Mit der Studie „Deutschland-Psychogramm“ hat der Gesellschaftsforscher Dirk Ziems vom „concept m Institut“ auf Basis von tiefenpsychologischen Interviews die Haltungen der Deutschen zum Ukraine-Krieg untersucht. In seiner aktuellen Analyse erklärt er, warum eine Mehrheit der Deutschen den Krieg in der Ukraine „eingefroren“ sehen will und die „besonnene“, abwägende Position des „Friedenskanzlers“ Olaf Scholz unterstützt.
Dirk Ziems ist tiefenpsychologischer Kultur-, Konsum- und Medienforscher und Gründer der global research agency concept m und der Beratungsagentur flying elephant. Seit 30 Jahren erforscht er in Deutschland, Europa und weltweit die Evolutionen und Revolutionen der kulturellen Werte, der Konsumformen und der Medientrends.
Kontakt: dirk.ziems@conceptm.eu
Die Debatte um den Ukraine-Krieg hat sich aktuell zugespitzt. Die Ampel-Koalition ist über die richtige Strategie bei der Unterstützung der Ukraine zerstritten. Während FDP und Grüne weiter die Lieferung der Taurus fordern, versucht der Kanzler die Debatte, die nach seinen Worten „an Lächerlichkeit nicht zu überbieten“ sei, für beendet zu erklären. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hat im Bundestag mit seiner Frage Aufsehen erregt:
„Sollte man nicht darüber reden, wie man den Ukraine Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“ – Rolf Mützenich
Die Taurus-Frage und das Diktum vom „Krieg einfrieren“ ordnen sich in den Kontext einer allgemeinen Kriegsmüdigkeit der Deutschen ein. Nach mehr als zwei Jahren Krieg macht sich eine Abstumpfung breit. Die Menschen lassen Nachrichten von tagtäglichen Angriffen auf die Zivilbevölkerung und fortlaufender Kriegsverbrechen nicht mehr an sich heran. Der Dokumentarfilm „20 Tage Mariupol“ gewinnt den Oscar, aber kaum jemand will sich solche Dokumentationen noch anschauen. In unseren Tiefeninterviews zeigt sich, dass die allermeisten Deutschen nicht daran glauben, dass die Ukraine den Krieg noch gewinnen kann. Stattdessen herrscht die Ansicht vor, dass die Ukrainer die Frontlinie höchstens noch halten können und weiterhin ein ähnlich zermürbender Stellungskrieg droht wie im ersten Weltkrieg, sozusagen ein „Verdun mit Drohnen“. Weitere Waffenlieferungen wie Taurus werden keine Wende zugunsten der Ukraine bringen können, so die pauschale Einschätzung der Mehrheit.
Damit setzt sich bei einem Großteil der Bevölkerung die Position durch, dass weiterer Widerstand der Ukraine letztlich zwecklos sei. In den Tiefeninterviews wird diese Haltung zwar oft nicht direkt ausgesprochen, aber bei genauerem Nachfragen immer wieder als Quintessenz eingestanden.
Wie konnte es zu dieser Meinungslage kommen?
Bei den Deutschen hat sich offenbar eine Sehnsucht nach der Rückabwicklung der Zeitenwende breit gemacht. Die Mehrheit der Deutschen sehnt sich in die Zeit vor dem Ukraine-Krieg zurück, in dem der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ‚eingefroren‘ war und Themen wie ‚Wiedererlangen von Kriegstüchtigkeit‘, ‚Verteidigung westlicher Werte‘ sowie ‚drohende weitere Angriffskriege wie beispielsweise gegen Taiwan‘ keine Rolle spielten.
