Der folgende Beitrag will einen Einblick in die Praxis der morphologischen Wirkungsforschung liefern. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf konkreten Beispielen aus dem Forschungs-Alltag bei rheingold, einem morphologischen Institut für Markt- und Medienanalysen. Die Beispiele sollen helfen, ein anschauliches und praxisnahes Verständnis für die Beschreibung als Methode zu gewinnen. Dennoch ist es erforderlich, im einleitenden Kapitel zumindest in Umrissen auf den wissenschaftstheoretischen Hintergrund der morphologischen Beschreibung einzugehen (bzw. zu diesem Zweck auf weiterführende Literatur zu verweisen). Auch die Kapitel des Hauptteiles sind jeweils in theoretische Vorüberlegungen und praktische Beispiele gegliedert, so dass die hier entwickelten Strukturzüge des Beschreibens vor allem durch diese Veranschaulichungen ‚definiert‘ werden. Der Artikel hat somit nicht den Anspruch, ein ‚perfekt‘ abgeleitetes und umfassend dargestelltes theoretisch-methodisches Beschreibungskonzept zu liefern. Was dies angeht, bezieht der Beitrag sich in seinen Fundierungen insbesondere auf die Ausführungen von SALBER zu den Strukturen der Verhaltens- und Erlebensbeschreibung (SALBER 1969a). Vor diesem Hintergrund soll hier vor allem einmal aufgezeigt werden, wie das Beschreiben in der Praxis zu handhaben ist.
Beitragsbild: Jackson Pollock, Number 32. 1950 (Lackfarbe auf Leinwand), 1950; Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
Stephan Urlings absolvierte das Psychologie-Studium an der Universität zu Köln am Lehrstuhl von Prof. Wilhelm Salber, zudem hat er die Ausbildung zum analytischen Intensivberater durchlaufen.
Er ist bei rheingold Managing Partner sowie Head of International Research.
Er führte national und global zahlreiche tiefenpsychologische Marktforschungsstudien zu motivationalen Grundlagen und Verbrauchertrends, Kulturpsychologie, Produkt-Innovationen, Markenpositionierungen und werblicher Kommunikation durch. Außerdem untersucht er gesellschaftliche und politische Themen für NGOs, Verbände und Parteien. Intern ist er unter anderem für das Thema Weiterbildungen zuständig.
Für rheingold als Wirkungs- und Markforscher sind Beschreibungen das Kernstück des Analyseprozesses, das permanent optimiert und weiterentwickelt wird.
Stephan Urlings hat in diesem Bereich zahlreiche Weiterbildungen durchgeführt. Seine Expertise basiert nicht zuletzt auf Tausenden Interviews, die er selbst durchgeführt oder beobachtet hat.
rheingold zählt zu den renommiertesten Adressen der qualitativ-psychologischen Wirkungsforschung und ist eines der letzten unabhängigen Marktforschungsinstitute in Deutschland. Das Institut hat sich mit seinen rund 45 festen Mitarbeitern und 55 freien Auftragnehmern auf tiefenpsychologische Kultur-, Markt- und Medienforschung spezialisiert. Ihre Analysen erarbeiten die Kölner auf der Basis der morphologischen Markt- und Medienforschung, die an der Universität Köln entwickelt wurde. Jahr für Jahr liegen bei rheingold über 5.000 Frauen und Männer „auf der Couch“. Dabei analysieren die Wissenschaftler auch die unbewussten seelischen Einflussfaktoren und Sinnzusammenhänge, die das Handeln eines jeden Menschen mitbestimmen. Zu den Kunden des Instituts zählt neben öffentlichen Auftraggebern die Beletage der deutschen und europäischen Wirtschaft.
Unter den Methoden wissenschaftlichen Arbeitens fristet die Beschreibung ein eher stiefmütterliches Dasein. Hartnäckig halten sich in der wissenschaftlichen Gemeinde Vorurteile, die ihr die Eignung zur wissenschaftlichen Methode absprechen. Zum einen steht die Beschreibung immer im Verdacht, eine ganz alltägliche und damit laienhafte Angelegenheit zu sein – Beschreiben, das meint schließlich jeder zu können. Gleichzeitig verunsichert auch, dass keine Beschreibung der anderen gleicht. Jede Beschreibung ist geprägt durch die Person und die persönlichen Umstände des Beschreibenden. So wird die Beschreibung zwar als Mittel der literarischen Gestaltung geschätzt, grundsätzlich jedoch wird ihr wenig wissenschaftliche Beweiskraft und Erkenntnispotential zugemessen.
Nun ist die Beschreibung allerdings die zentrale Methode der psychologischen Morphologie. Mehr noch ist die Beschreibung die eigentliche Grundlage einer jeden qualitativen Psychologie. Denn die Kategorien des (wissenschaftlichen) Verstehens – und nichts anderes ist qualitative Psychologie – erschließen sich immer nur über eine möglichst systematische Beschreibung. Dies allerdings ist eine Methode, die nicht jedermann – gewissermaßen intuitiv – beherrscht. Die wissenschaftliche Beschreibung folgt wie jede wissenschaftliche Methode stets einer ausgewiesenen Systematik und hat ihre eigenen Prinzipien und Gesetze. Vergegenwärtigt man sich nun die verschiedenen Schritte einer qualitativen psychologischen Studie – gleichgültig, ob es sich dabei um eine Semesterarbeit, eine Habilitation oder um Marktforschung handelt -, wird man feststellen, dass die verschiedenen Verfahrensschritte, über die solche Studien entwickelt werden, ohne Ausnahme Beschreibungen sind – Beschreibungen allerdings, die in systematischer Folge aufeinander aufbauen und so Schritt für Schritt die Erkenntnis vertiefen:
Zunächst versucht man zu Beginn der Untersuchung das jeweilige Thema ausgehend von den eigenen Interessen und Erfahrungen im Zuge einer sogenannten ‚Erlebensbeschreibung‘ zu beleuchten. Aus der eigenen ‚Geschichte‘ mit dem Gegenstand heraus besteht so die Möglichkeit, sich u.a. auch seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen vor Augen zu führen. Dieser erste Schritt ist notwendig, weil kein Forscher sich selbst – d.h. das eigene Erleben und Verhalten im Umgang mit dem Gegenstand – sowie den eigenen Alltag aus der Untersuchung ausklammern und dadurch Objektivität erreichen könnte. Um also Scheinobjektivitäten zu vermeiden, muss die Ausgangslage der Untersuchung – auch die persönliche des Forschers – umfassend skizziert (beschrieben) werden (s. dazu SCHULTE 1997).
In der Befragungs- oder Feldarbeitsphase wird nun dieses eigene Erleben durch die Befragung anderer Menschen ‚ergänzt‘. Das Tiefeninterview – ebenfalls ein ausgedehnter und ‚gesteuerter‘ Beschreibungsprozess von ca. zwei Stunden – ist daraufhin ausgerichtet, die Probanden dazu zu bringen, die Sache einmal ‚genauer‘, ‚lückenloser‘, ’schonungsloser‘ und vor allem auch sinnlich konkreter zu beschreiben, als das sonst im Alltag der Fall ist. Im Interview versucht der Forscher Bedingungen zu schaffen, unter denen ein Mensch den Gegenstand der Untersuchung möglichst optimal beschreiben kann (GRÜNE/LÖNNEKER 1993; SCHULTE 1999).
Auf der Ergebnis- oder Gutachtenebene haben wir es wieder mit einer besonderen Form der Beschreibung zu tun. Ob in der wissenschaftlichen Arbeit oder in einer kommerziellen Präsentation: Die Ergebnisse der Untersuchung und ihre Grundlagen müssen so beschrieben werden, dass der Leser bzw. der Auftraggeber das Thema nachvollziehen und verstehen kann, ohne sich selber derart ausgiebig damit beschäftigt zu haben. – Grundsätzlich ist eine qualitative Untersuchung also ein Beschreibungsprozess, der vom ersten Augenblick bis hin zum ‚fertigen‘ Ergebnis Regeln und psychologischen Gesetzen folgt.
Doch was unterscheidet nun eine wissenschaftliche Beschreibung von der normalen ‚laienhaften‘ Alltagsbeschreibung (vgl. dazu auch SALBER 1969a, 33ff und SALBER 1985)?
Wenn man anderen Menschen ‚einfach nur so‘ etwas beschreibt, wird man in vielen Fällen durchaus versuchen, möglichst genau, anschaulich und einfühlsam zu beschreiben. Man tut dies jedoch so, wie einem ‚der Schnabel gewachsen ist‘ oder wie es der Kontext der Unterhaltung erfordert. Seinem Chef wird man z.B. die Vorzüge einer Kollegin anders beschreiben als einem ‚Kumpel‘. Die Wahl dieser Beschreibungshaltung folgt bestimmten Konventionen bzw. ist willkürlich dem Ermessen des Erzählenden überlassen und wird in der Regel nicht expliziert.
