Morphologie ist keine Kunst

Auftakt der Ringvorlesung „Was ist Morphologie?“ an der BSP im Sommersemester 2021 am 14. April 2021

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herbert fitzek

Autor:in

Prof. Dr. Herbert Fitzek Fitzek ist psychologischer Psychotherapeut und hat nach einer Therapieausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (Analytische Intensivberatung) einige Jahre lang freiberuflich als Psychotherapeut, Coach und Organisationsberater gearbeitet; 1999 Approbation als psychologischer Psychotherapeut. Seit 2006 als Gründungsdekan Aufbau des Bereiches Wirtschaftspsychologie im Fachhochschulbereich. Seit 2010 ist er als Prorektor Forschung in der Hochschulleitung der BSP Business & Law School Berlin tätig und engagiert sich in nationalen und internationalen Projekten und Kooperationen.

Kontakt: herbert.fitzek@businessschool-berlin.de

Morphologie ist keine Kunst

[Begrüßung durch Laura Levetzow]: Unsere erste heutige Veranstaltung trägt den Titel „Morphologie ist keine Kunst“, und in dem Zusammenhang begrüße ich Herrn Professor Dr. Herbert Fitzek.

Professor Fitzek begleitet die BSP seit der ersten Stunde, er ist als Prorektor für Forschung in der Hochschulleitung tätig und Professor für Wirtschafts- und Kulturpsychologie. Er selbst lernte die psychologische Morphologie an der Universität zu Köln kennen, wo er auch bei Wilhelm Salber promovierte und sich später habilitierte. Seither wendet er die Morphologie, neben der Lehre, auch in verschiedenen Coaching- und Supervisions-Formaten sowie in nationalen und internationalen Wissenschaftsprojekten an. Ich möchte Sie auch an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir nun die Aufzeichnung des folgenden Vortrages starten, und gebe gern das Wort an Herbert Fitzek ab.

Vielen Dank liebe Laura, ich hoffe Sie hören mich alle, ich bin sehr geehrt über ein Publikum von 150 Interessierten und freue mich, dass ich Sie alle begrüßen kann zum Beginn dieser Ringvorlesung. Es ist der erste Vortrag der Ringvorlesung, und ich bin mir der Bürde der Aufgabe bewusst. Es hat schon verschiedentlich morphologische Ringvorlesungen gegeben, die erste ist jetzt dreißig Jahre her und behandelte die verschiedenen Kapitel des Buches „Gestalt auf Reisen“, ein paar Jahre nach der Emeritierung Salbers folgten Vorträge von Dozierenden an der Universität Köln, die sich für die Fortsetzung der Morphologie engagiert haben. Doch keine hat sich einem so allgemeinen Thema gewidmet wie: „Was ist Morphologie?“ Das umfassende Thema verdanken wir ArminSchulte, und Andreas Marlovits verdanken wir, dass eine stattliche Reihe von Beiträgen zustande gekommen ist, die ich nun eröffnen darf. Und wem wir das alles verdanken, den zeige ich Ihnen eingangs meiner Präsentation und lade Sie ein, zunächst ein paar Vorbemerkungen zur Ringvorlesung im Ganzen mit mir zu teilen.

Was ist Morphologie? Drei Fragen

Bevor ich mein eigenes Thema in Angriff nehme, möchte ich als erster Referent der Ringvorlesung die Ausgangsfrage „Was ist Morphologie?“ mit einigen persönlichen Anmerkungen versehen. Es ist eine Frage, an der man sich leicht verheben kann, und um nicht schutzlos in die Auseinandersetzung mit ihr einzutreten, möchte ich diese Frage nochmal unterteilen in mehrere Fragen, die seit fünfzig Jahren in Köln und die letzten zwanzig Jahre auch in Potsdam, Berlin und Hamburg gestellt werden.

Ein erster Aspekt geht in die Richtung: Warum gibt es eigentlich keine klare Definition dafür, was Morphologie ist? Eine Frage, die man immer wieder gern hört – oder auch nicht so gern – aber sie wird gestellt. Zweitens: Warum gibt es eigentlich keine verständlichen Einführungstexte für an der Morphologie Interessierte? Auch diese Frage wird mit Recht gestellt und doch werde ich mich gleich um eine Antwort bemühen, die das Ganze etwas differenzierter darstellt. Dann ist eine wichtige Frage, die immer wieder gestellt wird, warum die Morphologen eigentlich nicht für eine verträglichere Positionierung innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie gesorgt haben? Auch diese Frage beschäftigt die an Hochschulen lehrenden Morphologinnen und Morphologen kontinuierlich, und wenn Sie für all diese Frage nochmals eine Zuspitzung wollen, kriegen Sie das in der Richtung: Warum bekommt man angesichts der ebenso berechtigten wie auch wohlmeinenden Nachfragen zu diesen Themen immer nur ausweichende Antworten?

Das sind Fragen, die wir alle mit uns seit Langem herumschleppen, und ich werde natürlich nicht behaupten, dass ich imstande bin, diese Fragen vom Tisch zu bekommen und in diesem Vortrag auch nur annähernd zu beantworten. Ich möchte aber auch nicht das tun, was einem ersten Referenten naheliegen könnte, die Fragen einfach zu vertagen und zu sagen: „Bleiben Sie dran, das wird sich im Verlauf der Vorlesung schon klären“, und die Be(und Ver-)antwortung an die mir nachfolgenden Referenten zu delegieren. Deshalb eröffne ich die Ringvorlesung, bevor ich zu meinem eigentlichen Thema Morphologie – Kunst oder Wissenschaft – komme, mit ein paar kurzen Bemerkungen dazu, was aus meiner Sicht zu diesen Fragen zu sagen ist, und überlasse es Ihnen, den Zuhörenden, diese Fragen mit später Referierenden weiter zu erörtern.

Warum gibt es keine klare Definition, was Morphologie ist? Die gibt es. Und sie hat kein Geringerer als Goethe formuliert und somit dafür gesorgt, dass Definitionen von Morphologie überhaupt nicht das Problem sind: Morphologie ist die Lehre von der Bildung und Umbildung organischer Wesen. So oder ähnlich lautet die Formulierung, und weil niemand abstreiten kann, dass Goethe der Begründer der Morphologie ist und für alle folgenden Morphologen richtungweisend blieb, kann seine Definition widerspruchslos als Kern einer Wissenschaft angesehen werden, die, wie Goethe betont hat, nicht von ihren Gegenständen neu ist, aber neu, was die Methode angeht. Das heißt also: Lebendige Wesen, natürliche Bildungen hat es immer schon gegeben, aber wie wurde mit ihnen umgegangen? Nach Goethe wurde mit ihnen so umgegangen, dass man versucht hat, die Teile auseinanderzunehmen, zu trennen, und als Gestalt ihren festen und unveräußerlichen Kern zu identifizieren. Das ist bei lebendigen Wesen, wie Goethe sie sah, zwar eine weit verbreitete, aber nicht die passende Methode, um das Leben selbst und die Organisation des Lebendigen zu bestimmen. Deshalb bezeichnete Goethe gerade nicht das Statische und Trennbare als Ausgangspunkt für morphologisches Denken, sondern die Mitbewegung mit den lebendigen Wesen.

Womit sich Goethe beschäftigte, wenn er Pflanzen beobachtete, das waren also nicht ihre unabänderlichen Bestandteile, etwa die Form der Blätter oder ihre Blüten und Früchte, sondern die Art, wie aus Wurzeln und Keimen allmählich Sprossen, Blätter, Blüten, Früchte, hervorgehen. Die Entwicklungsgeschichte pflanzlicher Vegetationen schien ihm die Grundlage einer allgemeinen Gestalten- oder Metamorphosen-Lehre zu sein, die jede einzelne Pflanze zum Inbegriff eines kontinuierlichen Bildungsgeschehens kennzeichnet. Goethe dachte sich, dass sich das allgemeine Entwicklungsgesetz von Gestalt und Verwandlung auf alles übrige Leben anwenden lässt, und das haben seine morphologischen Nachfolger auch getan: Nietzsche etwa auf die Metamorphosen des „Willens zur Macht“ oder Spengler auf den Formenwandel der Kulturen. Wie die Pflanzen geraten auch Kulturen in Drehungen und Wendungen hinein, und wie sie bilden sich aus Ursprüngen allmählich differenzierte Gestalten heraus, die sich ausbreiten, auf Widerstände treffen, miteinander wetteifern, sich dabei durchsetzen oder unterordnen und sich dabei in vielfachen Metamorphosen verwandeln.