Mit dieser Haltung geht einher, die Bedrohungslage durch Putins Angriffskrieg und seine weiteren Expansionsdrohungen herunterzuspielen. Die Mehrheit malt sich das beruhigende Szenario aus, dass nach einem Nachgeben der Ukrainer und einem Kompromiss-Frieden Putin auf Jahre hin erst einmal Ruhe geben wird. Als viel größere Bedrohung als mögliche weitere Angriffe auf Länder in Osteuropa wird gesehen, dass weitere
Waffenlieferungen Putin in die Enge treiben könnten, und dieser die Drohung mit Atomwaffen wahr macht. Insofern trifft die bedächtig abwägende Haltung von Kanzler Olaf Scholz die Stimmungslage der Mehrheit. Seine Politik wird von der Mehrheit als ein ausgewogenes, ‚dosiertes Gegenhalten‘ gesehen. Das Kalkül dahinter scheint zu sein, der Ukraine genug Unterstützung und Waffen zu liefern, damit sie den Krieg nicht verliert. Aber andererseits auch nicht so viel, dass Putin eine Niederlage erleidet und – entsprechend in die Enge getrieben – den Krieg gegen die NATO und gegen Deutschland eskaliert. Im Gegensatz zu dieser Mehrheitsposition sieht eine Minderheit unserer Gesprächspartner die Gefahr des Scheiterns der bisherigen Politik. Ihrer Meinung nach muss der Konflikt mit Putin „entschieden durchgekämpft“ werden und ist die Perspektive eines „eingefrorenen Konflikts“ eine illusorische und gefährliche Fehleinschätzung.
Der bisherige Kriegsverlauf wird so gedeutet, dass der Westen – befördert durch die zögerliche Haltung von Kanzler Scholz – die Ukraine zu spät mit zu wenig Waffen unterstützt hätte, um erfolgreiche Kriegsdurchbrüche zu erzielen. Deswegen sei es nicht gelungen, die Krim vom Nachschub abzuschneiden oder entscheidende Durchbrüche bei der Sommeroffensive zu erzielen. Das Vorenthalten der Taurus folge demselben Muster. Weil der Ukraine durchschlagende Kriegserfolge verwehrt wurden, wäre sie in einen Stellungskrieg verwickelt worden, den sie aufgrund der materiellen Übermacht Russlands auf Dauer nur verlieren könne. Weil Putin sich damit inzwischen die Perspektive des Zusammenbruchs der Ukraine eröffnet, habe er keinerlei Interesse an Friedensverhandlungen. Die aufbrechenden Konflikte in der ehemals geeinten westlichen Allianz bestätigen für Putin, wie schlecht es um den Rückhalt für die Ukraine bestellt ist. Die diametral unterschiedlichen Einschätzungen von Wunsch nach Kompromiss-Frieden einerseits und Forderung nach entschiedenem Durchkämpfen andererseits stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die verschiedenen Lager kritisieren, dass die Gegenseite in einer falschen Mentalität gefangen sei. Das ‚besonnen abwägende Lager‘ kritisiert die Mentalität der ‚Schlafwandler‘ oder gar ‚Kriegstreiber‘, die durch unvorsichtige Eskalation einen Weltkrieg, am Ende gar einen Atomkrieg riskieren. Das ‚entschieden durchkämpfende Lager‘ sieht eine Vogel-Strauß-Mentalität wirksam, die Putin noch immer falsch einschätze und zur Niederlage der Ukraine führen würde – mit bedrohlichen Folgen für den Weltfrieden.
Auch die Führungsqualität des Kanzlers wird komplett gegenteilig beurteilt. Das ‚abwägende Lager‘ sieht in Scholz den verantwortlich handelnden „Friedenskanzler“, der Deutschland vor einer Eskalation bewahre. Das ‚entschieden durchkämpfende Lager‘ sieht beim Kanzler Scholz ein Führungsversagen: Statt in der Folge der Ankündigung der Zeitenwende die Deutschen auf eine neue Wehrhaftigkeit einzuschwören, hätte Scholz dabei versagt, einen Mentalitätswandel einzuleiten. In historischer Stunde hätte Scholz der bequemen Tendenz der Bevölkerung nachgegeben, sich lieber in eine Zeit vor der Zeitenwende zurückzusehen.
Ein Interviewpartner hat diesen Eindruck folgendermaßen zusammengefasst:
„Die Deutschen haben eine pazifistische Grundeinstellung. Dass sie jemals gezwungen wären, ihr Land und ihre Werte im Krieg zu verteidigen, ist ihnen grundsätzlich fremd. Ein Volk im Home-Office, das nicht mitkriegt, dass da draußen ein Kriegt tobt, der auch sie betrifft.“
Dirk Ziems ist tiefenpsychologischer Kultur-, Konsum- und Medienforscher und Gründer der global research agency concept m und der Beratungsagentur flying elephant. Seit 30 Jahren erforscht er in Deutschland, Europa und weltweit die Evolutionen und Revolutionen der kulturellen Werte, der Konsumformen und der Medientrends.
Kontakt: dirk.ziems@conceptm.eu