Wenn man auf wissenschaftlicher Ebene im Rahmen qualitativer Untersuchungen beschreibt, ist es dagegen notwendig, dies methodisch zu tun. Das heißt: Der Prozess des Beschreibens folgt einer ausgewiesenen sowie abgeleiteten Systematik und demgemäßen Prinzipien. Die wissenschaftliche psychologische Beschreibung durchläuft dabei bestimmbare Stufen oder Schritte, die im folgenden Kennzeichen genannt werden. Durch die Einhaltung dieser kategorialen Bedingungen des Beschreibens sind grundsätzlich zwei Dinge gewährleistet:
Die Systematik macht aus der Beschreibung eine Methode wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie stellt sicher, dass etwas herauskommt, was die alltägliche Sichtweise des Untersuchungsgegenstandes überschreitet. Aus dem laienhaften und im persönlichen Kontext ‚gefangenen‘ Alltagsblick wird ein wissenschaftlicher Blick. Die Systematik wird dabei zur Handlungsanweisung für den Forschenden. Zweitens gewährleistet das systematische Vorgehen nachvollziehbare, überprüfbare und ‚übersubjektive‘ Ergebnisse1.
Die Bedingungen der wissenschaftlichen Beschreibung sind damit kurz skizziert. Nun gilt es, die konkreten Kennzeichen zu formulieren und eine methodische Vorgehensweise zu entwerfen, die in ihren einzelnen Stufen nachvollziehbar und überprüfbar ist. Wenn das Beschreiben gemäß dieser Kennzeichen vorangetrieben wird, wird aus der ‚bloßen‘ Beschreibung eine wissenschaftliche Bearbeitung des Materials, gezielt entwickelbar in definierten qualitativen ‚Sprüngen‘.
In diesem Zusammenhang muss man sich vor Augen führen, dass es wie schon im Vor-Urteil der zwangsläufigen Subjektivität von Beschreibungen angesprochen – keine ‚reine‘ Beschreibung geben kann. Der Beschreibungsprozess spielt sich deshalb immer zwischen ‚Abbilden und Herausmodellieren‘ ab und gleicht in diesem Sinne dem künstlerischen Schaffen. Von MICHELANGELO wird überliefert, dass er auf die Frage, wie er denn zu seinen beeindruckend lebendigen Statuen gelange, antwortete, er würde aus dem rohen Block des Marmors ‚einfach‘ all das wegschlagen, was nicht menschlich sei.
Der ‚menschliche Faktor‘ im künstlerischen Schaffen wie in der psychologischen Beschreibung kann dabei nicht als Störfaktor aufgefasst werden – Verstehen ohne den ‚Faktor Mensch‘ ist unmöglich. So wie erst der Einfluss des Künstlers das Werk zur Kunst macht, muss auch das psychologische Material, das im Rahmen einer Untersuchung erhoben wird, durch den Forscher bearbeitet werden, um den Erkenntniswert herauszubilden2. Die Phänomene alleine erklären sich nicht. Der Psychologe muss aktiv ein Verstehens-Modell entwickeln. Empirischer Prüfstein ist dabei, inwieweit es gelingt, alle beobachteten Phänomene aufzuschließen, und ob andere Leute tatsächlich verstehen können, wie diese ‚psychischen Gegenstände‘ funktionieren.
Die Beschreibung ist also nichts Abstraktes, sondern eine sinnlich-gestaltende Tätigkeit, und stellt eine psychologische Wirkungseinheit dar, die ihre eigenen Strukturzüge und Gesetze hat. Für die Morphologische Psychologie bedeutet dies, dass die Beschreibung als Entwicklungsgestalt durch ein komplexes Gefüge mit sechs Kennzeichen bestimmbar ist, die sich in spannungsvollen Verhältnissen organisieren. Die hier skizzierte Systematik folgt damit der Gegenstandsbildung ‚Wirkungseinheit‘, wie sie von SALBER (1969b) entwickelt wurde. Die folgenden Kennzeichen sind in diesem Sinne Konkretisierungen der Grundbedingungen von Wirkungseinheiten im Hinblick auf den Beschreibensprozess. Auch wenn alle Kennzeichen immer gleichzeitig wirksam sind, ist es notwendig, eine bestimmte Reihenfolge einzuhalten. D.h. im Verlauf des gesamtem Beschreibungsprozesses sind jeweils andere ‚Eingriffe‘ erforderlich. Die chronologische Abfolge einer Untersuchung von der Erlebensbeschreibung über die Einzelbeschreibung eines Interviews sowie die vereinheitlichende Beschreibung bis hin zum Gutachten ist dabei nur der ‚äußere Rahmen‘. Die innere Logik des Prozesses ergibt sich aus der strukturellen Reihenfolge der Kennzeichen. Von daher wird jedem Kennzeichen der Beschreibung im Weiteren ein methodischer Zug zugeordnet, der zu fassen sucht, was an der entsprechenden Stelle im Beschreibungsprozess jeweils zu tun ist (Methode als Theorie in Tätigkeit, vgl. SALBER 1959).
In der Weiterentwicklung des Wirkungseinheiten-Gedankens hat sich gezeigt, dass die sechs Bedingungen als Prototyp alle Grundzüge des Seelenlebens abdecken. Sie stellen nach wie vor die unerlässlichen Grundkategorien der psychologischen Morphologie dar. Es zeigt sich aber, dass die konkret zu beobachtenden Wirkungseinheiten besser zu fassen sind, wenn man von jeweils zwei sich ergänzenden Figurationen ausgeht. Das gilt auch für die hier entwickelte Struktur des Beschreibungsprozesses. Die Hauptfiguration des Beschreibungsprozesses mit ihren drei Kennzeichen ist insbesondere für den Werkcharakter der Beschreibung verantwortlich. Sie prägt unsere tägliche Arbeit und stellt gewissermaßen unser fundamentales Handwerkszeug dar. Die Nebenfiguration ist dem- gegenüber eine Art Metaebene, die aber für die wissenschaftliche Beschreibung unerlässlich ist.
Demzufolge werden zunächst drei Kennzeichen vorgestellt werden, die als Hauptfiguration zusammenwirken. Sie haben etwas sehr Praktisches. Sie sind nachvollziehbar und evident wohl auch für den ‚Nicht-Morphologen‘. Wenn eine Beschreibung aber tatsächlich wissenschaftlichen Kriterien genügen soll, muss sie auch der im Anschluss skizzierten Nebenfiguration gerecht werden. Diese hat einen eher ‚vageren‘ Charakter. Hier geht es verstärkt um ein Herausmodellieren, welches dem Forschungsprozess viel höhere ‚Freiheitsgrade‘ eröffnet. Aber gerade deshalb muss explizit gemacht werden, welche Prinzipien das Beschreiben hier organisieren.
Wie bereits einleitend erwähnt, sollen die im Folgenden dargestellten sechs Kennzeichen vor allem in der Praxis helfen, den Beschreibungsprozess sinnvoll voranzutreiben: von der ‚Phänomen-Nähe‘ über die ‚Qualifizierung‘ und ‚Strukturierung‘, über ‚Zentrierung‘ und ‚Psychologischer Kontext‘ bis hin zum ‚Übersetzungsprozess‘. Dabei gilt jedoch, dass sich der Beschreibungsprozess nicht scharf in unabhängige Bereiche oder Schritte unterteilen lässt. Tiefeninterview, Einzelbeschreibung, vereinheitlichende Beschreibung und Berichtsband sind aufeinander bezogene Analyseschritte. Das erste Kennzeichen der Beschreibung (‚Phänomen-Nähe‘) wird deshalb bis zum letzten Satz des Gutachtens wirksam bleiben.
Dennoch lässt sich bei jedem Kennzeichen angeben, für welchen Verfahrensschritt es besonders prägend ist. In jedem Kapitel wird erläutert werden, an welcher Stelle des Forschungsprozesses wir uns jeweils befinden bzw. für welchen Verfahrensschritt (Interview, Einzelbeschreibung, Vereinheitlichung) das entsprechende Kennzeichen und der methodische Zug besonders wichtig sind.