In die Psychologie ist die Morphologie außer durch Nietzsches Kulturmorphologie durch ganz unterschiedliche Denker geraten, die von Goethes Entwicklungslehre fasziniert waren, z.B. von Dilthey, der auf dieser Grundlage eine beschreibende und zergliedernde Psychologie entwarf oder von den Gestaltpsychologen, die das psychische Geschehen als Transformationsprozess begriffen. Sigmund Freud kam über Goethe zur Medizin und folgte von dort aus den Metamorphosen der menschlichen Konstitution in eine psychologische Behandlungslehre hinein. Und in die Familie Freud trieb das Denken in Bildungen und Umbildungen selbst eine Metamorphose über drei Generationen hinein, die sich – via Übertragung – schließlich an die Spitze der psychologischen Morphologie setzte. Sie alle wurden Orientierungspunkte der psychologischen Morphologie, die Wilhelm Salber in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts konzipierte und die das Erleben und Verhalten nun ganz ‚entschieden psychologisch‘ als Bildungs- und Umbildungs-Geschehen entwickelte. Salber ging von der Unruhe einer nie (ganz) gelingenden Selbst-Behandlung des Seelischen im Alltag aus, die den Gegenlauf von Gestalt und Verwandlung in den vielgestaltigen Einheitsbildungen der Lebenswelt (Wirkungseinheiten) immer nur provisorisch verfasst. Kultur und Kulturen bleiben im psychologischen Sinne unvollkommen und (daher) konstitutionell unbehaglich. Dass der Alltag nicht grau ist, wie Salber es ausdrückte, ist insofern einerseits Trost, andererseits Resultat einer unerschöpflichen Dynamik aller seelischer Formenbildungen.

Die zweite Frage, auf die ich kommen möchte, richtet sich nach verständlichen Einführungstexten, die viele bei der morphologischen Entwicklungsreihe von Goethe über Nietzsche bis hin zu Salber vermissen. Sie ist schon etwas schwieriger zu beantworten und hängt mit dem Anspruch der Morphologie zusammen, Wirklichkeit neu und anders zu denken, und jedenfalls nicht mit der Ausdruckskunst derjenigen, die morphologisch gedacht und geschrieben haben – ganz im Gegenteil. Sowohl die Gestaltpsychologen wie auch Salber, erst recht Goethe, waren unglaubliche Sprachkenner und Sprachkönner. Und alle haben Einführungstexte geschrieben. Goethes Einführungstext ist kurz und knapp, wenige Seiten zur Einführung in ein monumentales Gesamtwerk, das Goethe – vielleicht wegen des Anspruchs – nie geschrieben hat. Aus seiner Einleitung in die Morphologie bringe ich hier nur die ersten Sätze, die zeigen, wie schön und verständlich Morphologie eingeführt werden kann, und zugleich, welches Denkuniversum sich gleich mit dem ersten Gedanken auftut:

„Wenn der zur lebhaften Beobachtung aufgeforderte Mensch mit der Natur einen Kampf zu bestehen anfängt, so fühlt er zuerst einen ungeheuern Trieb, die Gegenstände sich zu unterwerfen. Es dauert aber nicht lange, so dringen sie dergestalt gewaltig auf ihn ein, daß er wohl fühlt, wie sehr er Ursache hat, auch ihre Macht anzuerkennen und ihre Einwirkung zu verehren. Kaum überzeugt er sich von diesem wechselseitigen Einfluß, so wird er ein doppelt Unendliches gewahr, an den Gegenständen die Mannigfaltigkeit des Seins und Werdens und der sich lebendig durchkreuzenden Verhältnisse, an sich selbst aber die Möglichkeit einer unendlichen Ausbildung, indem er seine Empfänglichkeit sowohl als sein Urteil immer zu neuen Formen des Aufnehmens und Gegenwirkens geschickt macht.“

Zugegeben, diese Sprache ist keine Sprache von heute, aber sie kommt ohne Fremdwörter aus, und es steckt so viel Wahrheit in ihr, dass man dieses Zitat getrost als einen Gesamtrahmen der wissenschaftlichen Annäherung an Wirklichkeit im Allgemeinen und der morphologischen Sichtweise im Besonderen begreifen kann, in dem sich die Lesenden aber sogleich, im zweiten Satz schon, bei der doppelten Unendlichkeit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses wiederfinden. So schnell geht es in der Morphologie mit dem Über-Bord-Werfen von Selbstverständlichkeiten (als ob die Gegenstände tot und die Forschenden unschuldig wären), und es geht gar nicht anders, als schon bei den ersten Gedanken in grundsätzliche Paradoxien hineinzugeraten. Der Mensch, der sich in Wissenschaft einübt, ist nicht der zutrauliche, objektive Wissenschaftler, sondern einer, der der Natur (gewaltsam!) ihr Geheimnis entlocken will, und auf dem Weg dahin muss er in Kauf nehmen, dass dieselbe Natur auch ihm gegenüber nicht gleichgültig bleibt, sondern ihm seine wissenschaftliche Unschuld und seinen wissenschaftlichen Schneid abkauft. Morphologisch gesehen, sind die Gegenstände so komplex, dass sie sich dem wissenschaftlichen Zugriff beständig entziehen, und gleichzeitig so fordernd, dass sie ihn zugleich von Anfang an und dauerhaft bestimmen. Wir sagen dann in unseren Untersuchungen: Dass ich hier oder dort so beschwingt bin oder nicht weiterkomme, das liegt am Gegenstand.

Dieser Kampfplatz zwischen Forschungssubjekt und Forschungsgegenstand ist charakteristisch für morphologisches Arbeiten, und zwar nicht nur bei Goethe und bei Salber, sondern auch bei Ihnen und bei mir, würde ich jetzt mal mutig sagen. Wenn wir solche Kämpfe mit Gegenständen aufnehmen, dann ist das in der Tat von Anfang an weit entfernt von dem, was üblicherweise mit Wissenschaft gemeint ist. Goethe räumt quasi im ersten Satz seiner Einleitung in die Morphologie die ganze Wissenschaftstheorie ab mit der Objektivität des wissenschaftlichen Vorgehens und der Autarkie der wissenschaftlichen Gegenstände (vor ihrer Beforschung). Dieses Spannungsverhältnis – mit Heisenberg möchte man sagen: diese „Unschärferelation“ – versteckt sich hinter so einfachen Begriffen wie „naturgemäße Methode“ (bei Goethe) oder „Gegenstandsbildung“ (bei Salber). Deshalb sind die kleinen Einführungstexte alles andere als leicht zu lesen. Das Stolpern gehört in gewisser Weise zur Methode dazu, hinzu kommt vielleicht noch ein weiterer erschwerender Punkt: Die Texte erschließen sich nicht aus der Deckung heraus. Sie setzen über logischen Nachvollzug hinaus die Mitbewegung der Lesenden voraus, die Zuhörerschaft muss selbst in die Metamorphose der Gedankengänge einsteigen und über Doppelsinn und Nebenbedeutungen nachsinnen, die sich nicht unmittelbar erschließen, man muss sich einlesen, quasi selber ein bisschen zum Dichter werden. Und das ist natürlich ein Leseverhalten, dem sich nicht jeder unterwirft. Wer es gern schnell und knackig hat, der ist mit der Morphologie nicht gut bedient.

Jetzt komme ich zur dritten Frage, auf die ich gleichfalls eine erste Antwort versuchen werde, nach der nämlich, wie es mit der verträglichen Positionierung der Morphologie in der Wissenschaft steht. Dass der Kampf mit dem Gegenstand auch Konsequenzen für die Stellung der Morphologie in der Wissenschaftslandschaft hat, kann nach dem Gesagten nicht verwundern. Ohne Gefechtslärm ist die Argumentationsfigur der Morphologie nicht zu denken. Der Kampf mit dem Gegenstand ist ein Kampf gegen Beruhigendes, Beschwichtigendes, Begradigendes (Kant: „Der Mensch ist aus so krummem Holze, das nichts Gerades daraus gezimmert werden kann“), und die Abwehr ist nicht auf die Selbstbehauptung der Gegenstände beschränkt, sondern tritt morphologisch Forschenden auch in beruhigenden, beschwichtigenden, verkürzenden Positionen des psychologischen Mainstreams gegenüber. Wo die Komplexität und Widerständigkeit des psychischen Gegenstandes entschärft werden soll, wird zum notwendigen Kampf mit den Forschungsgegenständen auch der Kampf mit anderen psychologischen Konzepten nötig. Auf diese wirkt die Morphologie andererseits wie ein beim besten Willen undurchdringliches Gebilde, das sich in eine unverständliche Selbstisolation verabschiedet hat.

