Ein Einblick in die psychologische Erlebenswelt der Aktie bei Privatanlegern
Eric Pagels, Jahrgang 1996, ist studierter Wirtschaftspsychologe (B.Sc.) und gelernter Industriekaufmann. Er begeistert sich für Themen rundum Finanzen, Psychologie und Unternehmensberatung. Als junger Privatanleger kennt er die Faszination des Aktienmarktes und bietet durch seine kultur- und tiefenpsychologische Forschung einen ganzheitlichen Verständnisansatz zu dem Phänomen der Aktie.
Jakob Mair hat Economics (B.Sc.), Kultur- und Wirtschaftspsychologie (B.A.) sowie Personal- und Organisationspsychologie (M.A.) studiert und die postgradualen Ausbildungen zum Analytischen Intensivberater und Balintgruppenleiter abgeschlossen. Berufliche Erfahrungen sammelte er zunächst in Marktforschung und User-Experience-Testing. Aktuell doziert er an der Business School Berlin sowie der Filmuniversität Konrad Wolf in Babelsberg im Bereich der psychologischen Wirkungsforschung. Darüber hinaus unterstützt er als psychologischer Berater Firmen und Privatleute bei Transformationsprozessen. Für seine Promotion versucht er die ‚Verarbeitung‘ der Digitalen Revolution in Organisationskulturen besser zu verstehen, um anwendungsbezogene Kulturformen für die Zukunft zu entwickeln.
Aktien, Finanzen und Altersvorsorge bezeichnen drei Schlagworte, die eingangs nicht unbedingt eine besonders anziehende oder spannungsgeladene Wirkung für den „Normalverbraucher“ – insbesondere in Deutschland – innehat. Speziell der Aktienmarkt birgt schnell den Anschein es gehe nur um trockene Fakten, abstrakte Quantenmodelle und genau durchdachte Strategien. Gleichzeitig umgarnt das Konstrukt der Aktie jedoch auch ein gegenströmender Ruf von Manipulation, Unwillkür und glücksspiel-ähnlichen Eigenarten, welche in Kombination, vor allem Nicht-Aktionäre, zu einer enormen Skepsis und Zurückhaltung veranlassen.
Dennoch gewinnt der Aktienmarkt im gegenwärtigen Zeitgeist immer weiter an Popularität. Schwindende Altersrenten in Kombination mit sinkenden Sparbuchzinsen und einer anhaltenden Inflation drängen Unbehagen in die Kultur. Das Familien-Sparbuch oder der Bausparvertrag bieten durch niedrige Zinsen nun wenig Rentabilität. Also wozu das Ganze? Innovative Trading-Plattformen und „Neo-Broker“ erleichtern demgegenüber mit nur wenigen Daumenbewegung den Zugang zu schier endlosen Möglichkeiten in Finanz- und Aktienmärkten. Diese Welt suggeriert Privatanlegern geradezu endlose Entwicklungspotenziale.
Rendite und Risikoberechnung sind hier schon langer nicht mehr (und waren vermutlich auch nie) der alleinige Taktgeber für die Erlebenswelt und das Verhalten des Menschen. Die Verhaltensökonomie und Behavioral Finance haben dies eindrücklich z.B. in Form der Konstrukte der „kognitiven Verzerrungen“ und der „Heuristiken“ als Limitationen des Homo-Economicus aufgezeigt. (Tversky & Kahneman, 1974) Die Rationalität des (Privat-)Anlegers wird demnach durch diverse Störfaktoren eingeschränkt und nutzenoptimierende Entscheidungen erschwert.
Doch ist es aus psychologischer Perspektive sinnvoll von allgemeinen Störfaktoren im Erleben und Verhalten des Menschen zu sprechen? Die genannten Konstrukte wie z.B. Rentabilität, Risiko oder auch Rationalität sind in einem wirtschaftlichen und finanziellen Kontext durchaus angemessen und sinnstiftend. Wenn es auf dem Weg zur Nutzenoptimierung mit Aktien zu kontraproduktiven Entwicklungen kommt, ergibt es alle Male Sinn diese aus Perspektive des Nutzens auch als Störung oder Verzerrung zu verstehen und zu behandeln. Wenn der Anspruch jedoch darin besteht, ein ganzheitlich-psychologisches Verständnis über das Erleben und Verhalten am Finanzmarkt zu produzieren, ist diese Betrachtung einseitig und zu isoliert vom zusammenhängenden Alltag der Privatanleger.
Die Grundannahme dieses Beitrages besteht darin, die psychologische Wirkung des Konstruktes „Aktie“ im Alltagszusammenhang zu betrachten und keine Qualitäten vorschnell als irrational oder sinnlos abzutun. Denn die Psyche bzw. das Seelische sucht und produziert stets Sinn – auch wenn dieser nicht im klassischen Verständnis rationaler Investitionsentscheidungen zu finden ist. (Schulte, 1997) Ein vermeintlich irrationales Erleben birgt Sinn in unbewussten Zusammenhängen und hat so eine „rationale“ Funktion in der Erlebenswelt und dem Alltag der Menschen.
Die Individualisierung und Pluralität der Gesellschaft, die sich insbesondere in der Postmoderne allmählich immer weiter als prägende Kulturzüge herausstellten, eröffnen heute eine unüberschaubare Anzahl an zulässigen Lebens- und Weltbildern in unserer Gesellschaft. (Salber, 1993) Durch den Konsum von Lebensbildern haben wir Zugriff auf seelische Qualitäten aller Art und Diversität auszukleiden wird immer mehr zur persönlichen Pflicht, statt zur selbstentfaltenden Kür des Individuellen.
Unsere Kultur, unser Alltag und unser Seelisches werden durch eine Vielzahl an zusammenhängenden Wirksamkeiten stetig in Bewegung gehalten. Dabei existieren Bilder und Zusammenhänge nicht einfach isoliert „nebeneinander“, sondern sie kultivieren und überlagern einander – dabei produzieren sich so stetig neu. (Salber, 1985)
Die „Überdetermination“ (ebd.) dieser Wirksamkeiten zeichnet unsere Kultur und wird am Finanzmarkt auf die Spitze getrieben. Die Informationsfluten, Widersprüchlichkeiten und Überlagerungen der Bilder am Finanzmarkt des digitalen Zeitalters führen zu ambivalenten Informationen und zu unklaren Entscheidungssituationen. Der Finanzmarkt ist gigantisch und – wie das Seelische – ebenfalls stetig in Bewegung. In diesem Moment erscheint Unternehmen X als eine sichere Investition und im nächsten Moment stellt sich das Unterfangen als katastrophal heraus. Lieber Langzeit- oder Kurzzeitinvestor? Long- oder Short-Position? Kaufen, halten oder verkaufen? Die vielen ineinander verflochtenen globalen Phänomene und Möglichkeiten können einen (potenziellen) Anleger schnell überfordern und so zur Kapitulation oder gar zu voreiligen Entscheidungen verleiten.