Methodischer Zug | |
1. Phänomennähe: Erhalten der anschaulichen Fülle | Zerdehnung |
2. Qualifizierung: Gestalten herausheben & ‚Worden‘ | Zuspitzung |
3. Strukturierung: Herausarbeiten von Funktionsprinzipien | Dramatisierung |
4. Zentrierung: Erarbeiten einer Fragestellung | Setzung |
5. Psychologischer Kontext: Über den Einzelfall hinaus | Analogie-Bildung |
6. Übersetzung: Bewerkstelligung einer neuen Sichtweise | Drehung |
Morphologische Arbeiten überzeugen den Leser zunächst durch ihre Phänomen-Nähe. Dabei legen wir besonderen Wert auf konkrete und sinnliche Beschreibungen. Bei einer guten Arbeit hat man den Eindruck, direkt etwas von dem Geschehen mitzubekommen – fast so, als ob man dabei gewesen wäre. Man liest Zitate, die bereits ein tieferes Verständnis für die Sache erschließen. Dabei ist es wichtig, nicht nur die Meinung oder Haltung des Probanden in den Blick zu nehmen. Vielmehr ist es erforderlich, sich den Umgang mit dem Gegenstand der Untersuchung konkret, anschaulich und ausführlich beschreiben zu lassen. Phänomen-Nähe heißt für die Morphologie, sich vor allem vom Handeln des Probanden aus dem Gegenstand zu nähern. Seine Alltagserfahrungen und konkreten Umgangsformen sind der Ausgangspunkt oder die Rohdaten für eine Untersuchung.
Dabei muss man sich von der Vorstellung lösen, das Seelenleben wäre etwas Inneres. Für die psychologische Morphologie ist der konkrete sinnlich erfahrbare und gelebte Alltag von zentraler Bedeutung. In ihm sieht man die Struktur einer Wirkungseinheit ‚am Werk‘. Daraus ergeben sich die Fragen, die für eine Phänomen-Nähe relevant sind: Wann hat man etwas zuerst getan? Was war das für eine Zeit? Wann wird es getan? Wie oft? Wann nicht? Wie fühlt sich das an? Wie riecht, schmeckt oder klingt es? Was ist Anziehendes an der Sache, was schreckt ab? Von solchen – vermeintlich – einfachen Fragen aus erschließt sich die Wirkungseinheit.
Die Phänomen-Nähe ist besonders für das Tiefeninterview wichtig. Was hier an konkretem Material nicht ‚erhoben‘ wurde, fehlt im weiteren Untersuchungsverlauf. Häufig genug beobachtet man aber gerade bei erfahrenen Tiefenpsychologen eine Scheu vor dieser Geschichtenebene. Darin äußert sich die Befürchtung, das naiv Erzählte, oberflächlich in der Anschauung Verhaftete hätte nichts mit unbewussten Sinnzusammenhängen zu tun bzw. stelle doch bloß zurechtgemachte Geschichten dar. Aber ohne diese Geschichten kommen wir niemals an unbewusste Sinnzusammenhänge heran (vgl. dazu A. FREUD 1936). Sie sind das Material, das wir schrittweise analysieren müssen. Je voll- ständiger die Geschichten erzählt werden, umso besser.
Hierbei bedient man sich als methodischem Zug der Zerdehnung. Man muss im Tiefeninterview zunächst die Probanden überhaupt einmal dazu bringen, von ihren Rationalisierungen und Zurechtmachungen Abstand zu nehmen. Mit dem lückenlosen Auserzählen einer Sache ist bereits die erste methodische Brechung gegeben. Es ist von daher im einzelnen Tiefeninterview nicht so wichtig, alle Themen zu besprechen, die bei einem Gegenstand relevant sein könnten. Psychologische Vollständigkeit bedeutet, die Themen, die im Tiefeninterview angesprochen werden, so weit zu zerdehnen, bis sie tatsächlich komplett mit allen Zwischenschritten erzählt sind. An einer Stelle ‚exemplarisch‘ zu zerdehnen und zu vertiefen, bringt mehr, als alle Aspekte des Gegenstandes gewissermaßen nur ‚anzuexplorieren‘. Für die ‚exemplarisch‘ vertieften Bereiche dürfen dann jedoch keine Lücken bleiben. Das, was im Interview thematisiert wird, muss als Ablauf in seinen Entwicklungen des Erlebens und Verhaltens vollständig beschrieben werden. Sonst wird aus dem Tiefeninterview ein Breiteninterview. Dabei braucht man keine Angst zu haben, dass man andere wichtige Themen übersieht. Zum einem sind ja noch weitere Interviews durchzuführen; zweitens geht die morphologische Psychologie davon aus, dass sich in jeder konkreten Geschichte die ganze Wirkungseinheit expliziert. Jedes hinreichend zerdehnte Beispiel steht somit exemplarisch für den gesamten Gegenstand.
Dazu ein Beispiel: Ich habe im Auftrag eines Hygienepapierherstellers eine Grundlagenstudie zum Thema ‚Toilettenpapier‘ durchgeführt. Die mit den Interviews beauftragten Psychologen dachten von vornherein zu wissen, worum es dabei geht. Sehr schnell fielen ‚bedeutungsschwangere‘ Stichwörter wie: anale Phase, analer Charakter, Ekelfaszination, polymorph Perverses und vieles mehr. In der ersten Analyse zeigte sich dann, dass die Interviews wenig ergiebig waren. Die Interviewer hatten mit allen Tricks – von der projektiven Frage bis hin zur direkten Konfrontation im Sinne einer Deutung („Das macht Ihnen doch auch Spaß!?“) – versucht, von den Probanden etwas im Sinne dieser Schlagworte in Erfahrung zu bringen.
Es zeigte sich aber, dass man mit diesem, sehr abstrakten Material nichts anfangen konnte. Daraufhin wurde die Strategie in den Interviews geändert. Die Anweisung lautete schlicht: ‚Lassen Sie sich einen Toilettengang so ausführlich wie möglich mit allen Zwischenschritten beschreiben‘ (‚zerdehnen‘). Jetzt kam auf einmal Leben in die Sache. Es zeigte sich, dass die Leute eine besondere Freude daran haben, sich im Schutze des Reinigens einmal selber umfassend ‚befingern‘ zu können. Das Toilettenpapier hat dabei die Aufgabe eines Distanzhalters, aber auch eines Stimulators. Die Art des verwendeten Toilettenpapiers wird dadurch bestimmt, wie gut der Toilettengänger mit seiner analen Lust zurechtkommt. Viele Menschen haben eine besondere Freude daran, sich mit einem dünnen und relativ harten Papier sehr direkt zu stimulieren. Andere brauchen viele weiche Lagen, um sich von der Auto-Stimulation zu distanzieren. Die beliebten dreilagigen Papiere funktionieren dabei nach einer psychologischen Dreiteilung: Eine saubere Lage für die Finger, eine Lage für den Hintern und eine als Schutz und Distanzschicht dazwischen. Ein vierlagiges Papier kann diese Distanzierung strukturell nicht mehr steigern. Von daher verkauft es sich auch nicht gut.
Auf der Grundlage dieser ‚einfachen‘ – jedoch ausführlichen – Beschreibungen war es bereits möglich, ein ‚ideales‘ Produktportfolio zu entwickeln: für jeden Grad der gewünschten Selbststimulation bzw. Distanzierung ein Papier. Dabei musste unser Kunde von seinem Vorurteil, jedes Toilettenpapier müsse möglichst weich sein, Abstand nehmen. Damit aber noch nicht genug. In den Interviews zeigte sich, dass sich insbesondere mit einem vorgereinigten Hintern vortrefflich ’spielen‘ lässt. Hier kommt das feuchte Toilettenpapier ins Spiel. Die Tücher sind feucht, besonders dünn und erlauben es, sich sehr direkt zu stimulieren. Insbesondere Frauen machen gerne davon Gebrauch. Dabei braucht Frau im Schutze der Reinlichkeit auch vor der Berührung der vaginalen Bereiche nicht halt zu machen.
Ein weiterer ‚Spaß‘, der sich durch das feuchte Toilettenpapier ergibt, wurde nur den ‚hartgesottensten‘ Interviewern mitgeteilt. Die Probanden beschrieben – ebenfalls unter dem Deckmäntelchen der Reinlichkeit -, wie sie optisch überprüfen, ob der Hintern jetzt „ganz sauber“ ist. Das heißt, sie fertigen eine Art ‚Kot-Aquarell‘ an, das sie sich immer wieder anschauen können, bis schließlich ein blütenweißes Papier übrig bleibt. Solche Erkenntnisse führten dazu, dass die Verpackung eines solchen Produktes neu zu bewerten ist. Hier muss nicht nur ‚blütenweiße Sauberkeit‘ gezeigt werden. Auf den zweiten Blick muss auch ’schmierig Anales‘ durchschimmern.