Es sind noch die Freundlichen, denen die psychologische Morphologie als gallisches Dorf mit lokalem Charme erscheint, der sich aus der Rheinprovinz in die Mark Brandenburg verlagert zu haben scheint. Weniger freundlich, dafür aber ganz daneben ist das verbreitete Vorurteil, die Morphologie vermische die ganze Philosophiegeschichte und erweise sich als ‚eierlegende Wollmilchsau‘. 

Vielleicht gab es zur Zeit der Durchsetzung einer Einheitsmethode in der akademischen Psychologie (um 1960 herum) tatsächlich keine Alternative zu gegenseitiger Wehrhaftigkeit. Bei aller Anerkennung für entschieden(-psychologisch)e Positionen wäre aus meiner Sicht inzwischen zu überdenken, ob die Gefechtsbereitschaft angesichts sich durchsetzender Vielschichtigkeit und Toleranz des Mainstreams für Nischenmodelle einerseits und der zunehmenden Etablierung von Qualitativer Psychologie, Kulturpsychologie, Tiefenpsychologie auf der anderen Seite noch zeitgemäß ist. Vielleicht wäre es an der Zeit, Kampfentschlossenheit und Gekränktheit der (scheinbar) Isolierten herunterzufahren und dem selbsternannten ‚Feind‘ weniger abwehrbereit und damit auch weniger verdrießlich zu begegnen. Denn die Überzeugung, im Besitz der wahren Lehre zu sein, ist bei allem (Selbst-)Respekt für die Tiefgründigkeit des morphologischen Denkens ebenso unzeitgemäß wie illusionistisch.

Und nun zum Thema: Morphologie ist keine Kunst

Und damit möchte ich nach dieser einführenden Viertelstunde ins Grundsätzliche jetzt gerne diesen Staffelstab an die anderen Referierenden weitergeben und würde mich freuen, der eine oder die andere käme vielleicht auf die Fragen zurück, warum es so schwer ist, Morphologie über Definitionen, Einführungstexte und Übereinstimmungen mit anderen Konzepten kennenzulernen. Ich möchte mich jetzt mit meinem eigenen Thema beschäftigen, und wieder begegnen Sie einfachen und schlichten Worten: Was ist Morphologie? Morphologie ist keine Kunst.

Ich habe natürlich schon viele Vorträge gehalten, aber es ist mir noch nie passiert, dass, bevor ich mir noch überlegen konnte, was ich zu sagen habe, schon der Titel feststand. Der Satz „Morphologie ist keine Kunst“ ist mir quasi zugeflogen, und ich hätte jetzt sagen können, ich warte auf bessere Einfälle, doch habe ich ihn versuchsweise einfach wie eine (Goethesche) „Ur-Pflanze“ behandelt, aus der, wenn sie regelmäßig gegossen wird, ein in verschiedenen Metamorphosen schlüssiges Gebilde werden kann. Ich weiß, dass dabei aus mir kein Goethe wird, der in zwei Sätzen eine doppelte Unendlichkeit eröffnet, aber für meine Einleitung in die Morphologie habe ich entschieden: ich bleib bei meinen vier Wörtern.

Und ein zweiter Punkt, weshalb der Einfall mir gar nicht so unsympathisch war: „Morphologie ist keine Kunst“ kann nicht in den Verdacht einer Definition geraten, denn zu sagen was Morphologie nicht ist, kann mir nicht als verkürzender Bestimmungsversuch angelastet werden. Ich nähere mich im Ausschlussverfahren an die Leistung an, die die Morphologie erbringt, aber ich bin nicht so verwegen zu behaupten, ich könnte mit einem Satz sagen, was sie ist – also jedenfalls keine künstlerische Leistung. Und dann fiel mir eine dritte Vorsichtsmaßnahme ein: Ich greife bei der Auslegung der Aussage nicht auf morphologische Autoren zurück, sondern schaue mir von der klassischen Sprachpsychologie ab, was ich mit diesem Satz behaupte und wie ich ihn selbst verstehen kann. Es muss da doch Modelle geben, die die Logik eines solchen eingefallenen Satz erschließen lassen und mir mitteilen, welche Aussage ich in diesen vier Wörtern riskiere. Mit dem Blick in die konventionelle Sprachpsychologie komme ich leider gleich wieder zum Punkt der Verträglichkeit. Denn das vielleicht geläufigste Modell der Implikationen von Sprache ist das Kommunikationsmodell nach Friedemann Schulz von Thun und das bereitet Probleme.

Ich kenne es seit einem Workshop, den ich vor Jahrzehnten bei den Schulz-von-Thun-Leuten besucht habe und entdecke Abbildungen der psychologischen Aspekte von Sprache regelmäßig wieder in der aktuellen Management-Literatur. Allerdings konnte ich mich beim besten Willen nicht dazu überwinden, meine vier Worte über Morphologie durch den Filter dieser klassischen Kommunikationstheorie zu jagen. Die Bilder von zwei Aliens in einem Kinderbuch, in deren Mitte sich ein schöner Rahmen mit nichts drin befindet, das macht es einem Morphologen wirklich schwer zu sagen: Hier handelt es sich um ein Modell, das mir den Zugang zur Bedeutung eines vielschichtigen Gedankengebildes erschließen und das ich mit 150 ernsthaft an der Morphologie Interessierten teilen möchte. Um nun aber den zaghaften Versuch des Anschlusses an konventionelle Modelle nicht gleich wieder zu begraben und die Morphologie morphologisch zu erklären, habe ich mich an ein anderes sprachpsychologisches Modell erinnert, das ich noch aus meiner Schulzeit kenne und aus dem noch nicht die Bemühtheit und Gutmenschlichkeit der Ratgeberliteratur, sondern der Ernst der Wissenschaft spricht.

Referenzmodell: Sprache als Organon

Es handelt sich um das Organon-Modell von Karl Bühler, der nun wirklich kein Morphologe war, sich aber die Sprache wie ein Orgelwerk vorstellt, in dem verschiedene Register zum Klingen kommen, die ihre Wirkung eben nicht getrennt voneinander, sondern im Zusammenklang entfalten. Der Satz „Morphologie ist keine Kunst“ kann demzufolge als Verständigungswerk charakterisiert werden, in dem mehrere verschiedene Register zusammenspielen, und ich möchte Ihnen im Folgenden anbieten, diesen Dimensionen zu folgen, aus deren gemeinschaftlicher Intonation sich die Bedeutung des Satzes zusammensetzt. Die Darstellungsfunktion der Sprache impliziert zunächst einmal den sachlichen Gehalt des Mitgeteilten, häufig rational erschließbar, aber nicht immer dem Sprechenden und Hörenden vollständig gegenwärtig. In der Ausdrucksfunktion bringt der Autor etwas zum Ausdruck, was ihm möglicherweise selbst verborgen ist. Und auch das, was den Hörenden in Aktion versetzt, die Appellfunktion der Sprache, muss weder diesem noch jenem klar vor Augen stehen.

Morphologie ist keine Kunst: ein Appell

Ich möchte mit der Appellfunktion von „Morphologie ist keine Kunst“ anfangen und frage daher als erstes danach, worauf der Satz hinauswill, woran er rüttelt und was er bewirken kann. Den Appellgehalt des Satzes kann man ganz einfach durch Vergleich mit ähnlichen Anrufen ermitteln wie etwa ‚Haare schneiden ist keine Kunst‘, ‚Tapezieren ist keine Kunst‘ oder ‚Rasenmähen ist keine Kunst‘. Gemeint ist eigentlich so etwas wie: „Frisch gewagt ist halb gewonnen“. Lass Dich auf die Sache ein, und du wirst sehen, nach einiger Zeit hast du den Bogen raus. Wenn Morphologie in diesem appellativen Sinn ‚keine Kunst‘ ist, dann besagt das also zunächst, man kann an jeder Stelle damit anfangen, sie ist nichts komplett Neues und Unergründliches, man muss sich nur darauf einlassen, sie ohne große Vorbehalte in die Tat umzusetzen. Zum morphologischen Arbeiten hat jeder Mensch tatsächlich eine sehr natürliche Befähigung, denn die Morphologie setzt zu ihrer Ausübung nicht viel voraus. Sie fängt bei dem an, was jeder Mensch fortwährend um sich herum hat. Morphologie beginnt sprichwörtlich da, wo wir gehen und stehen. Und sie braucht für ihre Ausübung auch keinerlei technische Apparaturen. Es reicht aus, wenn wir die Verhältnisse unseres Erlebens neugierig und aufgeschlossen beschreiben und reflektieren.