Wie geht Seelisches aus einer kultur- und tiefenpsychologischen Perspektive mit diesen Eigenheiten des Finanzmarktes am Beispiel der Aktieninvestition um? Welche Wirkungen haben Aktien im Alltag des Privatanlegers? Und welche Erlebensprozesse und Umgangsformen ergeben sich daraus?
Die folgenden Seiten sollen einen Einblick in die umfassende und tiefgreifende Erlebenswelt der Privatanleger im Alltags-Zusammenhang der Aktie bieten.
Aktien sind allgemeinüblich Beteiligungspapiere, welche einen Wertanteil an einem Unternehmen versprechen. Ein Aktionär besitzt somit Anteile an einem oder mehreren Unternehmen und kann von Wertveränderungen oder Dividenden profitieren oder auch an der Hauptversammlung der Aktionäre des jeweiligen Unternehmens teilnehmen und Einfluss geltend machen. Die Wertveränderungen der Aktien können sowohl zu Verlusten als auch zu Gewinnen führen. (Kirchler, 2011)
Im Alltag des Privatanlegers nimmt die Aktie noch weitere Manifestationen inhärenter Charakteristiken an. So versinnbildlicht sich die Gestalt der Aktien häufig in symbolischen Formen von Kurscharts mit roten, schwarzen, grauen oder grünen Zahlen sowie markanten Entwicklungstendenzen durch Plus- oder Minuszeichen. Hinzukommend zeigt sich der konkrete Name des Finanzproduktes in Form eines Unternehmens- oder Fondsnamen – dies auch in Form von Abkürzungen. Die physische Aktie in Papierform ist besonders für jüngere Generation im Zuge der Digitalisierung kaum mehr prävalentes Erscheinungsbild. Der Zugang zur Aktie und dessen Qualitäten gelingt bei der Generation Y immer mehr durch Internet und Smartphone.
Im Alltag des Privatanlegers stellt die Aktie einen Parallel- und Gestaltungsprozess her, welcher kontinuierlich mitläuft. Dieser Prozess produziert sich u.a. durch erste Auseinandersetzungen, Beschenkungen, Käufe oder auch Verkäufe der Wertpapiere. Die Aktie rückt im Alltag an mancher Stelle in das Zentrum der Aufmerksamkeit und kann sich auch genauso schnell wieder in den Hintergrund drängen. Dennoch „verschwindet“ die Aktie und ihre Wirkung durch die Verdrängung nicht gänzlich, sondern sie wird lediglich verlagert und wirkt weiterhin im alltäglichen Erleben. Die psychologischen Bedingungen dieser Eigenart lassen sich im Kontext der Aktie auf eine spezifische Entwicklungsdynamik überführen.
Weiterführend weist das psychologische Konstrukt bzw. die Gestalt der Aktie gegenläufige und polarisierende Qualitäten auf, welche in ihrer Gesamtheit einen Wirkungsraum des seelischen Erlebens und Umgangs herstellen.
Der Aktienmarkt eröffnet unzählige Möglichkeiten an potenziellen Investments und Mitgestaltungsmöglichkeiten. Über den Aktienhandel erhalten Privatanleger den Eindruck an weltweiten Geschehnissen, Unternehmensaktivitäten und dessen Entwicklungen durch Durchführung der Investition direkt teilhaben zu können. Der Aktienmarkt wirkt in dieser Hinsicht wie ein „Meer an Potenzialen“ das faszinierende Chancen und Aussichten bietet. In diesem Potenzialraum finden fantastische Zukunftsvorstellungen ihren Platz. Man erhofft sich Rendite, Geldvermehrung und letztendlich eine Erfüllung von produzierten Zukunftsbildern durch Aktien.
Diese Entwürfe der Zukunft sind dabei genauso vielfältig wie die Potenziale des Aktienmarktes selbst. Sie reichen von alltäglicher Absicherung über hedonistische Wünsche bis hin zu idealistischen Zukunftsutopien hin zu einer besseren Welt. So erhofft sich so mancher Privatanleger durch eine „Unabhängigkeit in Münzen“ dem routinierten Alltagstrott etwas hinzuzugewinnen und ein anderer eine bessere Zukunft durch determiniertes Aneignen von „grünen Aktien“. Aktien bieten zusammenhängende Bilder über Unternehmen, über Kulturen und letztendlich über den Alltag. Durch Investition und Mitwirkung in diesen Bildern erhofft sich das Seelische an der Entwicklung dieser Bilder teilzuhaben.
Dabei richten sich die Bilder des Aktienhandels primär auf die Zukunft: Wie wird sich das Unternehmen X entwickeln? Können die Erwartungen erfüllt werden? Wann ist der ideale Ausstiegszeitpunkt gekommen? – „Die Börse handelt mit der Zukunft“. Aktien und der Aktienhandel sind als seelischer Prozess der Produktion von Zukunftsbildern zu verstehen. Die Produktion dieser Zukunftsbilder ermöglicht in unserer Kultur ein uneingeschränktes Fantasieren über Welt-, Unternehmens- und Alltagsbilder.
Die freie Gestaltung dieser Zukunftsbilder erzeugt ein euphorisches „Schöpfergefühl“, in dem die Limitationen des herkömmlichen Alltages ausgeweitet und gelockert werden können. Diese Bilder zeichnen eine schwebende Leichtigkeit der Zukunft ab, durch welche sich ungeahnte Potenziale – und auch gehobene bis hin zu euphorischen Verfassungen – entfalten können.
Die Börse und der Aktienmarkt weisen in Bezug auf ihre Ideen- und Bildspannbreite eine hohe Toleranz auf: Jedes gängige Zukunftsbild hat seine Vertreter. Unternehmen vertreten die aussichtreichen Bilder ihrer Zukunftsvision, Buy-and-Hold-Anleger vertreten ein nachhaltiges und langatmiges Bild der Finanz- und Wirtschaftsstrukturen und die berüchtigten C(r)ash-Propheten vertreten die explosiven Potentiale von Unternehmen, Finanzskonstrukten, bis hin zu ganzen Branchen und Volkswirtschaften. Die Zukunftsbilder des Aktienhandels befinden sich stets im Wandel und konkurrieren miteinander. Jede noch so ver-rückte Idee findet seinen Platz in der Welt der Aktien und dazu oft auch einen überzeugenden Visionär, der diese vertritt. Auf diese Weise gestaltet sich für das Seelische jede noch so euphorische, oder auch unbehagliche Fantasie als potenziell entscheidend.