Der Auftraggeber war mit der Studie hochzufrieden. Besonders beeindruckt haben ihn nicht die tiefenpsychologischen Ausführungen zum Analen, die sicherlich notwendiger Bestandteil der Präsentation waren. Verblüffung verursachte vor allem die Tatsache, wie konkret sich die von uns zunächst nur theoretisch postulierte Lust im tatsächlichen Toiletten-Alltag zeigt und welche direkten Auswirkungen diese Phänomene auf Produkt- und Packungsgestaltungen haben.
Ich habe dieses Beispiel aus zwei Gründen ausgewählt: Erstens ist mir persönlich insbesondere im Verlauf dieser Studie klar geworden, dass ohne konkrete Ablaufs-Beschreibungen buchstäblich ’nichts geht‘. Zweitens zeigt gerade diese Studie, wie ‚undelikat‘ das Forschen für den psychologischen Praktiker manchmal sein kann. Man muss den Mut haben und sich auch die ‚Freiheit‘ nehmen, sich mit den banalsten, aber eben auch mit dreckigen, ekligen oder angstmachenden Themen auseinanderzusetzen. Man muss den Probanden ‚auf die Pelle rücken‘ und selbst peinlichste Zusammen- hänge konkret befragen – auch an diesen Stellen darf nichts im Vagen bleiben. Man kann sich nicht mit charmanten oder koketten Anspielungen zufriedengeben. Wenn man davor zurückschreckt und nicht nachfragt, bekommt man nur das heraus, was man auf der Grundlage der eigenen Theorie oder der eigenen Vorurteile sowieso schon weiß.
Es dürfte deutlich geworden sein, dass das Kennzeichen ‚Phänomen-Nähe‘ vor allem für das Tiefeninterview von eminenter Bedeutung ist. Auf jeden Fall muss man den Geschichten auch bei der Verschriftung den nötigen Raum zugestehen. Eine gute Einzel-Beschreibung (eines Interviews) umfasst immer mehrere Seiten. Die Geschichten brauchen Platz. Zudem ist es bei der Auswertung wichtig, sich immer zu fragen, ob der erzählte Ablauf tatsächlich vollständig ist oder ob Zwischenschritte fehlen: Was könnte man ergänzen, damit noch klarer wird, wie eins aus dem anderen hervorgeht? Ist das, was gesagt wird, tatsächlich eine Bedingung für das, was getan wird? In diesem Zusammenhang gibt es ein innerhalb der psychologischen Morphologie weitverbreitetes Missverständnis in Bezug auf die Gegenstandsbildung einer Untersuchung (Ablaufregel/Handlungseinheit bzw. Wirkungseinheit): Auch wenn man eine Wirkungseinheit analysiert, muss man in Abläufen und Entwicklungen denken, da sich auch eine Wirkungseinheit nur in der konkreten Abfolge von Verhaltensweisen und Umgangsformen erschließt. Das ist die Konsequenz aus SALBERs Feststellung, ‚die Wirkungseinheit sei das Subjekt des Geschehens‘. Also muss man herausfinden, wie die Wirkungseinheit im konkreten Fall ‚handelt‘.
Bereits die Bezeichnung des zweiten Kennzeichens weist darauf hin, dass es sich hierbei um den charakteristischen Zug einer qualitativen Psychologie handelt. Unsere Erklärungen basieren auf Qualitäten und sind ausdrücklich auf sie bezogen (qualis [lat.]: wie beschaffen?). Qualitäten sind die Bausteine, aus denen unsere Konstruktionen oder Erklärungen abgeleitet werden. Zunächst geht es darum, überhaupt Qualitäten in den Blick zu bekommen. Man muss sich im Interview oder in der Einzelbeschreibung noch keine Rechenschaft darüber ablegen, welcher systematische Stellenwert der jeweiligen Qualität zukommt. Zu Beginn einer Studie steht eher das Aufspüren und ‚Sammeln‘ von Qualitäten im Mittelpunkt. Einer einzelnen Qualität kann man gar nicht ‚ansehen‘, welche Bedeutung sie hat. Diese erschließt sich nur aus dem kompletten Wirkungszusammenhang, also erst dann, wenn man ein relativ vollständiges Bild von Qualitäten der Wirkungseinheit hat.
Dann erst werden die Verhältnisse ’sichtbar‘. ‚Echte‘ Qualitäten herauszuheben und beschreibend zu erfassen, ist schon schwer genug!
An dieser Stelle mag es hilfreich sein, sich noch einmal kurz zu vergegenwärtigen, was der Begriff der ‚Qualität‘ überhaupt zu fassen sucht. Wir gehen davon aus, dass sich die Qualitäten als Erlebenszustände zwischen dem ‚Subjekt‘ und der erlebten Wirklichkeit herausbilden. Näher und intensiver als über die Qualitäten kommen wir an die Wirklichkeit nicht heran. Ohne ein Subjekt, das zu ihr in Kontakt ‚tritt‘ und ihre ‚Wirkung‘ erfährt, sind sie nicht in Erfahrung zu bringen. Von daher sind die Qualitäten auch in der Sprache, mit der wir versuchen, unsere Wirklichkeit zu beschreiben und zu verstehen, enorm wichtig. Qualität ist also sowohl eine psychologische Kategorie als auch ein zentraler Bestandteil unserer Sprache. Wir suchen also danach, wie die Wirkungseinheit tatsächlich auf uns wirkt, wie sie sich ‚anfühlt‘, in welchen Sinnzusammenhängen sie sich qualifiziert – und in welchen Begriffen man das möglichst genau fassen (‚worden‘)3 kann.
Leider ist unsere Alltagssprache aber oft sehr formal und wenig qualitäten- oder bildreich. Insbesondere durch die aktuell in unserer Kultur vorherrschenden technokratischen und bürokratischen Strömungen ist unsere Sprache zum Teil verarmt. Von daher sollte eine Qualifizierung im Interview vorbereitet werden. Man muss bereits den Probanden dazu auffordern, qualitätenreich oder bildanalog zu beschreiben, sonst bleiben auch unsere weiteren Beschreibungen sehr abstrakt. Auch der Proband muss schon um Wörter ringen, die das, was er erlebt, möglichst genau beschreiben. Das Ziel dabei ist, die komplexen Geschichten in einen Begriff (eine Qualität) zu transformieren.
Es geht also nicht um ‚einfache‘ Qualitäten. Qualitäten, die tatsächlich später etwas erklären können, müssen Gestalten sein – also einheitsstiftend und dennoch vielfältig. Wenn man z.B. in einer Untersuchung über das Rasieren feststellt, dass Nass-Rasieren als „männlich und sexy“ gilt, so nützt das wenig. Wenn man aber herausarbeiten kann, dass in der Nass-Rasur gleichzeitig eine Demonstration ‚archaischer Männlichkeit‘ und ein ‚Blutopfer‘ oder eine ‚Beschneidung des Archaischen‘ im Dienste der eigenen Kultiviertheit steckt, dann versteht man schon besser, warum Männer gewillt sind, Schmerzen auf sich zu nehmen, bloß um sich ein paar Haare abzuschaben. Solchen Zusammenhängen muss man gestalthafte Namen geben. Als Psychologen sind wir Wörterschaffende. Ich habe es schon oft in Präsentationen erlebt, wie fruchtbar es z.B. für Marketing-Fachleute sein kann, wenn etwas Diffuses, das alle verspüren, aber nicht ‚begreifen‘, in eine Qualität und damit einen Begriff überführt werden kann. Dann kann man über die Sache reden, dann wird sie handhabbar.
Ein Beispiel: Bei zahlreichen Studien zu Molkereiprodukten4 (MoPro) zeigte sich, dass bei aller Ernährungsfunktionalität („Probiotische Kulturen sind gesund“) von diesen Produkten noch eine ganz andere Art von Verlockung ausgeht, die zunächst schwer zu verstehen ist. Wenn man sich jedoch die Milch’geschichten‘ ausführlich beschreiben lässt (s. ‚Phänomen-Nähe‘), fällt auf, dass sie oft in eine Art Milchbiographie münden. Die Probanden erzählen Kindheitsgeschichten: Wann sie angefangen haben, Milchprodukte zu essen oder zu trinken, und wie sich ihr Leben zu diesem Zeitpunkt gestaltet hat. Wenn man ihnen genau zuhört und auf die Zwischentöne achtet, merkt man, wie sich eine wohlig-warme Atmosphäre einstellt.
Die Mutter oder die Großmutter waren die Versorgerinnen der Kindheit. Alles kommt einem in der Retrospektive heil, überschaubar und irgendwie ganz vor – es mangelte an nichts.