Wolf Vostell hat anlässlich eines Geburtstags von Wilhelm Salber eine schöne (Foto-)Assemblage zusammengestellt, der er den Titel gab: „Die Psychologie beginnt beim Frühstück“. Eigentlich beginnt sie schon früher, mit dem morgendlichen Erwachen und Aufstehen, den Ritualen des Sich-Aufrichtens und Aufputzens im Angesicht des neuen Tages, oder noch genauer ist die Psychologie ständig an unserer Seite, auch nachts, besonders nachts, in der rätselhaften Erlebenswelt der Träume. Aus der Traumverfassung bringen wir uns mühsam in die Vertikale und bereiten uns im Frühstücken auf die Herausforderungen des Tages vor, noch halb im süßen und pappigen Nacht- und Schlafmodus, der aber von dampfendem Kaffee aufgebrüht wird und in dem wir symbolisch schon einmal die Messer wetzen, um Brote zu zerteilen und Eier zu köpfen. Entsprechend schmecken die Gespräche am Küchentisch letzte Nachtgedanken nach und schneiden zugleich an, was der neue Tag bringen wird. Was die Morphologie hier zu tun hat, um Gestalten (Bildungen, Umbildungen, Fortsetzungen, Gegenläufe, Störungen, Vermittlungen und Modifikationen) in den Blick zu bringen, ist tatsächlich zunächst schnörkellos. Sie beginnt mitten im Alltag und braucht keine Extraleistungen aufzubringen, um ihren Gegenstand in den Blick zu bekommen, und das auch, wenn sie über die Geschehnisse im Tageslauf hinausgeht, etwa in der Kulturpsychologie (Tagesereignisse, Zeitgeschehen), in der Medienpsychologie (TV, Kino), in der Organisationspsychologie (Arbeitsabläufe, Unternehmenskultur).

Zum Thema der Psychologie wird der Alltag dadurch, dass das Geschehen sich selbst gegenüber nicht gleichgültig ist, sondern in jeder Minute von sich aus einen Sinn für das Voranschreiten oder Steckenbleiben, für gelingende Produktionen, eine schlüssige Organisation, zielführende oder abwegige Lösungsansätze entwickelt. Salber hat diese grundlegende Eigenschaft der Alltagsgestalten als Selbstbehandlungstendenz des Seelischen gekennzeichnet und darin die eigentliche Grundlage für die Entwicklung von Psychologie gesehen. Die Gestalten des Auf- und Abbaus von seelischen Zusammenhängen teilen sich, wie Dilthey es vor mehr als einem Jahrhundert gefunden hat, im Vollzug des Geschehens mit. Sinnbildung und Bearbeitungstendenz führen dazu, dass der Ablauf der Ereignisse ein Organ dafür ausbildet, was passt und was querliegt, was integriert werden kann und was draußen bleiben muss, und dieses Organ hat man in der klassischen Psychologie als „Erleben“ bezeichnet. Dieses Organ muss nicht erst kunstvoll angeeignet werden, sondern ist von Anfang an in der seelischen Konstitution inbegriffen. ‚Erleben‘ wird in der modernen Psychologie entschieden unterbewertet und ist doch der exklusive Zugang zur Organisation der seelischen Selbstbehandlung.

Den Alltag zu entdecken und darin Erlebnisse zu machen, ist tatsächlich keine Kunst. Es ist aber eine Wissenschaft (für sich), die Sinnbildungen des Alltags ihrem Entstehen, ihrem Wandel und ihren Übergängen in Neues und Anderes zu verfolgen und zu dokumentieren. Denn die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Erlebenszusammenhänge bringen es mit sich, dass die Sinnbildungen fortwährend und nachhaltig von Vereinfachungen, Beschwichtigungen und Beschönigungen überformt werden: in der Verständigung der Menschen untereinander und erst recht, wenn das Erlebte in wissenschaftliche Kategorien eingeordnet werden soll. Es ist nicht schön, die Unruhe und Unergründlichkeit der Selbstbehandlung des Seelischen zur Kenntnis zu nehmen, und deshalb ist das Erlebensorgan zur Privatsache, zur unwissenschaftlichen Vorstufe von Erfahrung erklärt und aus der akademischen Psychologie weitgehend entfernt worden. 

Die Sinnproduktion der Selbstbehandlung ohne Einmischung von Ängsten, Konventionen und moralischen Vorbehalten zur Kenntnis zu nehmen, ist insofern alles andere als selbstverständlich. Hier bedarf es einer gründlichen Einübung und Ausbildung, die in der morphologischen Psychologie hochgeschätzt wird und als morphologische Beschreibung schließlich eine gewisse Kunstfertigkeit voraussetzt. Dabei geht es auch hier zunächst nicht um kreative Ausdeutungen der alltäglichen Selbstverständigung, sondern um das aufmerksame und sensible Verfolgen der Sinnbildungen, die sich in Wirkungseinheiten personenübergreifend einstellen: Was hält das Erleben eines Fußballspiels zusammen? Was fesselt an guten Filmen? Deshalb sind die wichtigsten Instrumente der morphologischen Analyse der Erlebensgestalten das Tiefeninterview und eine auf Hintergründe und Nebentöne achtende sensible Beschreibung der geäußerten Selbstbeobachtungen von (Alltags-)Menschen.    

Die Komplexität und Hintergründigkeit aller sich ausbildender Gestaltzusammenhänge zeigt sich bei der Vielfalt der Themen von morphologischen Untersuchungen, unter denen ich ohne große Überlegung ein aktuelles Beispiel herausgreife, das mir in einer Bachelorarbeit begegnet ist, die ich in der letzten Woche zu begutachten hatte. Da ging es um das Erleben der Arbeit als Assistenz von Behinderten, der man zunächst einmal allergrößten Respekt zollen darf und der man nach wie vor größere gesellschaftliche Anerkennung wünschen muss. Tatsächlich führt die Assistenten oft der Wunsch zu ihrer Arbeit, für die Menschheit etwas Gutes zu tun und gehandikapten Personen etwas von dem Guten zurückzugeben, was man selbst als gesundes Mitglied der Gesellschaft geschenkt bekommen hat. Allerdings wird die Hilfsbereitschaft im Alltag von Betreuern sehr schnell auf die Probe gestellt von alltäglichen Zumutungen, die mit der Arbeit verbunden sind. Konkret konfrontiert die Arbeit mit Situationen am Bett, in der Dusche, auf der Toilette, beim Umkleiden, Hochwuchten oder der Körperpflege fremder Menschen, die Privatheit, Ekel, Überforderung mit sich bringen. Sie driften in gegenseitige Abhängigkeiten mit den Behinderten hinein, bei denen der eine eben grundsätzlich nie ohne den anderen vorankommt – ein beidseitig geteiltes Vergnügen. Unvermittelt erlebt man sich in Kämpfen und Machtdemonstrationen mit den Behinderten, die durchaus nicht zufällig lieber ‚Auftraggeber‘ genannt werden wollen, wie die Helfer mit dem zumindest zweideutigen Begriff des ‚Assistenten‘ versehen werden. Zudem geraten die Helfer in ihrem Engagement oft sehr schnell mit ihren Arbeitgebern, Vorgesetzten und auch im Umfeld gesellschaftlicher Einrichtungen an Grenzen und erleben sich im Dienst von Behinderten als Opfer oder Provokateure. Und schließlich gerät man auch mit sich selbst in Konflikt, wenn aus dem Motiv, Gutes zu schenken, ein Kleinkrieg gegen Vorurteile, Überforderung, Wehrlosigkeit und Fluchttendenzen wird.