Die Investition in Zukunftsbilder unterstützt das Seelische dabei, die eigene Begrenztheiten zu bearbeiten, da man z.B. nicht selbst genügend Zeit und Kapazitäten hat ein erfolgreicher Unternehmer zu werden. Doch wenn auch der Entwurf und das Fantasieren dieser Bilder mit meist uneingeschränkter Leichtigkeit gelingt, so stellt sich die Realisation der Bilder als ein komplexes und unsicheres Unterfangen heraus.
Denn das bloße Fantasieren über Zukunftsbilder hält Entwicklungen sowie Verfassungen und deren Konsequenzen lediglich in einer Schwebe. Der Preis der Aktie könnte jeder Zeit steigen, stagnieren oder fallen. Die Verfassung entwickelt sich mit dem schwankenden Aktienkurs. Fällt der Kurs entsteht Unbehagen, steigt er, bahnt sich euphorische Antizipation an. Die seelische Verfassung wird zum Spiegelbild der angeeigneten Aktien und ihrer Verläufe.
Erst die vollständige Durchführung des Einkaufs- oder des Verkaufsprozesses verändert den Zustand der Schwebe – in der Regel durch die Betätigung eines Buttons. Der Verkaufsbutton trennt schwebendes Fantasieren von der endgültigen Realisation. Mit der Betätigung realisieren sich parallel auch Verfassungen, so z.B. Freude bei Erfolg, Ernüchterung bei mäßigem Gelingen und Frustration bei Scheitern.
Die Realisation schwebender Zukunftsbilder lässt den Privatanleger die Grenzen der Wirklichkeit erfahren. Besonders das Erleben von gegenläufigen (Kurs-)Entwicklungen führt die schwebenden Zukunftsbilder zurück „auf den Boden der Tatsachen“. Können und Wissen in Bezug auf den Aktienmarkt und seine Akteure sind gefragt. Ohne diese liefert man sich der völligen Willkür der Marktgeschehnissen und deren Entwicklungsverläufe aus.
Limitationen im Realisieren zeigen sich ebenfalls in der zeitlichen Beschränkung im Alltag. Wohingegen „Warren Buffet“ genügend zeitliche Kapazitäten für nötigen Analysen und Rechercheressourcen aufbringen kann, mangelt es dem Privatanleger maßgeblich hieran. Andere Alltagszusammenhänge drängen auf ihre Verwirklichung. Der „langweilige 9-to-5 Job im Backoffice“ muss aufrechterhalten, die Familie versorgt und Hobbies oder soziale Verpflichtungen am Laufen gehalten werden. Der Rahmen des Aktienhandels im Alltag des Privatanlegers ist nicht ohne weiteres einfach herzustellen. Diese unbehaglichen Limitationen versucht das Seelische durch gezielte Planung, aber auch dem notgedrungenen Glauben an die Zukunftsbilder und deren Vertreter zu behandeln.
Die gezielte Planung setzt das Können und Wissen voraus. Hierfür Bedarf es an Bildung, „lesen, lesen, lesen“ sowie einem fortlaufenden Prozess „des Draufhinarbeitens“. Die intensive Auseinandersetzung mit den Zukunftsbildern und der Abgleich mit den gegenwärtigen Zuständen der Bilder entscheidet über die Realisierbarkeit. Im Prozess ersucht der Privatanleger das „Geschäftskonzept“ zu verstehen sowie die „gängigen Kennzahlen“ abzuarbeiten. Hierdurch sucht man sich auch gegen ein plötzliches Verrücken der Zukunftsbilder wie z.B. nach dem Wirecard-Skandal zu schützen. Kennzahlen wirken in dieser Gestalt wie ein Abbild der absoluten Wahrheit. Jedoch handelt es sich auch bei den Kennzahlen lediglich um Austauschmedien des menschlichen Erlebens, welche im Kontext des Aktienhandels zu entschlüsselnden, mehrdimensionalen Botschaften werden. Auch die Kennzahl kann sich durch „zahlreiche buchhalterische Tricks“ in ein ambivalentes Konstrukt verwandeln.
Weitere Entmutigung droht in der Volatilität und Unwillkürlichkeit der Entwicklungen. Was heute noch ein sicheres Investment ist, kann sich unter Umständen am nächsten Tag als katastrophales Vorhaben oder als Totalverlust entpuppen. Die gegenläufigen Bewegungen der Kurse lösen Unsicherheit aus und beginnen Zweifel zu sähen. Und auch die Vorbilder und mächtig wirkenden Vertreter der Zukunftsbilder können „falsch“ liegen. Wenn selbst sie fehlbar sind, we kann man dann noch vertrauen? Es drängt sich die unbehagliche Frage auf: „Macht überhaupt noch irgendjemand etwas richtig?“. Diese Realisation ührt zur Ent-Idealisierung der Vorbilder und Visionäre.
Das Aufeinandertreffen des Fantasierens und Realisierens führt zu etwaigen Konflikten. Im Zuge dieser Konflikte bedient sich der Privatanleger verschiedener Umgangsformen, um diese im Alltag bewältigen zu können. So werden den ausufernden Zukunftsbildern ein realistischer Rahmen gegeben, indem messbare und klar definierte Ziele gesetzt werden. Die drängende Limitation des Privatanlegers im Aktienhandel in Hinsicht auf Zeit, Wissen und Kompetenz werden mit einer erweiterten Definition des Wertes einer Aktie behandelt: Die Aktie wird ein „gefühlter Wert“. Die absolute Wahrheit und die besten Fakten sind nie vollständig greifbar, daher wappnet sich das Seelische mit Gefühl, Glück und Glaube.
Des Weiteren führt der Zinseszinseffekt zu einer eigenartigen Erlebensqualität. „Die Pizza von heute ist die Miete von morgen!“. Aus Perspektive des Privatanlegers kann aus einem kleinen Betrag durch Investition zu einem späteren Zeitpunkt ein größerer und signifikanter Betrag werden. Aus etwas Banalem kann etwas Großes entstehen. Dieser Hebel der Banalität schafft ein wichtiges Instrument für das Realisieren der Leichtigkeit von morgen. Sowohl der Hebel als auch die Leichtigkeit von morgen erfordern im Gegenzug auch ihren Preis. Wer morgen seinen Erfolg produzieren möchte, muss heute zurückstecken und einsparen. Es erfordert Verzicht in Bezug auf Zeit und Konsum im Hier und Jetzt. Dieser Verzicht kann im kleinen Maße mit der erwähnten Pizza beginnen oder kann sogar in einem frugalen Lebensstil münden. Die Leichtigkeit der Zukunft wird begleitet von der Gewichtung der Gegenwart. Geduld und das gelassene Abwarten werden zu einer vorausgesetzten Tugend, um mit den störenden Kehrseiten dieser Gewichtung in der Gegenwart umzugehen.