Aus diesen Geschichten kann man dann eine ‚mütterliche Vollversorgung‘ als einen zentralen Zug aller MoPro herausheben. Je nach Veranlagung der Probanden ergibt sich daraus entweder ein kaum auszuhaltender Milch-Ekel oder aber eine Tröstung, Kräftigung und Vitalisierung als zentrale Qualitäten des Pudding-, Milch- oder Joghurtgenusses. Damit werden Milchprodukte zu Versorgungs-Produkten in einem vielfachen Sinne. Wie eine versorgende Mutter sind sie in der Lage, nicht nur den Hunger zu stillen. Je nach Art des Produktes wird es möglich, relativ gezielt Befindlichkeiten, Stimmungen oder Gefühlszustände zu modellieren. „Wenn es mir richtig schlecht geht, hilft nur ein Pudding.“
Methodisch kommt man durch Zuspitzung an die Qualitäten heran. Das, was auserzählt wird, muss wieder in wenige oder idealiter in einen Begriff zugespitzt werden. Dabei sollte man im Sinne eines heuristischen Prinzips so tun, als ob die Qualitäten wirkliche ‚Täter‘ wären: „Was ist es am Pudding, was Sie so gerne haben wollen?“ Auch Analogiebildungen helfen hier weiter: „Pudding ist wie ein zarter Kuss.“ Solche Techniken zielen auf zugespitzte oder verdichtete Qualifizierungen einer komplexen Geschichte ab. Oft kann man aber beobachten, dass sich die Qualitäten aus einer tatsächlich komplett beschriebenen Geschichte gewissermaßen ‚wie von selbst‘ ergeben. Wenn man hinreichend ausführlich beschreibt, erschließen sich die Qualitäten bereits im Beschreibungsprozess. Häufig sind es tatsächlich materiale Qualitäten (Seelisches als Materialentwicklung), die das Verständnis für eine Wirkungseinheit im Interview und der Beschreibung voranbringen. Die MoPro als Material sind so beschaffen wie ihre psychologische Wirkung – die Qualitäten gehen quer durch den Gegenstand hindurch. Von daher sollte man alles herausarbeiten, was auf Materialqualitäten verweist: Hartes oder Weiches, Rundes oder Eckiges, Griffiges oder Schleimig-Flutschiges, Geschlossenes oder Offenes. Diese ‚einfachen‘ Qualitäten sind andererseits aber nur notwendige Zwischenschritte. Wir müssen im Weiteren herausarbeiten, welche Gestalten sich darin ausdrücken.
Selbst bei vermeintlich abstrakten Themen, etwa den Images von Versicherungsgesellschaften, spielt Materiales eine große Rolle. Der majestätisch, kraftvoll aber auch bedrohlich über allem thronende Adler der ALLIANZ hat eine ganz andere Wirkung als die diffusen Wolkenbilder im blauen Himmel, die mit der R&V Versicherung verbunden werden. Aus dem einen leitet sich der Schutz und die Sicherheit einer mächtigen Alliance – damit aber auch Bevormundung – ab. Aus dem anderen eine diffuse Hilfestellung im Hintergrund, die jedoch gleichzeitig nicht einengt und die eigene Unperfektheit und Hilfsbedürftigkeit nicht deutlich werden lässt.
Als Denkhilfe sollte man versuchen, sich klar zu machen, dass es im Seelischen nichts völlig Abstraktes geben kann. Auch die ‚abgedrehtesten‘ psychologischen Bedeutungen oder Zusammenhänge sind aus einfachen materialen Qualitäten, letztlich aus dem Umgang mit Dingen entstanden5. Bei der Anfertigung der schriftlichen Einzelbeschreibung sollte man deshalb zunächst alle Qualitäten aufgreifen, die vom Probanden bereits geäußert wurden: Alle Adjektive, Adverbien oder Attribuierungen sind wichtig. Dabei sollte man zwischen den Zeilen auf Durchgängiges achten: Welche Qualitäten kommen immer wieder? Genauer muss es eigentlich heißen, was kann man als Qualität annehmen oder einsetzen, welche die Vielfalt der Geschichten in einer Gestalt vereinheitlicht? Die Tröstung, die z.B. mit dem Pudding zusammenhängt, äußert sich in vielerlei Worten, Bildern und Geschichten. Wir suchen Begriffe, die inhaltlich verschiedenartige Geschichten auf einen Nenner bringen können. Dabei muss man aber immer im Blick halten, dass alle Qualitäten sich in Verhältnissen organisieren. Schutz ist immer auch Einengung. Süßes, Cremiges und Wohliges im MoPro-Bereich ist immer auch klebrig und schleimig.
Hier kündigt sich auch der Übergang zum nächsten Kennzeichen an. Die Qualitäten sollten zunächst ’nur‘ gesammelt werden. Sie sind dann aber die Bausteine unserer Erklärungsgebäude. Die Qualitäten verweisen auf die Konstruktion, da sie sich in Verhältnissen organisieren.
Nachdem die Geschichtenebene des Interviews auf ihre Qualitäten und letztlich Gestalten hin zergliedert wurde, rücken nun Funktionsprinzipien in den Blick: ‚Warum‘ ist das so erzählt worden, welcher Sinn oder Zusammenhang steckt darin? Die Strukturierungsarbeit wird hauptsächlich bei der schriftlichen Beschreibung der Interviews durch den Psychologen geleistet. In einer Einzelbeschreibung sollte man dabei nicht versuchen, eine komplette Konstruktion abzuliefern. Hier reicht es, wenn man – wie im vorigen Kapitel beschrieben – gestalthafte Qualitäten heraushebt und viel- leicht ein grobe Grundordnung vornimmt. Erst auf der Ebene der vereinheitlichenden Beschreibung mehrerer Interviews ist eine valide Strukturierung möglich.
Der Psychologe ist im einzelnen Interview nicht in der Lage, in nur zwei Stunden tatsächlich die komplette Struktur einer Sache zu verstehen. Im Gegenteil: Wenn in dem Interview alles glatt läuft, Interviewer und Proband das Gefühl haben, die Sache sei doch klar, dann sollte man skeptisch wer- den. Von einem tiefenpsychologischen Verständnis aus sind solchen frühen oder voreiligen Erklärungsversuche eher ein ‚Trick‘ des Seelischen: Insbesondere mit bereits im Alltag gebräuchlichen Rationalisierungen, folkloristischen Feststellungen wie „Werbung durchschaut doch heute jedes Kind“ (vgl. GRÜNEWALD/SZYMKOWIAK 1997), aber auch mit psychologischen ‚Schnell-Begründungen‘ (‚anale Phase‘, s.o.) soll von der eigentlichen Dramatik der Sache abgelenkt werden. Von daher ist es notwendig, im Interview aber auch bei der Analyse des Interviewmaterials zunächst systematisch Unverständnis zu erzeugen – gerade das ist die notwendige Vorarbeit für ein ’neues‘ psychologisches Verständnis des Gegenstandes6.
Die psychologische Morphologie geht davon aus, dass es spannungsvolle Strukturen sind, die dem Seelischen Ordnung geben und es gleichzeitig vorantreiben. Strukturierung heißt also paradoxerweise, dass man dort ansetzen muss, wo es nicht klappt, wo Unverständnis, Überdeterminationen, Dramatik und die dazugehörigen Ängste – aber auch Besessenheiten (s. SALBER 1997) – deutlich werden.
Was aus einer Alltagsperspektive heraus eigentlich klar und selbstverständlich erscheint, sollte hinterfragt werden. Was uninteressant und beiläufig geschildert wird, sollte in den Fokus gerückt werden. Wo Kontrolle und Im-Griff-Haben demonstriert werden, sollte man Ambivalenzen, Überforderung und Ängste vermuten, in die der ganze Bannungs-Aufwand mit demonstriertem Erfolg gesteckt wird. An dieser Stelle spielen im Interview und bei der Auswertung die Abwehr- oder Demonstrationsmechanismen des Seelischen eine wichtige Rolle (A. FREUD; SALBER 1980): Zentrale Qualitäten kommen meist zum Ausdruck, werden aber in einen anderen Zusammenhang gestellt. Projektion, Verschiebung, Rationalisierung – all diese Mechanismen findet man in jedem gut durchgeführten Interview. (Da es ja nicht um den Charakter des Probanden geht, sondern um das Verständnis der Wirkungseinheit, sollte man sich keine allzu restriktiven ‚Deutungs-Hemmungen‘ auferlegen. Wenn ein Proband beispielsweise zu einer stark sexualisierten Werbung sagt: „Einem Chauvi würde das bestimmt Spaß machen“ – so kann man getrost davon ausgehen, dass auch der Proband selbst Gefallen daran findet.)