Es war bei dieser Arbeit sehr deutlich zu spüren, dass die Studentin, die selbst als Assistentin gearbeitet hat, in die strapaziöse Metamorphose einer an hohen Idealen ausgerichteten Selbstbehinderung geraten ist, die sie selbst mit der (Grund-)Qualität der „Bereinigung“ zusammenbrachte. Ausgehend vom Motiv einer persönlichen und moralischen Reinwaschung versackt die mit besten Motiven Angetretenen allmählich in einen Sumpf von Abgründen, Qualen und einem immerwährenden Gemenge mit Hässlichem und Ekelhaftem. Man kennt es selbst aus alltäglichen Reinigungsaktionen, wie sehr der gute Dienst an der Sache mit dem Aufwühlen von Hässlichem verbunden ist. Und auch kulturell sind Säuberungs-Bewegungen immer mit dem Nach-oben-Kehren von Unangenehmem und Ungewünschtem verbunden – was sich in kulturgeschichtlichen Reinigungsszenarien unübersehbar versinnlicht. Nirgendwo hat sich der Heiland im wortwörtlichen Sinne so schmutzig gemacht wie in der Szene der Tempelsäuberung. 

Etwas Ähnliches konnten wir in einer Untersuchung zu Eltern-Kind-Gruppen in Familienbildungswerken feststellen, deren Befragung gleichfalls ursprünglich ungeteilt von der Freude über den Familienzuwachs und die Gemeinschaft mit jungen Familien geprägt war. In die Begeisterung mischten sich aber auch hier spürbar die Konfrontation mit fremden und eigenen Unzulänglichkeiten, die den Austausch der Eltern mehr an Selbsthilfegruppen erinnern ließ, bei der die eigene Notlage des aus den Fugen geratenen Alltags mit Kleinkindern im Vergleich mit dem vermeintlich noch schlimmeren Schicksal anderer Familien gelindert werden sollte. Die gesellschaftlich geforderte und privat geteilte Glückseligkeit über den Familienzuwachs lässt erlebte Kehrseiten des Familienidylls kaum zu und belegt schon das pure Erleben von Belastung und Chaos mit dem Bannfluch einer scheiternden Elternschaft.

Sie fand sich in den zu Hause geführten Interviews deshalb auch weniger im Wortsinn der Aussagen wieder als in der durch Zwischenfälle, Kindergeschrei und das beständige Bemühen um eine Wohlfühlatmosphäre geprägten Interviewverfassung. Morphologisch Beschreiben heißt hier wie in anderen Fällen eben nicht nur genaues Hinschauen und Registrieren, was sich im Erleben mitteilt, sondern auch offenes, mutiges Wahrnehmen der Kehrseiten der alltäglichen Kultivierung.

Alle drei genannten Punkte des Appells „Morphologie ist keine Kunst“ laden zum unbefangenen Einlassen auf die seelische Wirklichkeit von Alltag, Erleben und Beschreiben ein und rufen dazu auf, mit der Morphologie gerade dort anzufangen, wo man steht und geht. Dabei ist die psychologische Tätigkeit alles andere als ein kommentarloses Zur-Kenntnis-Nehmen dessen, was sich im Gang der Dinge auf den ersten Blick einstellt. Es ist vielmehr das geduldige Beobachten, Beschreiben und Reflektieren der sich alltäglich vollziehenden Formenbildungen der seelischen Selbstbehandlung. Das Seelische behandelt sich in Gestalten, die nie eindeutig sind, geliebte und ungeliebte Seiten mit sich bringen, Versprechungen, Durchbrüche, Unvereinbares und Abgründe offenbaren. Der Appell an (werdende) Morphologen muss daher ergänzt werden: ‚Lass Dich auf die Sache ein und halte aus, dass sich der Erfolg erst im Prozess der geduldigen Beschreibungsarbeit einstellt!‘

Morphologie ist keine Kunst: zur Sache

„Morphologie ist keine Kunst“ kann in einem zweiten Sinne darüber hinaus vonseiten der Darstellungsfunktion der Aussage angegangen werden. Und dazu muss ein Moment gefunden werden, dass die verneinende Aussage positiv ergänzt. Denn wenn Morphologie keine Kunst ist, dann stellt sich inhaltlich sogleich die Frage ein, was Morphologie denn sonst sein könnte als eine Kunst. Und hier, glaube ich, braucht man nicht wirklich weit zu denken, denn wenn nicht Kunst, dann muss Morphologie doch wohl eher Wissenschaft sein. In ihr hat sie schließlich ihren Ursprung, und schon Goethe hat die Morphologie ausdrücklich nicht als Künstler, sondern als Wissenschaftler gegründet (und immer darunter gelitten, dass man ihn als Schriftsteller verehrt und als Wissenschaftler vernachlässigt hat).

Dazu ist zunächst zu sagen, dass sich schon in der Ursprungskonzeption der Morphologie (eben bei Goethe) Kunst und Wissenschaft keineswegs vollständig voneinander trennen ließen: „Gestaltung / Umgestaltung / Des ew’gen Lebens ew’ge Unterhaltung“ gibt ein gutes Motto ab für Goethes Kunst („Faust“) wie auch für seine Wissenschaft („Morphologie“). Aber Goethe hielt auseinander, wann er sich als Dichter und wann als Wissenschaftler äußerte – wie übrigens auch Salber seine Aquarelle und Skizzen gern zur Bebilderung seiner wissenschaftlichen Aufsätze nutzte, aber nicht selbst als wissenschaftliche Produktionen verstand. Von Goethe bis Salber haben sich Morphologen immer wieder mit Kunst beschäftigt, und wie der Traum so wird in der psychologischen Morphologie auch die Kunst als Königsweg zur seelischen Wirklichkeit verstanden, als Weg, der die Komplexität der Erfahrung leichter und vollständiger zugänglich macht als Alltagsvorgänge oder gar professionelles und mediales Handeln. Salber ging so weit, die morphologische Methode „kunstanalog“ zu bezeichnen und die Recheneinheiten der psychologischen Morphologie als ästhetische Kategorien. Aber zur (freien) Kunst zählte sie Salber schon nicht wegen ihrer Formzwänge und ihrer unbedingten „Wut zur Synthese“ im Sinne einer sachgerechten und einheitlichen Beschreibung und Rekonstruktion von Wirklichkeit. Morphologie ist vielleicht eine freiere Art des wissenschaftlichen Denkens, als man es aus der Naturwissenschaft kennt, aber sie folgt den Beschränkungen einer selbst auferlegten Sachdienlichkeit und Nachvollziehbarkeit, über die sich Kunst ohne Qualitätseinbußen hinwegsetzen kann.

Die Sachdienlichkeit der Wissenschaft stellt sie vor die bewegenden Fragen der Kultur oder von Auftraggebern und erfordert jeweils spezifische Zuspitzungen von Wissenswertem auf begrenzte Forschungspläne. Diese müssen jeweils so zugeschnitten werden, dass empirische Untersuchung an konkrete Interviewaussagen zurückgebunden sind und das Ganze von Beschreibung und Rekonstruktion in allen Einzelaspekten gleichermaßen Bestand hat („Logifizierung“). Sachdienlich ist auch das Herunterbrechen der großen Fragen der Menschheit auf möglichst präzise formulierte Fragestellungen. „Was am Grund der Seele ruht“ (W. Stekel) ist in den Forschungswerken zu Alltagstätigkeiten, Medienereignissen, Unternehmenskulturen, Kunstwerken allenfalls am Ende der Beschreibungsarbeit zu erkennen. Als Wissenschaft konstituiert die Morphologie Forschungswerke von bescheidenem Radius mit lokaler Aussagekraft. Und dafür habe ich als Illustration dieses Häuschen mitgebracht, in dessen Bildlichkeit zunächst das Nüchterne der Wissenschaft versinnlicht ist, die sich ihre Gegenstände nicht aussuchen kann und deren (Re-)Konstruktionen in der Regel eher Hütten als Palästen gleichen. 

Dieses Häuschen können Sie kaufen und sich zum Home-Office ausgestalten. Und damit steht es beispielhaft für eine Fragerichtung, die in der aktuellen Wirtschaftspsychologie von großer Wichtigkeit ist. Wie steht es in der Arbeitswelt 4.0 mit dem Angebot des Home-Office? Als Morphologe fühlt man sich von der Frage besonders angesprochen, denn sie knüpft ja wieder an den Alltag der Menschen an, der für sie zentrale Bedeutung hat. Dementsprechend sind in der Corona-Zeit viele morphologische Studien zu den vielfältigen Teilaspekten des Home-Office durchgeführt worden – etwa zum Erleben eines freiwillig gewählten mobilen Arbeitens oder dem erzwungenen Rückzug in die eigenen vier Wände, zur Einrichtung häuslicher Arbeitsplätze bei langjährig Berufstätigen oder Berufseinsteigern, bei Alleinlebenden oder Berufstätigen mit Familienanschluss, zur Familiendynamik und Arbeitsleistung im Home-Office und dem Erleben des Büroarbeitsplatzes nach Rückkehr ins Unternehmen. All diese Untersuchungen bauen (kleine) Häuser für eine Verständigung über einen (Unter-)Aspekt der Arbeit 4.0.