Die Gewichtung der Gegenwart zu Gunsten der Zukunftsbilder zu ertragen, schafft neue Entwicklungsnotwendigkeiten für das Seelische. Es kommt zu der Verhandlung zwischen Realisieren und Fantasieren. Im Zuge dessen transformieren sich eingänglich uneingeschränkte Zukunftsbilder in limitierte, aber auch realisierbare Konstrukte, wodurch große Träume wie z.B. eine Villa oder ein Traumauto zu „häufiger Essen gehen“ oder bloßem Spaß am Investieren abgemildert werden. Die erlebte Banalisierung der Zukunftsbilder verhilft der Aktie ihren Platz im Alltag des Privatanlegers zu erhalten.
Das Unterfangen des Aktienhandels wirkt eingänglich unüberschaubar und komplex. Unzählige Meinungen, Nachrichten und heiße Tipps stellen gegenläufige Positionen in den Raum. Aktien bewegen sich in einem verzweigten und vielschichtigen System, dessen Zahnräder sich im undurchsichtigen sowie fernen Hintergrund bewegen. Der Finanzapparat erscheint als unverständlich bis hin zu mystisch. Zuzüglich existieren eine Vielzahl an Theorien, Akteuren und Möglichkeiten, die Barrieren erschaffen und somit dem Aktienhandel für private Anlageamateure deutlich erschweren. Ein unendliches Maß an Entwicklungspotenzialen überdreht bis zum Stillstand. Welcher Weg ist der richtige, welcher führt zum Scheitern? Aktien entpuppen sich in dieser Hinsicht schnell als eine unmögliche Mammutaufgabe für den seelischen Drang nach Kontrolle und Einfluss.
Dennoch gibt es auch für diese Unmöglichkeiten adäquate Lösungen, welche allerdings mit spezifischen Konsequenzen verbunden sind. So versucht sich der mündige Privatanleger durch Zuhilfenahme von wissenschaftlichen Theorien und Modellen greifbare Strukturen im Chaos des Finanzmarktes zu schaffen. Die „Efficient Market Theory“, die „Fundamentalanalyse“ oder auch die „Chartanalyse“ als Beispiele können den Aktienhandel systematisieren, planbar werden lassen und zurück in den eigenen Möglichkeitsraum rücken. Die Modelle bieten feste Regeln, klare Annahmen und Struktur. Die dazugehörigen Theorien, Gesetze und Zahlen können schnell den Eindruck erwecken, unanfechtbar zu sein. Denn sie bieten dem Alltag Halt, geben Orientierung und erschaffen letztendlich ein regulierbares Bild der komplexen Aktienwirklichkeit. Ein striktes Handeln nach diesen regulierten Bildwelten wird als „rational“ und ein Abweichen als Irrationalität festgesetzt. Das konsequente Festhalten und Vollziehen nach einer orientierenden Bilderwelt erlaubt den systematisierenden Zugang zum Aktienhandel.
Jedoch beginnen diese Auffassungen der Wirklichkeit zu wanken, wenn sie durch die Wirklichkeit in Frage gestellt werden. Unter den Erwartungen bleibende Realisationen manifestieren, dass Theorien eben nicht unanfechtbar sind, Zahlen auch in die Irre führen und Gesetze durch (Un-)Willkür gebrochen werden können. Die wissenschaftlichen Theorien wie die Fundamentalanalyse und die Chartanalyse weisen ebenfalls unterschiedliche Annahmen auf und stehen gewisser Weise in Konflikt zueinander, wodurch sich die als faktenbezogene erlebte Realität allmählich als fragile Scheinwelt entpuppt.
Die Fragilität der Systematiken spitzt sich unter bestimmten Bedingungen besonders zu. So kommt es zu plötzlichen Anomalien wie z.B. Marktakteuren, welche die Theorie durch ihr Handeln außerkraftsetzen. Aber auch Manipulationen, Insider-Handel und unerwartete Betrügereien torpedieren die vermeintlich regulierten Systematiken. Die rationalisierten Bildwelten werden zu Scheinwelten und schließlich zu einem Konstrukt ohne erlebte Gesetze. Das (un-)willkürliche Beeinflussen des Aktienhandels kippt die mögliche Systematisierung zurück in das Unmögliche. Die seelische Wirklichkeit der Aktie beginnt ihre eigene Integrität in Frage zu stellen.
Die erlebte Gesetzlosigkeit führt zum Kontrollverlust und nun braucht es Strategien und kollektive Kontrolleinrichtungen, um ein faires Miteinander zu ermöglichen. Die Beeinflussung lässt allerdings nicht alle Regeln und Formen des Aktienmarktes völlig verpuffen. Der Aktienmarkt setzt Gewinner und Verlierer voraus. Der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen. Es etabliert sich nun eine hierarchische Struktur, welche dem Motto eines Fressen-oder-gefressen Werdens folgt. An der Spitze dieser Hierarchie stehen die Wohlhabenden und mächtige Unternehmen. Die Einflussnahme dieser Institutionen lässt den Privatanleger machtlos und aussichtlos wirken. Dennoch kapituliert das Seelische vor dieser Aufgabe nicht und versucht sich zu beweisen. Aktienhandel wird nun zu einem „unheimlichen[n] Macht- und Überlegenheitsding“. Man selbst ist überzeugt, dass man derjenige sein wird, welcher das Unmögliche vollbringt. Entweder will man nun die Mächtigen in einem David gegen Goliath-Kampf besiegen oder sich Ihnen imitierend anschließen.
Um diesen Weg zu bestreiten, bedient sich der Privatanleger dem Versuch selbst willkürliche Beeinflussungen vorzunehmen oder die Muster der Gewinner nachzuahmen, wodurch die Vorstellung aufrechterhalten wird, ebenso Chancen zu haben, ein Gewinner zu werden. Dabei drängt jedoch auch stetig die Angst sich in Machenschaften anderer zu verstricken und am Ende doch „ein Verlierer“ zu werden.
Die Investition in Aktien sind auch Investitionen in Weltbilder. Hierbei besteht die Gefahr zerstörerische Weltbilder still zu unterstützen, wie durch Investitionen in Rüstungskonzerne. Bestimmte Investitionen werden als sündhaft erlebt. Moral wird für Gier geopfert. Des Weiteren ermöglicht der Aktienmarkt auch aus Krisen und Short Selling zu profitieren und somit aus dem Verfall von anderen Zukunftsbildern in der Kultur. Diese Qualitäten verleihen der Aktie etwas Teuflisches und Bedrohliches, was die seelische Qualität der Aktie weiter in Richtung einer primitiven Machthierarchie drängt.