Um die Strukturierung vor allem in der vereinheitlichenden Beschreibung weiter voranzutreiben, bedient man sich methodisch der Dramatisierung: Wo sitzen die wirklichen Probleme? Wo findet sich die Angst in einem Produktbereich, auch wenn er noch so banal daherkommt? Was sind unbändige Verlockungen, die – Besessenheiten gleich – alles andere in den Hintergrund drängen möchten und ausgelebt unseren Alltag zerstören würden? Von solchen dramatischen Extremformen muss man auch in den banalsten Alltagsformen – sei es die Verwendung von Mineralwasser oder Grießpudding – ausgehen, sonst versteht man nicht, wie Wirkungseinheiten funktionieren.
In der schriftlichen Beschreibung ist es spätestens jetzt notwendig, einen Wechsel im Denk-Sprach-Duktus vorzunehmen. Bis hierhin konnte man – zumindest der Einfachheit halber bzw. den Denkfiguren des Alltags folgend – immer noch den Probanden als Subjekt des Geschehens betrachten. ‚Spätestens‘ unsere Erklärungen fußen aber darauf, dass tatsächlich die Wirkungseinheit das Subjekt des Geschehens ist und somit einen überpersonalen Wirkungsraum darstellt. Viele Beschreibungen versuchen, dem gerecht zu werden, indem der Proband als Subjekt des Satzes durch ein ‚man‘ ersetzt wird. Dadurch ist aber nichts gewonnen! Während die Wörter vor allem die Bedeutungen generieren, bildet die Grammatik stärker den Sinn oder den Zusammenhang ab. Von daher lassen sich die Strukturzüge, die unser Handeln determinieren, nur dann darstellen, wenn sie auch in der Beschreibung als ‚tätige Subjekte‘ behandelt werden.
So zu beschreiben ist schwierig, und die Sätze und Formulierungen, die dabei herauskommen, sind oftmals auch nicht besonders stilvoll. Eine derartige Umzentrierung ist aber keine methodische Spitzfindigkeit, sondern eine Notwendigkeit; und wenn man es konsequent versucht, wird man erleichtert feststellen, welch enormer heuristischer Vorteil in diesem Vorgehen liegt: Man ist jetzt gezwungen, sich zu fragen, wie ein Strukturzug beschaffen sein kann, der fast wie bei einem Täterprofil – in diesem Satzzusammenhang das Subjekt bilden kann, und welchen Begriff man dafür (er-) finden kann. Was macht das, was man beobachtet hat? Wenn der Proband (oder ‚man‘) nicht mehr Täter (Subjekt im Satz) ist, stößt der Psychologe durch ein fehlendes Wort gewissermaßen notgedrungen auf die Lücken, in der der jeweilige Strukturzug ’steckt‘. Oftmals verspürt man erst dann die eigentliche Dramatik in der Sache, die durch den Probanden – als einem Subjekt, das vermeintlich alles im Griff hat – eher verdeckt wird.
Ein Beispiel: In einer Untersuchung zum Pay-TV8 schilderten viele Probanden zunächst die Vorteile in sehr rationaler Weise: „Mit Pay-TV bekommt man richtig was für’s Geld.“ Hier gibt es keine Werbeunterbrechungen und man kann sich als ‚Kunde Erster Klasse‘ fühlen, der alles auf einem Silbertablett serviert bekommt. In einem konkreten Fall wurde sehr deutlich, dass dies eine Zurechtmachung ist, welche die eigentliche Dramatik der Sache bannen soll. Nach einiger Zeit (d.h. über entsprechende Zerdehnungen) zeigte sich, dass der Alltag des Probanden sehr stark von Entbehrungen, Minderwertigkeitsgefühlen, Nicht-Weiter-Kommen und einem Nicht-Geliebt-Werden bestimmt war. Sein Alltag gestaltete sich relativ freudlos, es entwickelte sich wenig. Zusammenfassend wurde das als Kargheit beschrieben. Dem gegenüber war das Leben im Fernsehen ganz anders: bunt, lebendig, vielfältig und mitreißend. Die tollen Film-Geschichten bieten eine permanent verlockende Entwicklungsperspektive: Reichtum, Liebe oder Happy-End. Eine derart reiche Lebendigkeit bestimmt das Fernsehleben.
Aber diese Kargheit und Lebendigkeit machen noch nicht den ‚eigentlichen‘ Kern der Sache aus. In einer vertiefenden Analyse zeigte sich auch im Austausch mit anderen Interviewbeschreibungen die ganze Dramatik, die darin bestand, dass das beinahe ‚überlebendige‘ Pay-TV-Leben zwar als sehr verlockend erlebt wurde, aber auch sehr beängstigende Seiten hatte: Es geht um Top oder Flop, direkt neben dem Triumph lauert der Untergang – ein unbändiges und existentiell bedrohliches Leben. Das ist aber nicht nur im Fernsehen so, sondern ein Charakteristikum des Seelischen generell. Von daher ist die Kargheit nicht nur etwas Defizitäres. Sie ist zurechtgemacht und bietet neben allem Beklagenswerten auch die Sicherheit, sich nicht allzu sehr auf gefährliche Veränderungen, Neuanfänge und Abenteuer einlassen zu müssen.
Das Fernsehen übernimmt dann die Funktion einer Fernübertragung oder besser Fernerregung. Was dem Alltag ermangelt, macht das Fernsehen erlebbar. Auf dem Sofa findet aber keine wirklich bedrohliche ‚körperliche‘ Verwicklung statt. Von daher ist das Pay-TV eine sehr gelungene Lösung. Das ‚Erster Klasse Fernsehen‘ hilft, die Kargheit beizubehalten und sie gleichzeitig zu überdecken. Die defizitären Vorstellungen, die mit der Kargheit verbunden werden, rücken in den Hintergrund. Das ganze Leben ist nun eine ‚Premiere‘-Feier, die den Zuschauer verwöhnt und hofiert, so dass man sich als etwas ganz Besonderes fühlen kann. Die Verlockungen oder Erregungen bekommt man aber nur in ‚gefilterter‘, nicht allen Sinnen zugänglicher Form zu spüren. Man kann nicht riechen, nicht schmecken, nicht anfassen. Man kann sie sich durch die Fernerregung heranholen und gleichzeitig vom Leib halten.
Diese Dramatik des Seelischen bekommt man in den seltensten Fällen ‚mundgerecht‘ präsentiert – also von den Probanden erzählt. Man muss auch hier den ‚Mut‘ haben, sie selber aktiv als Psychologe aus dem Material (d.h. aus den Phänomenen) ‚heraus zu modellieren‘. Spätestens seit FREUD sollte auch für die Psychologie klar sein, dass es im Seelenleben vor allem um Liebe und Hass, um Aufbauen und Zerstören geht kurz: um Existentielles. Alle Wirkungseinheiten haben in dieser Hinsicht die Funktion, die unbändige Wucht der Wirklichkeit in einer Alltagsform zu bannen. Wenn man als Psychologin oder Psychologe nicht die Courage hat, selbst in den einfachen Alltagsformen wie Fernsehen oder dem Pausenverzehr eines Milchbreis von einer solchen Grunddramatik auszugehen, kommt man nicht an Unbewusstes heran. Denn ‚es‘ ist nur darum unbewusst, weil es uns zu schaffen macht, weil wir es nur mit Mühe oder eben gar nicht in den Griff kriegen. Von daher sollte der Beschreibungsprozess getragen sein von Fragen wie: Was könnte so schlimm sein, dass man sich die Angst nicht eingestehen kann? Was könnte so unwiderstehlich anziehend oder ausufernd sein, dass es vermieden werden muss? Was könnte so peinlich sein, dass es auf keinen Fall herauskommen darf?
Letzteres kann man sehr gut bei den Handys beobachten. Auch in diesem Zusammenhang gibt es die tollsten Geschichten, warum man ein Handy braucht. Inhalt ist meist die eigene Wichtigkeit – man muss jederzeit erreichbar sein. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass das Handy eine Art ‚moderne Nabelschnur‘ ist. Der Manager kann ständig auf seine Sekretärin zurückgreifen, wenn er sich in die ‚große weite Welt‘ begibt. Auf wichtigen, existentiellen und hochoffiziösen Dienstreisen geht es somit ebenfalls um ein Alleine-Sein, um Gegner-Haben und Kämpfe-bestehen-Müssen.
