannte Neun-Punkte-Problem behandelt. Vielleicht kennen Sie es: Man sieht neun Punkte, die wie ein Quadrat angeordnet sind, drei oben, drei in der Mitte, drei unten. Und die Aufgabe lautet: Verbinden Sie die neun Punkte mit 4 geraden Linien ohne abzusetzen. Es war unserem Dozenten damals sichtlich eine Freude zu beobachten, was dann passiert. Nach einer Viertelstunde brauchte er nur auf unsere Blätter zu gucken und wusste, wir hatten die Lösung noch nicht gefunden. Mit einem Blick war zu sehen: Alle suchten die Lösung immer wieder in der nahegelegten Gestalt des Quadrates, wo sie aber nicht zu finden war. Die Lösung gelingt nur, wenn man das Quadrat verlassen kann und über seine Grenzen hinausgeht. Erst dann lassen sich tatsächlich alle 9 Punkte mit vier geraden Linien verbinden, was in den vielen Versuchen davor ein verzweifeltes Ding der Unmöglichkeit zu werden drohte.

Etwas ganz Ähnliches passiert, so meine ich, im gerade gezeigten Werk von Picasso.  Die Bildentwicklung, die auf ihre beeindruckende Kunst der Metamorphose eigentlich blind vertrauen kann, gerät mit einem Mal in eine Produktionskrise, in die sie sich zunehmend heilloser verstrickt. Dabei sieht es zunächst noch so aus, als gäbe es viele Auswege aus der Sackgasse des Schaffens. Sie werden tatsächlich auch aufgesucht, aber komischer Weise ändern sie nichts, weil eine bestimmte Drehgrenze offenbar nicht überschritten werden kann. Die Bildentwicklung  kriegt die einmal gefundene Gestalt zwar in Einzelheiten verändert, aber nicht mehr im Ganzen verwandelt. Sie rennt sich fest und macht das, was wir alle ganz gut kennen in solchen Zuständen: Sie greift zurück auf die bewährten Methoden, mit denen sie sich normalerweise aus solchen Klemmen retten kann. Hier sind es z.B. die vielen eingeklebten Papierstreifen, die wie Wundpflaster wirken. Für kurze Zeit geben sie der stockenden Bildentwicklung Hoffnung, mit einer eingeübt wirkenden Collagetechnik vielleicht doch noch die Kurve zur Umgestaltung kriegen zu können. Aber bald zeigt sich, dass weder dieser noch andere Strohhalme funktionieren.

Die Bildentwicklung gerät immer mehr in Not, was sich – wie ich finde – besonders gut in den nicht enden wollenden Korrekturbewegungen an der Bikinifrau am Strand zeigt. Die sichere Meisterhand der Gestaltung verliert sich zusehends, bekommt etwas Fehlgriffiges, auf das fast schon trotzig weiterbeharrt wird. Spätestens hier wird spürbar, wie das sich selbst malende Bild in den Zustand einer Stundenneurose hineintreibt: Viel demonstrierte Betriebsamkeit bei gleichzeitigem Produktionsstillstand. Die Bildentwicklung verliert ihren schöpferischen Fortschritt und gerät in ein weitgehend unproduktives Kreiseln  auf der Stelle. Was in der Klinischen Psychologie  ‚Neurose‘ heißt, wird von der Morphologie ‚Verkehrt-Halten‘ genannt. Das Problem dabei ist nicht so sehr, auch mal in Verkehrtes zu geraten – das ist eher etwas Normales. Das schwerwiegendere Problem besteht darin, dass Bilder und Seelisches manchmal zäh am Verkehrten festhalten, und so den Fluss des seelischen Geschehens zum ‚Einschnappen‘ bringen. Und damit haben wir es hier zu tun.

Die Bildentwicklung dieses St(r)andbildes hängt fest in einer Art Ansichtskarte, einer schönen Ansichtskarte, aus der sie nicht mehr herauskommt. Das ist ja der psychologische Sinn von Ansichtskarten, dass sie nur die ‚Schokoladenseite‘ eines Urlaubsortes zeigen, wo der Strand schön ist, das Meer blau und die Sonne immer scheint. Solch eine Ansichtskarte hat Picasso hier natürlich nicht gemalt, aber es ist doch eine Ansichtskarte in dem Sinne, wage ich jetzt sagen, dass es über diese eine Ansicht nicht wirklich hinauskommt. Der Bildprozess versucht sich zu drehen und zu wenden, aber es will nicht gelingen. Und jetzt komme ich zurück zu dem, was ich anfangs ansprach zu dem Verhältnis von Bild und Worten. Dieses Bild, das wir jetzt zum Schluss gesehen haben, dieses Bild ist das einzige im ganzen Film, wo Picasso bei der Herstellung zu sprechen beginnt. Bei allen anderen Bildern wird geschwiegen oder höchstens gesagt, dass noch Tusche ansetzen ist. Nur bei diesem Bild kommen auf einmal mehr Worte auf, und das erscheint mir kein Zufall. Solange die Bildentwicklung wie selbstverständlich funktioniert, braucht sie offenbar keine Worte; da sind die Worte vielleicht sogar irreführend, weil sie nicht wirklich den Sinn des Bildes treffen. Erst als die Bildentwicklung Probleme kriegt, als sie stecken bleibt und ins Kreiseln gerät, da beginnt sie zu sprechen.