Die Kombination einer erlebten Machthierarchie und der gleichzeitigen intransparenten Systematiken erschaffen ein Wirkungsgefüge, welches zeitgleich bestreitbar und unbestreitbar – möglich und unmöglich – erlebt wird. Diese Ambivalenz schafft Raum für den Aberglauben an spezifische Muster, Glücksbringer und einen euphorischen Ausblick auf risikoreiche Zukunftsentwürfe. In dieser Hinsicht zeigen sich auch Assoziationen zu Glücksspiel und Umgangsformen, welche von Spontanität und impulsiver Natur gezeichnet sind.
Der Privatanleger beginnt spontane Experimente mit seinen Aktien zu vollführen. Durch das Experimentieren kann das Seelische komplexe und unüberschaubare Entwicklungen verproben – oder sich je nach Dosierung in ihnen verlieren. Das „Bauchgefühl“ wird trotz jeglicher Rationalität des Systematisierens zum finalen Entscheidungsratgeber bei dem Einkaufs- und Verkaufsprozess. Das Experimentieren und das Bauchgefühl können zwar eine Form der Validierung und Aktion bieten, gleichzeitig führen sie aber auch zu ungeahnten Konsequenzen in jeglicher Hinsicht. Diese Konsequenzen reichen von unerwarteten Renditen, „lächerlichen Fehlern“ über blinde Risiken bis hin zu der Entstehung von „Blasen“ am Finanzmarkt.
Das Konstrukt der Aktie erfüllt besonders zur aktuellen Zeit eine Funktion der Absicherung – die Altersvorsorge. Die „sterbende Rente“ im Zusammenhang mit dem durch die Inflation bedrängten Sparbuch drängen auf neue Lösungen. Eine dieser Lösungen ist die Altersvorsorge durch Aktien. Ein stabiles sowie nachhaltiges Zukunftsbild für den eigenen Lebensentwurf wird bedient. Die Absicherung stoppt jedoch nicht bei dem eigenen Lebensentwurf, sondern richtet sich auch auf andere Zusammenhänge. Die Nachhaltigkeit für die Gemeinschaft und den gemeinsamen Planeten rückt in das Zentrum des Konstruktes. Das Bild der Aktie kann dabei helfen die Weltgemeinschaft mitzuformen und zerstörerischen Geschäften das Engagement zu verweigern.
Der Erwerb einer Aktie offenbart Parallelen mit dem Eingehen einer partnerschaftlichen Beziehung oder Bindung. Eine Bindung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die einen Kultivierungs- und Veränderungsprozess in Gang setzt. Der Privatanleger beginnt sich mit dem Unternehmen zu identifizieren und es in gewisser Form auch zu repräsentieren. Dabei läuft er Gefahr sich „zu verlieben“ und von dem jeweiligen Bild assimiliert und einvernahmt zu werden. Das Seelische eignet sich die Qualitäten des Bindungspartners an, so bereitet es zukunftsfreudige Perspektiven in ein innovatives Tech-Unternehmen zu investieren oder allmächtige Fantasien einen mächtigen Weltkonzern im Portfolio zu haben. Die Qualitäten dieser Unternehmen wirken auf den Alltag des Aktionärs, wodurch der Aktienmarkt einen Zugang zu vielfältigen Verwandlungsbildern bietet.
Die Bindungen des Aktienmarktes erfordern aber auch Pflege. Regelmäßig wird der Status der Beziehung durch das Checken der Kurse auf dem Smartphone oder auf dem Computer überprüft. Diese Überprüfung findet im Dazwischen des Alltags statt z.B. in Pausen, auf dem Arbeitsweg oder bei der Arbeit. Das Checken der Kurse manifestiert verschiedene Wirkungen auf die Verfassung. Bei grünen Zahlen oder starken Steigungen kommt es zu einem euphorischen Suhlen in den Gewinnaussichten. Die unbehagliche Begegnung mit den roten Zahlen und Kursverlusten wird dagegen so kurz wie möglich gehalten. Die letzteren Zahlen zeichnen ein mögliches Scheitern der Bindungen und Zukunftsbilder ab. Das bloße Erleben der Kurse manifestiert Verfassungen, welche wiederum eigene Wirkungen auf den Alltag und seine Phänomene haben können.
Bindungen mit Aktien und Zukunftsbildern wirken sich auch auf andere Bindungstypen des Alltages aus. Es bereitet Freude und Erleichterung zu hören, dass Eltern oder der Lebenspartner mit Aktien für die finanzielle Zukunft sorgen. Unter befreundeten oder bekannten Privatanlegern tauscht man sich ergiebig über die gegenseitigen Investments und Vorstellungen aus. Auch wenn das Thema „Finanzen“ in manchen Kulturen eigentlich ein Tabu darstellt, kann man im Rahmen des Aktienaustausches auch mal „blankziehen“. Aus Perspektive des Seelischen zeigen sich hier Zukunftsbilder, welche sich auf Augenhöhen miteinander austauschen können. Aktien werden weiterführend auch gern mit elitären Kreisen verbunden, da es nicht überall üblich ist in Aktien zu investieren oder sich aktiv über das Thema austauschen. Durch diese Qualitäten produziert sich das Erleben eines kleinen, aber verbundenen Zirkels, welcher sich auf Augenhöhe über die persönlichsten Zukunftsvorstellungen und den Gang der Welt austauschen kann. Die Aktie wird ein Werk der Gemeinsamkeit, das Exklusivität und elitäre Züge mit sich bringt. Die Gemeinsamkeit birgt jedoch auch das Risiko der ansteckenden Begeisterung für die Zukunftsbilder. In zugespitzter Form lassen sich auch so Bewegungen von Onlineforen wie „WallStreetBets“ oder Bewegung des „Prophet[en] Papa Elon Musk [und] seine[r] Jünger“ verstehen
Aktien bieten eine große Bandbreite an Entwicklungsmöglichkeiten für das Seelische, welche sich sowohl über längere Zeitspannen als auch innerhalb weniger Sekunden in Gang setzen können. Absicherung, Herausforderung, Reichtum, aber auch Armut sind dabei nur einige Beispiele von Entwicklungspotenzialen. Der Privatanleger wird durch Aktienhandel kultiviert und seine alltägliche Perspektive verändert sich. Aktienhandel erfordert eine stete Meinungsbildung und die Fertigkeit sich ein Bild der Welt zu machen. In gewisser Weise handelt es sich hierbei um „intellektuelle und finanzielle Selbstoptimierung“. Darüber hinaus wandelt sich auch das Erleben von verschiedenen Alltagsbildern durch Aktienhandel. So versucht der Privatanleger zum Beispiel alltägliche Nachrichten als lukrative Informationsquellen für seine Zukunftsbilder zu nutzen. Der geübte und passionierte Privatanleger sucht in seinem Alltag stets nach Möglichkeiten seine Zukunftsbilder zu optimieren.