Der ‚Nabel der Welt‘ zu sein, hat dann etwas sehr Doppeltes: Neben der Demonstrationen der eigenen (erwachsenen) Bedeutsamkeit, kann man mit dem Handy gleichfalls in einer recht infantilen Weise – nämlich überall und jederzeit – auf ‚mütterliche Hilfe‘ zurückgreifen: nur kurz (an-) rufen müssen und gehört werden. Alleine nicht zurechtkommen, Angst haben und um Hilfe rufen – all das gehört zur Handywelt, ist jedoch in den Geschichten und (Alltags-) Zurechtmachungen – und damit auch im Erleben – der Probanden bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Die drei bisher dargestellten Kennzeichen wirken als Hauptfiguration des Beschreibungsprozesses zusammen. Sie sind – wie bereits erwähnt – für den Werkcharakter der Beschreibung verantwortlich, d.h. für das, was man sieht und liest und was die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wie wir gesehen haben, ist die Beachtung der Reihenfolge wichtig. Die Schritte bauen aufeinander auf, auch wenn sie gleichzeitig als Struktur wirksam sind (Versionenkonzept). Fast könnte man den Eindruck gewinnen, mit der Realisierung dieser drei Kennzeichen wäre der Beschreibungsprozess auch schon zum Abschluss gebracht.
Es gibt aber noch eine zweite Figuration, die dabei noch nicht ausdrücklich in Erscheinung getreten ist, über die sich viele qualitative Psychologen auch gar keine Rechenschaft ablegen, die aber ‚implizit‘ im Hintergrund das Beschreiben als Nebenfiguration mitbestimmt. Wenn man einen wissenschaftlichen Anspruch hat oder in Verwertungszusammenhängen denken muss, ist es notwendig, diese zweite Figuration gezielt mit zu berücksichtigen. Das ist vor allem die Aufgabe des Projektleiters, der der Studie eine Ausrichtung geben muss. Der Projektleiter sollte gewissermaßen den Überblick behalten und sich immer wieder fragen, was man mit der Studie erreichen will und welche Konsequenzen das für die Durchführung hat. Darauf beziehen sich die folgenden drei Kriterien.
Bisher haben wir so getan, als ob sich die Fragestellung einer empirisch- psychologischen Untersuchung aus der Sache selbst ergibt. Damit ist aber nur eine grobe Perspektive gegeben. Meist schleicht sich dann unbemerkt beispielsweise durch das Interesse des Psychologen eine Zentrierung ein – vielleicht will man sich mit einer Untersuchung selber eine Frage beantworten, die einen unbewusst umtreibt. Wissenschaftlichkeit bedeutet aber, absichtsvoll und explizit eine Zentrierung vorzunehmen, die sich aus dem Sinn und Zweck bzw. dem Verwertungszusammenhang der Studie ergibt.
Dabei geht es nicht darum, die ‚richtige‘ Zentrierung zu finden – eine solche gibt es nicht. Zentrieren heißt zunächst, die tendenziell unendliche Vielfalt möglicher Perspektiven und Fragerichtungen auf ein handhabbares Maß einzugrenzen. Ohne einen bestimmten Blickwinkel liefe man buchstäblich Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Erst aus der Zentrierung ergibt sich, welche Fragen nun tatsächlich im Interview wichtig und unter welcher Perspektive die Interviews zu beschreiben sind. Im Marktforschungsalltag wird die Zentrierung in mehreren Schritten erarbeitet:
Bereits zu Beginn der Studie im Rahmen eines sogenannten ‚Briefings‘ kommen interviewende Psychologen und Projektleiter zusammen und versuchen anhand eines Leitfadens der Studie eine Richtung zu geben. Diese wird dann in einer Zwischenanalyse überprüft und ggf. auch modifiziert. In der Endanalyse wird das Ganze noch einmal überprüft. Hier liegen dann zwar schon alle Beschreibungen vor, der Projektleiter kann sich aber noch einmal vergewissern, ob die gewählte Zentrierung tatsächlich beim Aufbau des Gutachtens und zur Beantwortung der Kundenanliegen tauglich ist.
Bei all diesen Bearbeitungs-Formen zeigt sich die Verwandtschaft der Morphologie zur Konstruktivistischen Wissenschaftstheorie. Es geht nicht um ‚falsch‘ und ‚richtig‘ oder gar um ‚objektive Wahrheiten‘ – für eine solche Unterscheidung gibt es überhaupt keine Kriterien. Jenseits der Ansprüche, die grundsätzlich an ein wissenschaftliches Arbeiten zu stellen sind (vgl. dazu auch SALBER 1975), geht es vor allem um Passen und Tauglichkeit im Hinblick auf eine bestimmte Problemstellung. Die Morphologie versucht, all dem mit dem Konzept der Gegenstandsbildung (SALBER 1959) gerecht zu werden. Gegenstandsbildung bedeutet, dass Untersuchungsgegenstände wie Wirkungseinheiten nicht natürlich vorliegen bzw. in der Wirklichkeit einfach gegeben sind, sondern zunächst formalisiert werden müssen. Erst unser Untersuchungsinteresse macht aus einem über- komplexen Geschehen eine handhabbare Wirkungseinheit, die dann im Verlauf (bzw. durch) eine(r) Untersuchung konstruiert wird (Salber 1972).
Der einzelne Psychologe im Team muss über eine solche Formalisierung hinaus darauf achten, dass bei seinen Interviews und Beschreibungen die Zentrierung tatsächlich berücksichtigt wird. Häufig z.B. schleichen sich ‚heimlich‘ charakterologische Betrachtungen ein: Was im Interview an Geschichten erzählt wird, wird nicht als Ausdruck der Struktur des Gegenstandes betrachtet, sondern dem Charakter des Probanden zugeordnet. Das mag zwar beim Verstehen des einzelnen Interviews hilfreich sein, versperrt aber die Sicht auf die ‚allgemeine Struktur‘ der Sache im Sinne des Wirkungseinheitsgedankens (s.o.). Wie eine sinnvolle Zentrierung in der Praxis aussehen kann und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, zeigt ein
Beispiel: Ich habe mehrere Studien zum Bekleidungsmarkt durchgeführt. Jede hatte ein anderes Ergebnis. Nicht etwa, weil die eine Studie schlecht und die andere gut war, sondern weil sich aus den Problemen der Kunden heraus immer etwas andere Fragestellungen ergaben. Für einen Markenhersteller beispielsweise stand die Bedeutung der Kleider als grundlegende Ausdrucksgestalt im Vordergrund. Nur von dieser Zentrierung aus konnte man klären, was Marken im Bekleidungsmarkt psychologisch bedeuten, und wie man die untersuchte Marke erfolgreich weiterentwickeln kann. In den Interviews ging es also sehr stark darum, welche Bilder das Kleidung-Tragen oder die tägliche Auswahl von Kleidung bestimmen.
In einer anderen Studie stand hingegen der Einkaufsprozess im Vordergrund8. Aus dem Geschehen beim Einkaufen heraus sollte die optimale Gestaltung einer Einkaufsstätte abgeleitet werden. Hier zeigte sich, dass insbesondere das Einkaufen in Kaufhäusern oft nicht planvoll und gezielt geschieht. Man geht meist nicht mit einem festen Kaufwunsch ins Kaufhaus und erfüllt sich diesen. Der Prozess ist weit komplizierter: Zunächst ist hier ein relativ unspezifisches Interesse am Werk. Manch- mal gibt es auch eine Art Vorsatz (oder auch Vorwand) – man sucht z.B. einen Pullover. Dieser anfängliche Vorsatz modifiziert sich dann oft aber im Rahmen des Einkaufsprozesses. Viele Menschen gehen sogar zur ‚Ablenkung‘ oder ‚Unterhaltung‘ in der Mittagspause bzw. nach der Arbeit in ein Kaufhaus. Treibende Kraft ist die diffuse Hoffnung, dass irgendwo eine neue, bessere Entwicklungsperspektive wartet: die tollen neuen Kleider, die fast wie im Märchen alle Türen und Herzen öffnen, die alles leichter und besser laufen lassen. Im Kaufhaus kann man jetzt um sich schauend und vor allem wühlend versuchen, nach diesen Entwicklungsperspektiven zu ‚greifen‘, indem man durch verschiedene Abteilungen schlendert, die jeweils für eine andere Lebensausrichtung stehen (steif, locker, mondän, abenteuerlich …).
Dabei gerät man von einer ‚geistigen‘ Anprobe in die nächste, ohne dass sich aber eine Gestalt schließt – die Entwicklungen werden nur anprobiert. Man wird hineingesogen in ein Durcheinander mit vielen verschiedenen und neuen Verlockungen (Wühlbereich, Fundgrube …). Immer wieder springt einen etwas Neues an, was gewissermaßen auf dem Weg liegt und lockt: ‚Fass‘ mich an!‘. Häufig wird dann zum Schluss etwas gekauft, was man vorher vielleicht gar nicht in Betracht gezogen hatte.