Und sie tun das, und hier kommt eine zweite Beschränkung der Wissenschaft gegenüber der Kunst ins Spiel, jeweils mit einem ganz bestimmten methodischen Instrumentarium. Als Morphologe sind Sie festgelegt auf die vier Versionen der morphologischen Beschreibung. Ich kann es an dieser Stelle nur benennen, aber jede morphologische Untersuchung folgt, mit welchen Freiheitsgraden auch immer, vier Arbeitsschritten, die, aufeinander aufbauend, einen kompletten Untersuchungsgang ergeben, nicht drei und auch nicht fünf, immer in derselben Reihenfolge von einer grundlegenden Gestaltlogik ausgehend über einen Wirkungsraum mit verschiedenen Ecken und Kanten, zur Charakterisierung eines Grundverhältnisses der Selbstbehandlung des Seelischen, das schließlich in einem vierten Untersuchungsschritt im Hinblick auf konkrete Umgangsformen mit dem Verhältnis typisiert wird. 

Die Gestaltlogik des Home-Office (1. Version) erschließt sich schon sprachlich – Sie haben es gemerkt, die Sprache ist in meinem Vortrag ja eine Hidden Agenda – durch die sprachliche ‚Komposition‘ von Home und Office. Der Ort also, an dem ich mich im Kreis meiner Liebsten bette, wird aufgeschlossen für den größtmöglichem Kontrast des dem Wortsinne nach außen gewendete, der Öffentlichkeit zugekehrte ‚Officium‘. Dieses (un-)heimliche Gegensatzpaar kann weiter aufgeschlüsselt werden in einen Wirkungsraum von drei Polaritäten (2. Version): dem Leben im goldenen Käfig des Altvertrauten versus der Möglichkeit, sich und sein Leben noch einmal neu zu erfinden, der unbeschränkten Machbarkeit des Lebens an jeder Stelle versus einer berauschenden Vielfalt an Regulationsmöglichkeiten, der Überhöhung einer perfekten Häuslichkeit versus einem unaufhörlich herausfordernden Kampf mit den Widrigkeiten der Selbsteinsperrung. Das verzwickte Gegensatzpaar dieser inwändigen Äußerlichkeit ist in einer Vielzahl von morphologischen Untersuchungen thematisiert worden und konnte dabei mit einem (konstanten) Konstruktionsproblem zusammengebracht werden (3. Version), das die im Home-Office zu bewältigende Aufgabe dem Grundverhältnis von Ausfahrt und Heimkehr zuordnet. Das Home-Office bietet für den alltagsüblichen Wechsel von Häuslichkeit und Öffentlichkeit eine vielversprechende Lösung an: im Überblenden von häuslicher Geborgenheit und öffentlichem Treiben. Und wie nicht anders zu erwarten ist, verstrickt sich die Selbstbehandlung des Seelischen bei dieser Wunscherfüllung in schwerwiegende Probleme, für die mehr oder weniger gelingende Kompromissformen eingerichtet werden wie die Definition von Tabuzonen oder Revieraufteilungen (4. Version).

Als Kern der morphologischen Analyse verweisen die Grundverhältnisse – und hier kommt eine weitere methodische Forderung für morphologischen Analysen jeder Zielrichtung ins Spiel – auf ein (passendes) Märchen. Die Salbersche Märchenanalyse ist nicht eine zusätzliche (kunstvolle) Bebilderung von seelischen Grundkomplexen, sondern wiederum eine methodische Zwangsläufigkeit, die nicht in jeder Untersuchung notwendig umgesetzt werden muss, aber doch möglich wird, sobald ein bestimmendes Grundverhältnis (die 3. Version) gefunden ist und als Kontrolle dienen kann, ob das gefundene Verhältnis treffsicher identifiziert wurde. Wirkungseinheiten, die durch die Problematik von Ausfahrt und Heimkehr charakterisiert sind, verweisen generell auf das Märchen „Hänsel und Gretel“, insofern kann die Märchenhandlung und Salbers psychologische Analyse dazu beitragen, die Umgangsformen mit dem Verhältnis im Home-Office zu entziffern. Wir stehen im Zuge dessen ein weiteres Mal vor einem Häuschen, das Sie jetzt vielleicht an Ihre Kinderzeit erinnert, aber weit darüber hinaus auf den psychologischen Kern der Erzählung verweist, in dem sich zwei unfertige Gestalten auf die Reise in eine unbekannte Wirklichkeit begeben, die sie nicht wirklich vom häuslichen Notstand loskommen lässt und zugleich mit einer schaurig-schönen aushäusigen Wirklichkeit konfrontiert.

Es passt also, dass im Märchen ein weiteres Häuschen auftaucht, und ist zudem eine schöne Eselsbrücke, aber letztlich hilft das Märchen nicht durch witzige Analogien weiter, sondern durch die gegenseitige Explikation der untersuchten Wirkungseinheit und der Märchenhandlung. Wenn es bei ‚Hänsel und Gretel‘ darum geht, dass böse Eltern ihre Kinder von zu Hause fortschicken, die im Zuge der Ereignisse trotz vorsorglichen Verhaltens in zunehmende Gefahr geraten, einer verführerisch-grausamen Hexe begegnen, deren Verlockungen keinen anderen Sinn haben, als sie einzusperren, zu mästen und in den Ofen zu schieben, was wiederum durch eine List der Kinder schließlich abgewendet werden kann und der Hexe zum Verhängnis wird, dann muss das systematisch darauf ausgelegt werden, wie hier in Metamorphosen das Verhältnis von Ausfahrt und Heimkehr modelliert wird. Die Kinder bewegen sich aus Vertrautem in eine Welt hinein, die zugleich anzieht und erschreckt, in der gleichermaßen Verlockungen wie Abgründe lauern. Dieselbe Welt stellt Verheißungen in Aussicht und Fallen in den Weg. Zu retten sind die Kinder nur durch die Entwicklung eigener List und Tücke.

Während ihrer erzwungenen Ausfahrt geraten Hänsel und Gretel unbemerkt in eine Variation von Häusern hinein (Wald, Pfefferkuchenhaus, Ställchen, Ofen), die ihnen Wärme, Sicherheit, Versorgung, ein Dach über dem Kopf versprechen und zugleich fremdartige Lebensproben auferlegen (Abgründiges, Eingesperrt-, Verhext-, Verkocht-Werden). Das Ausgestoßen-Werden aus der ungebrochenen Versorgung führt über Umwege am Ende traumwandlerisch zur ersehnten (Wieder-)Aufnahme im Elternhaus zurück, in dem ein vom Glück überwältigtes Elternteil paradoxerweise nichts mehr von seinen anfänglichen Tötungsfantasien zu wissen scheint. In dieser Tradition von lockenden und schreckenden Häusern steht – dem Verhältnis von Ausfahrt und Wiederkehr zufolge – morphologisch gesehen das Home-Office, das die vertrauten Verhältnisse des sorgendem Zuhause mit dem All-Inclusive-Angebot des Pfefferkuchenhauses versüßt und das heimische Ambiente zum Umschlagplatz öffentlicher Angelegenheiten erklärt: Dabei richtet es unmerklich ein Gefängnis ein, das die lebenswichtigen Ausfahrten auf ein häusliches Maß reduziert und den Einzelnen oft genug vor die Frage stellen: Bin ich schon fett genug, um geschlachtet zu werden? (PS: Mit der Ausbreitung des Home-Office boomen die Fitnessprogramme!) 