Alltagszusammenhänge werden umgedeutet und neuverstanden. Die bedrohliche Corona Krise wurde für viele Privatanleger eine lukrative Chance für Investments. Die Umdeutung hat auch ihre Kehrseiten. So erleben Mitmenschen dies häufig als unmoralisch und unfair. Ergänzend droht das Seelische seine Relation so stark umzudeuten, dass es zu risikoreichem Umgang mit Geld kommt: „Was sind 2.000€ Verlust bei 40.000€ Kapitaleinsatz?“ Die Verhältnisse beginnen zu verzerren. Zwischen Absichern und Entwickeln bewegen sich die altbekannte Angst vor Verlust und die Gier nach immer weiterer Gewinnmaximierung.
Die Entwicklungen des Aktienhandels kommen nicht ohne ihren Preis. Die Bindungen des Aktienhandels drohen das Eigene einzuverleiben und bestehende Bindungen im Alltag zu lösen. Es zeigt sich die Angst durch frugalen und sparsamen Umgang das Leben zu verschlafen. Was ist, wenn alle Unternehmungen und Zukunftsbilder scheitern? War es das Opfer und das Lösen von störenden Bindungen und alternativen Bildern wirklich wert? Privatanleger, welche besonders viele private Bindungen und Alltagsbilder zu Gunsten des Aktienhandels hinten anstellen, werden als „gierige Schnellspur-Kapitalisten“ oder „ekelhafte Versicherungsvertreter“ erlebt.
Die Assimilation durch Bindungen führt das Seelische in ein zehrendes Hin und Her. Man möchte sich immer wieder vergewissern, dass die Entwicklungen nach eigener Vorstellung verlaufen. Dabei wirken die erlebten Kursschwankungen direkt auf den Gemütszustand und die Verfassung ein. Ohne determiniertes Systematisieren und konkrete Ziele läuft das Seelische Gefahr, sich in suchtähnlichen Entwicklungen zu verstricken. Spontane Experimente nehmen allmählich Überhand und werden von „harmlos“ zu „intensiv“. Das Investment wird zur Spekulation und schließlich zur fatalistischen Zockerei. Das Checken der Kurscharts wird zum casinoartigen Kick im Alltag. Ohne konkrete Formgebung und Grenzsetzung kann die Gestalt des Aktienhandels zerstörerische Ausmaße annehmen, angetrieben von euphorischen Zukunftsbildern, ansteckender Begeisterung, gekränktem Stolz und blanker Panik.
Die Aktie kultiviert unser alltägliches Erleben und produziert Dynamiken und Verfassungen, welche sich in einer Bandbreite des euphorischen (Aus-)Brechens und des unbehaglichen (Ver-)Drängens bewegen. Diese Qualitäten können zwar schlagartig ineinander übergehen, doch sie sind besser als ein potenzielles Kontinuum und Rahmenkonstrukt zu verstehen, in welchen sich das seelische Erleben bewegen und verstehen lässt. Dabei existieren auch kaum verbindliche Start- oder Endpunkte noch statisch-definite Intensitäten des Erlebens. Vielmehr manifestieren sich kontextspezifische Phänomene, welche mit Konsequenzen für das Erleben und Verhalten daherkommen.
Im Wechselspiel dieser dynamischen Phänomene zeigt sich die Entwicklungsdynamik der Aktie als seelischer Prozess, der im folgenden Abschnitt nähererläutert wird. (Siehe Abb.1) Die dargestellte Reihenfolge ist hierbei lediglich zu Gunsten der Anschaulichkeit gewählt und nicht als vorgeschriebener Ablauf zu verstehen.
Euphorisches Ausbrechen
Im Zusammenhang mit Aktien zeigen sich dynamische Qualitäten, welche durch hektische, euphorische und überfordernde Verfassungen gekennzeichnet sind. Durch die Wiedergabe von Daten, Fakten und Börsenweisheiten stabilisiert das Seelische seine Zukunftsbilder und verstärkt den Eindruck der Handlungsmacht. Dieser Kontrollversuch spitzt sich im Ausbruch von hektischen und begeisterten Redeschwallen zu. Es zeigen sich optimistische, kindliche bis hin zu euphorischen Zukunftsbildern und Beschreibungen. Diese Dynamik begünstigt Spontanität im Umgang mit Aktien und anderen Alltagsgeschehnissen. Aus den negativen Kehrseiten wie z.B. Risiken, Fehlinvestitionen und Zockereskapaden wird sich hier noch konsequent und mit einer gewissen Distanz herausgenommen. Die überstrahlende Dynamik dieses Zuges begünstigt ein Erleben der Leichtigkeit der Zukunft und verdrängt die störenden Aspekte des Aktienhandels.
Im Umgang mit Aktien drängen sich, manchmal latenter und manchmal manifester, die ersten unbehaglichen Gedanken und Erkenntnisse auf. Der Privatanleger ertappt sich bei problematischen Umgangsformen. Auch wenn eingänglich die Rationalität und Strategie im Vordergrund stand, war man auch mal an „Zockeraktien“ oder hochriskanten Investments beteiligt. Den „offensichtlichen“ Wirecard Skandal hat man nun doch nicht gekonnt umschifft, sondern man hatte investiert und fuhr Verluste ein. Die euphorische Dynamik wird brüchig und beginnt im Zuge der Eingeständnisse zu weichen. Das aktive Hinterfragen der eigenen Entscheidungen, des Aktienmarktes und des Konstruktes der Aktie sähen verunsichernde Zweifel und lassen nachdenklich werden. Die stabilen Zukunftsbilder beginnen in ein anderes Licht zu rücken und schließlich zu ver-rücken.
Die negativen Kehrseiten des Aktienhandels emergieren und transformieren die Dynamik in ein überfordertes, skeptisches und ängstliches Verfassungsspektrum. Anstelle der experimentierfreudigen Spontanität tritt nun das nüchterne Geplant-Sein. Der Blick schweift von der angestrebten Leichtigkeit der Zukunft ab und richtet sich auf die Gewichtung der Gegenwart – die notwendigen Risiken und Opfer für die eigenen Zukunftsbilder im Hier und Jetzt. Das geduldige Aushalten der problematischen Phänomene und zeitintensiven Umgangsformen zeigt sich hier als Bewältigungsstrategie gegen die beschwerenden Kehrseiten. Das anfänglich noch faszinierende Unbekannte des Aktienmarktes ist nun bedrohlich und die Realisation drängt, dass ein Aktionär als Teilhaber auch immer in Marktgeschehen involviert ist. Die notwendige Distanz, um rationale Entscheidungen zu treffen, wird als nicht mehr gegeben erlebt. Auch wenn die Euphorie nun durch ein drängendes Unbehagen ersetzt wurde, stellt sich nach und nach ein Verdrängungsprozess ein.
Die Verfassung des Unbehagens hält sich jedoch nicht permanent. Durch das Umdeuten und Schönreden von unbehaglichen Erlebensprozessen und Umgangsformen rückt das Seelische die ver-rückten Zukunftsbilder zurück an einen fassbaren und behaglichen Platz.