Äußerlich betrachtet entsteht nun ein Dialog zwischen Picasso und Clouzot, aber man kann das Gesagte auch ansehen wie ein Selbstgespräch der Bildproduktion, mit dem sie sich und ihre Störung zu behandeln und zu verstehen sucht. Hier das Gespräch im Wortlaut:

„Das ist schlecht. Das ist sehr, sehr schlecht! Du kriegst Angst, was? Das brauchst du nicht, denn es könnte noch viel schlimmer enden. Warum guckst du so verschreckt? Du wolltest doch Dramatik, nun hast du sie! Aber für den Film ist das nicht gut. Warum? Um die Zuschauer habe ich mich nie gekümmert, und in meinem Alter fange ich damit auch nicht mehr an. Außerdem wollte ich gerade das zeigen: Die Wahrheit auf dem Grunde des Brunnens erhascht. Die Nacht bricht herein, immer mehr. Der Mond, die Sterne, eine Sternschnuppe. Das ist sehr schlecht! Ich werde alles zerreißen!“

(Man sieht nur noch Einzelteile; dann Verwischungen und Neuzeichnungen)

„Es hat immerhin Fortschritte gemacht – auf alle Fälle ist es ein Bild. Jetzt, wo ich sehe, wo ich angekommen bin, nehme ich eine neue Leinwand und fange von vorne an.“

Wie man sieht, helfen Worte hier die Krise zu beschreiben, in die das sich selbst malende Bild geraten ist. Es ist eine Krise mit sehr gemischten Gefühlen: Angst um das Werkschicksal und kritische Selbstverurteilung, schmerzlicher Offenbarungseid und trotzige Schutzbehauptung, dunkle Selbstverlorenheit und lichte Wahrheitsfindung, Zerstörungsdrang und Lust zum Neuanfang. Dieses dramatische Gewoge ist Zuständen nun wirklich nicht unähnlich, in denen Menschen zum Beispiel eine psychotherapeutische Praxis aufsuchen. Wenn Bilder sich selbst nicht mehr verstehen, brauchen sie also ganz offenkundig Worte, um eine andere Behandlung in Gang zu bringen.

In seinem Buch „Die eine und die andere Seite“ hat W. Salber eine „Schöpfungs- oder Entwicklungsspirale“ beschrieben, die er später als kleine Skizze auch zeichnete. Wir verwenden sie gerne in unserer Therapieausbildung. Sie besteht aus mehreren Spiraldrehungen, die mit Unruhe und Angst beginnen und mit Unruhe und Angst schließlich auch enden. Dazwischen gibt es in dieser seelischen Schöpfungsspirale verschiedene Wendepunkte und Entwicklungsschritte. Erste Formen, die Unruhe und Angst des Seelischen zu behandeln, sind Träume, Rituale und Besessenheiten.  Später kommt es dann u.a. zur Ausbildung von Empfindsamkeiten und Werk-Kultivierungen. In der letzten Schleife, bevor das Ganze wieder in die Unruhe eintaucht, stehen sich „Freie Kunst“ und „Verkehrt-Halten“ gleichberechtigt gegenüber. Das Gelingen einer Bildentwicklung und das Scheitern einer Bildentwicklung liegen für W. Salber also ‚auf Augenhöhe‘ – in beiden zeigt sich die Kunst des Seelischen. Oder anders gesagt: Sie bilden die gemeinsame Konstruktion eines „behinderten Kunstwerkes“ – eine weitere morphologische Definition des Seelischen.

Meistens wird die ‚Freie Kunst‘ als etwas Positives und ‚das‘ Verkehrt-Halten als etwas Negatives angesehen, aber so einfach ist das aus psychologischer Sicht eben nicht. Das zuletzt gezeigte Filmbeispiel macht wohl deutlich, dass erst eine gravierende Bildstörung uns wirklich verständlich machen kann, auf welch einem „gespannten Seil“ sich jede Bildentwicklung die ganze Zeit bewegt. Auch die imponierendste Metamorphosen-Kunst des Seelischen ist ein riskanter Drahtseilakt, der jederzeit schief gehen kann. Dass Clouzots Film bei aller Kunst ausgerechnet mit einem solchen Schiefgehen endet, mag gewagt erscheinen. Es ist ja kein erleichterndes ‚happy end‘ sondern ein eher strapazierendes ‚open end‘. Immerhin macht es klar: So geht’s nicht weiter, aber vielleicht anders. Für mich jedenfalls war das Schlussbeispiel des Films die Hauptquelle für die vielen Worte, die ich hier gemacht habe. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Anmerkungen

Eine gekürzte Fassung des Film s. unter https://www.youtube.com/watch?v=teD0PtlkD2k

auch https://www.youtube.com/watch?v=wa-mQcZfslc

Sowie https://www.youtube.com/watch?v=La5ynQoGPg0

 

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domke

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Dr. Wolfram Domke studierte an der Universität Köln Psychologie und wurde später wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. W. Salber am Psychologischen Institut II. Er promovierte 1993 zum Thema „Psychologie von Leserbriefen“. Seit 1995 Beteiligung an verschiedenen Forschungsprojekten im Markt- und Medienbereich und Arbeit als Analytischer Intensivbehandler in eigener Praxis in Köln. Ab 2003 Leiter der rheingold Akademie in Köln sowie Gastdozent an verschiedenen Universitäten u.a. in Berlin und St. Gallen. Redaktionsmitglied der morphologischen Zeitschriften „Zwischenschritte“ (Print-Ausgaben) und „anders“, für die er auch zahlreiche eigene Beiträge schrieb.

wolfram@dom-ke.de

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