Was Märchenanalysen für die Forschungsarbeit der Morphologie leisten, kann an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Mir geht es dabei um die Illustration des Sachverhaltes, dass Morphologie als Wissenschaft, nicht als Kunst, daran gebunden ist, überschaubare Forschungsfragen zu stellen und konstante Methoden einzusetzen. Das heißt für die Märchenanalyse, dass nicht etwa nach Gutdünken ein spannendes Märchen erhascht werden kann, sondern, dass die Bestimmung eines spezifischen Grundverhältnisses in der dritten Version mit Konsequenz zu einem bestimmten Märchen führt, das sich – bei Übereinstimmung – als wichtiges Analyseinstrument oder – bei Übersetzungsproblemen – als Korrektiv eignet: Schau nochmal in deine Beschreibung, offenbar stimmt etwas nicht!

Hier folgt nun noch ein letztes Argument dafür, dass Morphologie aus der Sachlogik heraus als Wissenschaft und nicht als Kunst zu charakterisieren ist. Die Wissenschaft muss sich nicht nur auf konkrete Fragestellungen beschränken und diese systematisch analysieren, sie muss ihre Erkenntnisse zudem transparent in die Öffentlichkeit oder an den Kunden bringen. Und das heißt für die Forschungen zum Home-Office leider auch, dass der Ausflug in die bunte Märchenwelt unbedingt genutzt werden muss, Forschung in erwartbare und verständliche Sprache zu übersetzen. Erkenntnisse müssen, um ein letztes Mal unser Bild zu strapazieren, nach Hause gebracht werden, indem die Ausgangsfragen der Kunden oder der Öffentlichkeit in einer verständlichen Sprache beantwortet werden. Das Haus der Wissenschaft steht nicht wie das der Kunst an ästhetisch exponierten Plätzen, sondern mitten im Alltag der Medien und der Geschäftswelt. Da müssen Sie schwarz auf weiß darstellen, welche Folgerungen Sie aus Ihrer Forschung ziehen, und wie sich die Menschen auf der Grundlage Ihrer Ermittlungen verhalten können.

Es reicht demnach nicht, kunstvolle Konstruktionen anzubieten und hintergründige Märchenverhältnisse aufzudecken, die Wissenschaft muss mit einfachen Worten vermitteln können. Das war im Fall unserer Geschichte von Ausfahrt und Heimkehr die schlichte Botschaft, dass der Wechsel von Home und Office nicht durch das verführerische Zugleich von Nestwärme und öffentlichem Wirken erzielt werden kann, sondern nur gelingt, wenn Haus und Heim selbst zum Gelände von Ausfahrt und Heimkehr umgebaut werden, ganz konkret: durch zeitweise lokale Auftrennung von Privatleben und Arbeit unter einem Dach. Sie kennen ja die Beispiele von Videokonferenzen, in denen man Leute mit Anzug und Krawatte im Bildausschnitt und Flip-Flops und kurzen Hosen unter dem Schreibtisch sieht. Das ist eine Versinnlichung von fließenden Übergängen, die möglich, aber nicht heilsam sind: die Wege, die Heim und Arbeit üblicherweise zeitlich und räumlich voneinander trennen (und über die wir uns gern als verlorene Zeit beklagen), sind psychologisch bedeutsame Kontaktsperren, die im gelingendem Home Office künstlich hergestellt werden müssen: als Wege etwa, die Sie im Haus zurücklegen müssen, um vom Privatbereich zur Arbeit zu gelangen oder als Zeiten, die für Familienangehörige einerseits oder Geschäftskontakte andererseits reserviert sind. Sie müssen – vom Märchen her gedacht – die Welt so nachbauen, dass Ausfahrt und Heimfahrt möglich sind, ohne sich der süßen und fetten Verführung des Pfefferkuchenhexenhauses auszuliefern. Und Sie müssen Ihr Modell dann auch gegen die Vernunft kurzer Wege und nachhaltigen Wirtschaftens verteidigen: also statt Vermischung von Privatem und Arbeit Differenzierung von Zeiten und Räumen, in denen Familienleben stattfindet und gearbeitet wird, und sei die Versuchung auch noch so groß, am Frühstückstisch seinen Computer hochzufahren und zwischen dem Schmieren der Pausenbrote für die Kinder schon einmal in die Emails des letzten Abends hineinzuschauen.

Morphologie ist keine Kunst: und was sich darin ausdrückt 

Jetzt komme ich zum dritten Punkt meiner sprachpsychologisch motivierten Analyse von „Morphologie ist keine Kunst“, der in der Wissenschaft oft unterschlagen wird. Jeder Satz hat über Appell- und Darstellungsfunktion zudem den Aspekt des Ausdrucks. Er offenbart etwas von den Meinungen und Stimmungen des Autors und lässt

unabhängig vom Effekt und Sachverhalt der Botschaft durchblicken, wo bei ihm sprichwörtlich der Schuh drückt. Hier wären zunächst also sehr persönliche Dinge zu benennen, weshalb der Satz mich im Rahmen der Themensuche geradezu angesprungen hat. Was dieses ganz Persönliche angeht, gehört es aber nicht in einen öffentlichen Vortrag hinein, weshalb ich mich in dieser Hinsicht auf die Worte meines Lateinlehrers zurückziehe: „Qui habet aures audiendi audiat“.

Gern gebe ich aber das etwas schale Gefühl preis, das mit dem Abrücken von der Kunst und dem Betonen des wissenschaftlichen Charakters der Morphologie verbunden ist. Wer würde sich nicht gern mit seiner Arbeit den höheren Weihen des Dienstes an der Muse zuordnen? Ein Leonardo da Vinci und auch ein Goethe haben als Wissenschaftler zweifellos revolutionäre Entdeckungen gemacht, ihren Weltruhm aber haben sie als Künstler erworben und unsterbliche Werke der Schriftstellerei und der bildlichen Darstellung erschaffen. Gegenüber der Wissenschaft zeigt sich die Kunst freier, sinnlicher, phantastischer, sie erschafft Wunderwerke, die in den Museen und auf den Bühnen der Welt immer wieder Menschen ins Staunen und ins Schwärmen versetzen. Meldet sich im Pochen auf die Wissenschaftlichkeit der Morphologie womöglich ein verzagter Geist? Und ist die Abgrenzung von der Kunst und die Zuordnung zur Wissenschaft vielleicht weniger klärend als einschränkend?  Die auf der Darstellungsebene diskutierten Kennzeichen wissenschaftlicher Arbeit wie Sachdienlichkeit, Systemzwang und Nachvollzug wirken jedenfalls nicht eben bühnentauglich, und entsprechend erscheinen die Produktionen der Wissenschaft viel weniger substanziell und attraktiv.

In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Morphologie vom psychologischen Mainstream gerade dadurch unterscheidet, dass sie sich von den Formzwängen der wissenschaftlichen Psychologie freispricht und ein ästhetisches Bild der psychischen Wirklichkeit entwirft, erscheint das Bekenntnis der Morphologie zur Wissenschaft zunächst wie ein unmotivierter Rückzug. Wie schön könnte es sein, wie frei könnten sich die Morphologen fühlen, wenn sie die Kunst nicht nur als Königsweg zum Seelischen nutzen würden, sondern ihr Vorgehen gleich selbst der Kunst zuschlagen würden? Nun muss man sich wie bei jeder Entscheidung zweifellos auch hier danach fragen, was mit neuen Möglichkeiten möglicherweise aufgegeben wird und mit welchem Preis der Zugewinn an Freiheit möglicherweise erkauft würde. Anders ausgedrückt muss es doch etwas geben, was derart kunstaffine Persönlichkeiten wie Goethe und Salber für den Aufwand entschädigt hat, Morphologie als kunstanaloge Wissenschaft, aber eben nicht als Kunst zu verstehen, und ich glaube, man kann hier durchaus Punkte finden, die es als persönlichen Gewinn erscheinen lassen, bei dieser Einordnung zu bleiben und Morphologie nach wie vor als Wissenschaft und eben nicht als Kunst zu betreiben.

In ihren Ansprüchen ist die Wissenschaft zwar nicht so glamourös wie die Kunst, aber durchaus nicht bescheiden. Anders als deren Bühnenproduktionen strebt sie nicht den Beifall des Publikums an, aber doch etwas wie beständige Wahrheit (oder wenigstens Bewährung). In ihren Entwürfen erschafft sie Entwürfe von und für Wirklichkeit, die sie an einem unumstößlichen Idealmaß ausrichtet. Die Welt, die die Wissenschaft zugrunde legt, erhebt sich über der Wirklichkeit der Erfahrung und beansprucht eine vom Grundsatz her universale Gültigkeit, über deren prinzipielle Erreichbarkeit bzw. jeweils erreichte Glaubwürdigkeit in der wissenschaftlichen Diskussion dann natürlich die heftigsten Debatten geführt werden. Anders als die Lebenswelt und auch die Welt der Kunst ist die Realität der Wissenschaft durch Erkenntnissicherung und Vervollkommnung gekennzeichnet. Selbst Poppers „Logik der Forschung“ kommt nicht ohne reale Fortschrittsutopie aus (Falsifikationsprinzip).