Die reuevolle Zockereskapade wird nun als „Lehrgeld“ abgegolten und der tragische Wirecard-Skandal wird zu einem rebellischen Spannungsdrama – die Betrüger werden zu heroischen Widerständlern. Weiterführend beginnt ein Abschweifen von den unbehaglichen Facetten und positive Erinnerungen im Zusammenhang mit den Aktien. Die Betonung von Bindungen und Erfolgen im Alltag verhilft dabei ein Erleben von Gemeinsamkeit und Sicherheit zu stiften. Die unbehaglichen Eigenheiten werden randständig und verdrängt. Hierdurch kommt es zur Stabilisierung der eigenen Überzeugung und des Bildes über den Aktienhandel. Die gerade noch wankenden Lebens- und Zukunftsentwürfe festigen sich, wodurch der Boden für das Ausbrechen von schöpferischen und euphorischen Dynamiken bereitet wird.
Nimmt man die Entwicklungsdynamik (s. Abb. 1) des privaten Aktienkaufs als Konstruktion eines seelischen Verwandlungsmusters in den Blick, finden sich wesentliche Parallelen zur Märchenanalyse der Grimm’schen Geschichte von Frau Holle:
Erste Qualitäten des Märchens drängen Bilder von Siegen und Verlieren bei der Erkundung einer neuen Welt auf. Folgt man dieser Spur weiter, zeigt das Märchen wie sich das Treiben (in) der Welt durch diverse Fügungen und Taktiken zu Gewinnen oder Verlusten führen ließe. Doch jede vordergründige Moral von der Geschicht‘ verflüchtigt sich in der Traumlogik des Märchens und lässt darin beide Welten und Mädchen als invertierte Versionen eines seelischen Ganzen verstehen (vgl. Salber, Frau Holle, 1999).
Demnach beginnt schon am Ausgangspunkt das fatalistische Glückspiel des Lebens: Wer wird bevorzugt, wer vernachlässigt? Wer muss für kleine Erträge hart arbeiten, wer entstammt der richtigen Familie? Schnell zeigt sich aber auf, wie volatil die Welt (der Aktien) ist. Harte Arbeit, gutes Tun und widriger Ansporn können neue Welten (und Portfolios) eröffnen. Mit Ungewissheiten auszukommen, sie zu erkunden und ferne Herausforderungen zu meistern verspricht großen Gewinn. Doch mit der Vorhersage kommt auch schon die Ungewissheit der Abläufe auf den Plan. Was eben noch einen Goldregen versprach, versperrt sich plötzlich – aus Gewinn wird Pech. Das realisiert man buchstäblich erst zum Ende der Unternehmung. Gold verleitet gleich zu mehr, Pech wird man schlecht los, es hängt abstoßend an wie eine verlustreiche Aktie dem Depot. So kommt man immer zurück zum Anfang, die Rollen sind scheinbar neu verteilt und man versucht mit besserer Ausrüstung weiter auf das Schicksal zu wetten. Diverse Taktiken kommen zum Einsatz, es wird erprobt und befolgt, mal gewissenhaft, mal impulsiv auf eine goldene eigene Zukunft gesetzt und sei es zum Verlust der anderen.
Salber (ebd.) beschreibt eine Dynamik des Märchen voller „waghalsiger Sprünge“, die bis zu einem wilden Herumspringen verkehren können. Das beginnt mit jedem Kauf einer Aktie und kann bis zum zwanghaften Zocken aus dem Ruder geraten. Am Ende drohen die Welten immer wieder zu verschmelzen, wer heute noch idealistisch und konservativ anlegen wollte, findet sich vielleicht schon morgen in einem Strudel globaler Kakophonie wieder und sieht ganze Lebensentwürfe öffentlich besudelt. Immer neue Rufe von aussichtsreicheren Investments verheißen noch reichere Beute. Wer will da leer ausgehen? Wer nichts versucht, hat schon verloren. Der dunkle Ruf gierig-fauler Vorhersagungen kann in immer weitere Investments locken. So entfacht mitunter „der unendliche Tausch, der Wechsel als Zwang“ eine immer weiter antreibende Hoffnung nach ausgleichender Gerechtigkeit bis hin zur totalen Erniedrigung (ebd.).
Aber Salber verweist auch auf stabile Formenbildungen, in denen Seelischen durch Ausprobieren auf die Sprünge geholfen wird. In einem abtastenden Try-and-Error-Prinzip lässt sich so ein handhabbarer Umgang mit der Komplexität der Märkte erlangen. Bodenständige Tätigkeiten und banale Vorgänge (risikoarme, langfristige Investments, möglichst nachvollziehbare Datenlage) können Aktienkäufe für private Anlagen auch seelisch stabilisieren.
Doch wer sich in die Welt der global vernetzten Finanzmärkte begibt, nimmt immer in Kauf, dass Werte unberechenbar bleiben und invertieren können. Glück(-Haben) und Pech(-Haben) liegen eng verbunden ineinander und nicht zuletzt daraus speist sich unersättlich überhaupt der Antrieb die spannungsgeladene Dramatik aufzusuchen und in unzähligen Formen auszugestalten.
Die Erlebenswelt der Aktie ist sowohl in Hinsicht auf ihre Entwicklungsdynamik als auch ihren Wirkungsraum von Ambivalenzen durchzogen. Aus einer konsequent psychologischen Perspektive betrachtet, ist die Aktie gleichzusetzen mit einem Zukunftsbild, welches eigene Bedingungen, Gesetze und Wirklichkeiten in sich birgt, aber auch in eine andere, unerwartete Welt führt, wie der Fall in den Brunnen. Die Aktie als Zukunftsbild bewirkt somit eine Produktion unserer erlebten Wirklichkeit und damit verbundene Alltags- und Lebensentwürfe, die sich im Rahmen des begrenzten Alltages zu realisieren versuchen. Die Konstruktion der uneingeschränkten Zukunftsbilder zeigen Potenziale, die fantastische, märchenhafte Züge annehmen können. Dabei drängt sich jedoch die Frage des begrenzenden Realisierens auf. Gleichzeitig halten die Zukunftsbilder dem Seelischen einen Spiegel vor. Die Konstruktionen der Zukunft deuten nicht nur auf unsere seelischen Notwendigkeiten hin, sondern sie rücken auch Bedingungen unserer Kultur und unserer Wirklichkeit in den Vordergrund. Welche Zukunftsentwürfe ermöglichen Aktien und welche erscheinen in unsere Kultur als zulässig und zukunftsfähig? Was wird für realistisch gehalten und was für unmögliche Träumerei? Die Antworten auf diese Fragen entblößen die Strukturen der gemeinsamen Wirklichkeit. Die Aktie wird in diesem Kontext ein Medium des Seelischen und erzwingt die Auseinandersetzung mit fremden Kultivierungsformen und der eigenen Alltagswirklichkeit.
Die Systematiken des Aktienmarktes werden gleichermaßen willkürlich als auch unwillkürlich erlebt. Das eigene Systematisieren des Aktienhandels kippt durch diese (un-)willkürlichen Entwicklungen stetig zwischen möglich und unmöglich – beeinflussbar und willkürlich undurchsichtig. Das determinierte Festhalten an Systematiken wie wissenschaftlichen Theorien ermöglicht Standpunkte einzunehmen und Kontrolle zu erlangen. Dennoch fehlt die letzte Sicherheit. Und so wird durch unerwartete Einflüsse, Spontanität oder konsequentes Hinterfragen immer wieder torpediert, was doch den Schatz versprach. Das Experimentieren stellt den Versuch dar, die Systematiken herauszufordern und Entwicklungen zu erproben. Einerseits bieten sie so die Möglichkeit neue Potenziale auszuschöpfen. Andererseits bergen sie auch ausufernde Gefahren, welchen Grenzen gesetzt werden müssen und in den pechbedeckten Rückzug führen.
Mit Aktien handeln, bedeutet an Entwicklungen aus allen Welten teilhaben können. Einsteigen, treiben lassen (getrieben sein), aussteigen. Die Beziehung zu diesen Entwicklungen erfordert ein ähnliches Ausmaß an Pflege wie andere alltägliche Bindungen und genauso schwer fällt es diese immer aufrecht zu halten. Die Bilder, die im Zusammenhang mit diesen Bindungen stehen, transformieren die Wirklichkeit und nehmen Teile des Eigenen ein. Die Assimilation des Eigenen kann auf der einen Seite beflügeln und Halt geben, sie kann aber auch zu zerstörerischen und zwangartigen Entwicklungen führen. Im gleichen Zuge erhält das Seelische über die Aktien den Zugang zu vielseitigen Verstrickungen und neuartigen Optionen aus aller Welt. Der Aktienhandel stößt neue Kultivierungsperspektiven des Alltagserlebens an und erweitert den Raum auf die figuralen Bezugssysteme der Aktienbewegungen. Somit kultiviert der Aktienhandel die (un-)bewusste Bildung von Handlungs- und Erlebensräumen in den Weltbildern der Privatanleger.
Abschließend ermöglicht die Nachzeichnung der Entwicklungsdynamik ein tiefergehendes Verständnis darüber, welche Verfassungen und Umgangsformen sich im Zusammenhang mit dem Aktienhandel zeigen und in welcher Art und Weise diese aufeinander wirken. Das Bewusstsein über den Verlauf und die Positionierung in diesem Modell gibt Aufschluss über sich zeigenden Phänomene und resultierende Konsequenzen. Durch diese mögliche Bewusstwerdung kann das Erleben und Verhalten des Privatanlegers, aber auch der Kultur einen Einblick gewähren werden. Durch das Verstehen wird die psychologische Gestalt der Aktie schließlich behandlungs- und adaptionsfähig.
Der Aktienhandel ist schließlich eine dynamische Entwicklungsreise, welche sowohl Macht, Zukunftsschätze und Abenteuer versprechen kann, aber gleichzeitig Gefahren birgt, die Qualitäten wie die Sünde, den (finanziellen) Untergang und Kontrollverlust in Aussicht stellen kann. Damit der Privatanleger diese Reise aus einer ganzheitlichen psychologischen Perspektive sicher bewältigen kann, bedarf es verschiedenen seelischen Erfordernissen wie dem adäquaten notwendigen Können und Wissen, haltegebenden theoretischen Systematiken sowie ein bedachtes Pflegen von Alltagsbindungen. Nicht zuletzt braucht es aber eine seelische Haltung die fähig ist Ungewissheit in Kauf zu nehmen.
Die aufgeführten Erkenntnisse und Überlegungen resultieren aus einer qualitativen-psychologischen Untersuchung über das Erleben und den Umgang mit Aktien bei Privatanlegern (Pagels, 2021). Die in doppelte An- und Abführungen gesetzten Zitate stammen aus den der Studie zugrunde liegenden Morphologischen Tiefeninterviews. Wir bedanken uns für die freundliche Hilfe und Inspiration zur Märchenanalyse durch Dr. Wolfram DOMKE.
Kirchler, E. (2011). Wirtschaftspsychologie – Individuen, Gruppen, Märkte, Staat (4. Ausg.). Göttingen: Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG.
Pagels, E. (2021). Kultur- und tiefenpsychologische Untersuchung über das Erleben und den Umgang mit Aktien bei Privatanlegern [Bachelorarbeit, BSP Business & Law School]. Berlin.
Salber, W. (1985). Tageslauf-Psychologie. Zwischenschritte 4 (2), S. 45-55.
Salber, W. (1993). Seelenrevolution: komische Geschichte des Seelischen und der Psychologie. Bonn: Bouvier.
Schulte, A. (1997). Das Morphologische Tiefeninterview in der (Markt- und Medien-)Wirkungsforschung: Grundlagen, Gesprächsführung und Interviewtechniken. (Version 2.0) Berlin: HPB University Press.
Schulte, A. (2008-2019). Wirtschaftspsychologie als Kulturpsychologie A I. (Version 3-5) Berlin: HPB University Press.
Tversky, A., & Kahneman, D. (27. September 1974). Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases. Science, S. 1124-1131.
Eric Pagels, Jahrgang 1996, ist studierter Wirtschaftspsychologe (B.Sc.) und gelernter Industriekaufmann. Er begeistert sich für Themen rundum Finanzen, Psychologie und Unternehmensberatung. Als junger Privatanleger kennt er die Faszination des Aktienmarktes und bietet durch seine kultur- und tiefenpsychologische Forschung einen ganzheitlichen Verständnisansatz zu dem Phänomen der Aktie.
Jakob Mair hat Economics (B.Sc.), Kultur- und Wirtschaftspsychologie (B.A.) sowie Personal- und Organisationspsychologie (M.A.) studiert und die postgradualen Ausbildungen zum Analytischen Intensivberater und Balintgruppenleiter abgeschlossen. Berufliche Erfahrungen sammelte er zunächst in Marktforschung und User-Experience-Testing. Aktuell doziert er an der Business School Berlin sowie der Filmuniversität Konrad Wolf in Babelsberg im Bereich der psychologischen Wirkungsforschung. Darüber hinaus unterstützt er als psychologischer Berater Firmen und Privatleute bei Transformationsprozessen. Für seine Promotion versucht er die ‚Verarbeitung‘ der Digitalen Revolution in Organisationskulturen besser zu verstehen, um anwendungsbezogene Kulturformen für die Zukunft zu entwickeln.