Dinge werden durch die Wissenschaft klarer, durchschaubarer, berechenbarer. Dass das Voranschreiten der Wissenschaft im Hinblick auf Erkenntnis, Transfer und Intervention eine gefestigte Herrschaft der Menschen über die Wirklichkeit generiert hat, ist ebenso unbestreitbar wie der mit dieser Herrschaft gezahlte Preis einer vollkommen aus der Balance geratenen Natur. Der Morphologie ist ein solcher Durchmarsch von der demütigen Zurückhaltung gegenüber (künstlerischen) Gestaltungsfreiheiten zur Absolutheit einer fehlerlos vermessenen Wirklichkeit (im doppelten Sinne) nie geheuer gewesen. Schon Goethe hatte die Morphologie nicht über die Welt der Gegenstände gestellt, sondern sie selbst als gegenständlich bezeichnet in dem Sinne, dass die Wissenschaft nicht eine bessere oder gar vollkommenen Realität schafft, sondern sich bescheidet, „der Natur ihr Verfahren abzulauschen“.

Nach Salber belässt es die morphologische Beschreibung und Rekonstruktion nicht einfach bei der Bestandsaufnahme der seelischen Wirklichkeit, aber sie entwirft auch nicht davon abgehobene idealtypische Konstrukte. In seinem „Psychischen Gegenstand“ ordnet er das wissenschaftliche Vorgehen in seinem Sinne vielmehr einer „Zwischenwelt“ zu  zwischen der krummen und schiefen Welt der Erfahrung und einer Welt, die wir vollständig in unserer Hand hätten und dem Ebenmaß wissenschaftlicher Konstruktionen entspricht. Dieses ‚Dazwischen‘ könnte der Anreiz dafür sein, Morphologie im Spannungsfeld von Erfahrung und Utopie zu konstituieren, bescheiden, weil sie immer wieder von Erfahrungen ausgeht (Primat der Beschreibung), und zugleich anspruchsvoll, weil jede Einzeluntersuchung einen spezifischen Beitrag zur Logik der Formenbildung im Ganzen verspricht (psychologisierende Fragestellung).

Den Ehrgeiz, die Leistung der Kunst mittels unumstößlicher Wahrheiten noch zu übertreffen, teilt die Morphologie nicht mit anderen Wissenschaften. Dafür stellt sie sich einem eigenen wissenschaftlichen Anspruch und verfolgt die fortwährende Übersetzung der Erlebnisrealität in die universale Sprache der Formenbildung. Mit dem Prinzip der Zwischenwelt grenzt sie sich von zeitgenössischen universalistischen Utopien (Objektivität, Messbarkeit) ab, bleibt aber im Kern dem Anspruch der Wissenschaft verbunden, psychische Wirklichkeit mit rationalen Mitteln verfügbar und auch vermittelbar zu machen.

Kunst wird Morphologie: ein Fazit

Auch, wenn das Leben in der Zwischenwelt nicht ähnlich attraktiv klingt wie ein Leben für die Kunst, so lässt sich ein Wissenschaftlerleben hier durchaus zufriedenstellend einrichten – zumal die Signale, die die Zwischenwelt in die Praxis hineinsendet, wenn auch nicht dieselbe Bewunderung auslösen, die Kunstwerken entgegengebracht wird, dafür aber mit konkretem Zugewinn an Verständnis und Handhabbarkeit hinsichtlich der vielfältigsten Fragestellungen in der Praxis verbunden sind. Mit diesem versöhnlichen Ende der Erörterungen über den Ausdrucksgehalt von „Morphologie ist keine Kunst“ komme ich allmählich zum Ende meiner Überlegungen, was der Grund dafür sein könnte, dass mich der Satz schon vor der Ausformulierung meiner Vorlesungsstunde derart unabweisbar angeflogen ist. Das war – vielleicht sogar zuerst – ein unbestimmtes Gefühl dafür, die Zwischenstellung der Morphologie zwischen (bloßer) Erfahrung und (kompletter) Wirklichkeitsschöpfung zu vergegenwärtigen (Ausdrucksfunktion), dann – und sicherlich zentral – die Charakterisierung der Morphologie als Wissenschaft (Darstellungsfunktion) und natürlich am Ende – und da soll es ja hin – die nachdrückliche Anregung, sich auf dieser Grundlage durchaus unbeschwert und immer wieder neu (und neugierig) mit der seelischen Wirklichkeit von Gestalt und Verwandlung auseinanderzusetzen (Appellfunktion).

Wenn man sich dazu entschließen kann, diesen (wissenschaftlichen) Gedankengang zu teilen, fällt es meines Erachtens auch nicht schwer, der Kunst ihren zentralen Rang als (bevorzugter) Gegenstand und (unstrittiger) Wegweiser für die Gegenständlichkeit und Methodik der psychologischen Morphologie einzuräumen. Unzweifelhaft hat die psychologische Morphologie eine größere Nähe zu Kunst als (alle?) anderen Auffassungen vom psychischen Gegenstand, von denen (ihr) viele vergleichsweise banal oder abgehoben erscheinen. Und darüber können sich die Morphologen ja freuen, dass sie es mit dem Fixieren und Quantifizieren nicht so genau nehmen müssen und statt unverrückbarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen paradoxe Sinnkonstruktionen hypostasieren. Da ist die Morphologie durchaus freier als die herkömmliche Psychologie. Nur wenn sie sich zur Kunst erklärt, dann bewegt sie sich aus dem Diskurs der Darstellung von erlebter Wirklichkeit mithilfe von mehr oder weniger hinlänglichen, aber formstrengen Modellen hinaus und entzieht sich dem Wettbewerb der Realitätsprüfung (Empirie).

Dann wird die ‚psychologische Morphologie‘ selbst zum Kunstgebilde, dessen Eindrücklichkeit den Formenspielen der bildenden Kunst vielleicht nicht nachsteht, aber für das Verständnis von Kunden und Öffentlichkeit ein Rätsel bleibt wie die gleichnamigen Bilder des chilenischen Künstlers Roberto Matta Echaurren, in denen die Kunst der Morphologie entgegenkommt.

Beitragsbild: Joseph Mallord William Turner (1843) Light and Colour (Goethe’s Theory) – the Morning after the Deluge – Moses Writing the Book of Genesis (Ausschnitt)

 

Artikel und Beiträge von Herbert Fitzek in Zwischenschritte:

  • Der gemachte Mann

Fallbei(l)spiel eines Psychologen beim Eintritt ins Berufsleben (2/85)

  • Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren…

Zum Gebrauch formaler Modelle in der Wissenschaft (2/88)

  • Notiz über den ‘Wunderblock‘

Wie eine Ausstellung versucht, die Seele in den Blick zu bringen (1/90)

  • Kuriert vom Dino-Fieber (2/94)
  • Geburtstag im Hause Freud (1/96)
  • Hinter den Kulissen des Seelenbetriebes (2/97)
  • Trends, Moden, Zeiterscheinungen

Kulturpsychologie als Psychologie der Gegenwartskultur (1/98)

  • Der Alltag als Gegenstand der Kulturpsychologie (2003)
  • Alltag im Wunschformat

Über Internatserziehung im Blick der Eltern (2003)

  • Kulturen im Dialog – Notizen über den Dialog der Kulturen in der Psychologie (2011)
herbert fitzek

Autor:in

Prof. Dr. Herbert Fitzek Fitzek ist psychologischer Psychotherapeut und hat nach einer Therapieausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (Analytische Intensivberatung) einige Jahre lang freiberuflich als Psychotherapeut, Coach und Organisationsberater gearbeitet; 1999 Approbation als psychologischer Psychotherapeut. Seit 2006 als Gründungsdekan Aufbau des Bereiches Wirtschaftspsychologie im Fachhochschulbereich. Seit 2010 ist er als Prorektor Forschung in der Hochschulleitung der BSP Business & Law School Berlin tätig und engagiert sich in nationalen und internationalen Projekten und Kooperationen.

Kontakt: herbert.fitzek@businessschool-berlin.de

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