Psychologisch ist der Kauf also eine ‚Austritts-Karte‘. Nur auf diese Weise kommt man aus den ungeschlossenen und einen immer wieder neu in ihren Bann ziehenden Entwicklungs- Verwicklungen heraus. An einer Stelle muss man es zum Abschluss bringen – und sei es nur durch ein paar neue Socken.
Von hier aus ließen sich jetzt Phänomene erklären, die für unseren Kunden bis dahin völlig unverständlich waren. Der Auftraggeber – eine Bekleidungskette – hatte seine Filialen neu gestaltet. Was vorher relativ durcheinander und wenig schmucklos war, erschien jetzt geordnet und erstrahlte in neuem Glanz. Alles war schicker und weitläufiger, die Ware war besser sortiert und schöner präsentiert. Man konnte sich viele fertige Ensembles anschauen, fast so wie man Menschen auf der Straße begegnet. Kundenzählungen und Kundenbefragungen hatten ergeben, dass jetzt mehr Kunden die Filialen besuchten. Sie gaben an, die Häuser seien jetzt schöner, und es mache auch mehr Spaß, sich umzusehen. Gleichzeitig allerdings gingen die Verkaufszahlen in die Knie!
Aus den eben skizzierten Überlegungen ergab sich nun folgendes: Die Filialen war so gut gestaltet und gleichzeitig so unnahbar, dass sie psychologisch tatsächlich eine ‚Gute Gestalt‘ abgaben. Das heißt aber, dass die neuen Filialen einen nicht mehr in dem Maße verwickelten und selber zur Schließung der Gestalt ’nötigten‘, wie das unfertige Durcheinander der Kaufhäuser. In den renovierten Räumen verweilten die Kunden vor den Schaufensterpuppen und Regalen, die für sich sehr schön anzuschauen sind, die aber nicht einladen, selber etwas daraus zu machen. Man gleitet dann durch eine ‚unnahbare Ausstellung‘ und kommt am Ende entsprechend ungerührt wieder heraus – ohne etwas gekauft zu haben.
Methodisch bedeutet Zentrierung: eine Setzung vorzunehmen. Der Gegenstand einer Untersuchung – in diesem Beispiel ‚Bekleidung‘ – sagt niemals von sich heraus, wie er optimal zu untersuchen ist. In der Marktforschung oder auch der Unternehmensberatung muss sich die Setzung an den konkreten Problemen der Kunden orientieren. Allerdings ist es dabei immer entscheidend, die Fragen der Kunden nicht einfach zu übernehmen, sondern in einem Vorgespräch zu klären, was das ‚eigentliche‘ Anliegen ist und welche Zentrierung sich daraus ergibt. Das ist meistens ein Kampf mit dem Kunden, weil in den Unternehmen solche methodischen Zwänge – gerade im Hinblick auf die Handhabbarkeit einer in zeitlich wie finanzieller Hinsicht begrenzten Untersuchung – meist nicht klar sind. Der Kunde will im Regelfall ‚alles wissen‘, wenn er schon eine Grundlagenstudie in Auftrag gibt. Hier darf man sich nicht scheuen, von vornherein deutlich zu machen, dass man nicht alle Fragen beantworten kann, sondern gemeinsam die Zentrierung der Studie erarbeiten muss. Analog zur Psychotherapie geht es in diesem Prozess vor allem auch darum, aus den Klagen des Kunden sein tatsächliches ‚Leiden‘ herauszuarbeiten9.
Damit die Zentrierung nicht zu einer Einengung des Blickes führt, ist es notwendig, gleichzeitig über den Einzelfall hinaus zu denken. Ein Phänomen erklärt sich oft durch ein anderes – weil in beiden der gleiche Sinnzusammenhang stecken kann. Das ist ein grundlegendes methodisches Inventar der Morphologie. Der in dieser Hinsicht bedeutsame Begriff der Metamorphose sucht zu fassen, dass Gestalten sich ineinander verwandeln können (und müssen). Solche Metamorphosen kann man systematisch aufspüren. Es sind psychologische Verwandtschaften, die durch das ‚äußere Erscheinungsbild‘ oft verdeckt werden. (SALBER hat in dem Buch „Der Alltag ist nicht grau“ [1989] eine Vielzahl solcher ‚Verwandtschaftsbeziehungen‘ bzw. Verhältnisse aufgestellt.)
Der Kontextbezug ist in allen Bereichen einer Untersuchung von Bedeutung, beginnt aber bereits im Einzelinterview. Wesentliches z.B. zur Psychologie eines bestimmten Produktes kommt oft erst zur Sprache, wenn es am Ende des Interviews um etwas ganz anderes oder vermeintlich ‚Banales‘ geht. So können verheimlichte Seiten – zum Beispiel die Verlockungen von Puddings – sich gerade dann zur Sprache bringen, wenn man Verpackungen oder Becherformen befragt, die auf den ersten Blick nichts mit diesem Grundthema zu tun haben. Den Probanden fällt es hier leichter, seelische Zusammenhänge anhand von konkretem Material zu beschreiben, zudem befürchten die Probanden, wenn sie sich zu ’schlichten‘ Bechern äußern, nicht so sehr, etwas Peinliches über sich d.h. über ihren Umgang mit Pudding preiszugeben.
Der ‚Kontextbezug‘ hat seine zentrale Bedeutung aber dort, wo es gilt, von der einzelnen interviewten Person komplett zu ‚abstrahieren‘ und nur noch in der jeweiligen Wirkungseinheit zu denken. Dann kann man Verständnislücken, die sich in dem einen Interview zeigen, durch Erkenntnisse aus den anderen Interviews füllen oder ergänzen – so als ob alle Probanden jeweils eine Teilansicht einer umfassenden Landschaft oder eines Labyrinths beschreiben. Jedes Interview hat seine blinden Flecken, erst wenn man alle Teile richtig zusammenlegt, hat man eine vollständige Karte des Gegenstandes.
Methodisch geht es hier um Analogie-Bildungen. Analogie-Bildung ist dabei sowohl eine ’schlichte Interviewtechnik‘10 als auch ein methodisches Konzept. Oft gibt es Analogien in vermeintlich völlig unterschiedlichen Bereichen bzw. anderen Studien. Dabei können sich die Erkenntnisse jeweils befruchten, da es ja immer auch um allgemeine seelische Gesetzmäßigkeiten geht. Es lohnt daher regelmäßig, mit Kolleginnen oder Kollegen darüber zu sprechen, was ihnen zu dem Thema einfällt.
Ein Beispiel: Bei der Analyse des SAGROTAN-Images zeigt sich eine seltsame Mischung. Zunächst beobachtet man bei den Verwendern ein völlig ungebrochenes Vertrauen in die Marke. Dabei weiß man nichts Konkretes über das Produkt oder die Firma, die es herstellt und vertreibt. Man geht einfach davon aus, dass SAGROTAN gegen alle möglichen unsichtbaren Bedrohungen in Form von Krankheitserregern schützt. Die einzigen konkreten Anhalte sind der Markenname und die Göttin Hygiea, die auf der Flasche thront. Mehr noch: Viele Verbraucher erzählen zunächst, dass sie SAGROTAN zwar kennen, selber aber nicht verwenden. Nach einiger Zeit fällt ihnen dann ein, dass sie es doch im Haus haben und bei bestimmten Gelegenheiten darauf nicht verzichten können (Umzug, Krankheit). Mit ihrer anfänglichen Leugnung haben die Verbraucher aber nicht gelogen. Sie haben es tatsächlich vergessen. Diese ‚Fehlleistung‘ begründet sich in der psychologischen Funktion von SAGROTAN, das wie ein Bannungs-Ritual wirkt. Man kann die Ängste vor Ansteckung, aber auch den Ekel vor anderen Menschen einfach wegspritzen und wegwischen. Die unsichtbaren Bedrohungen, aber auch der Ekel vor dem Fremden – und damit ebenfalls SAGROTAN – sollen im Alltag möglichst nicht bewusst werden.
Eine Analogie, die mich SAGROTAN in diesem Sinne noch besser verstehen ließ, fand ich bei einem Kollegen, der sich sehr intensiv mit dem Image von Versicherungsgesellschaften auseinandergesetzt hat.11 Es gibt Versicherungs-Marken, die obwohl sie über eine gute Marktposition verfügen – ein sehr diffuses, wenig konturiertes Bild haben (s.o.). Viele Verbraucher wissen gar nicht, dass sie z.B. bei der R&V versichert sind. Der psychologische Vergleich dieser völlig unterschiedlichen Produktbereiche zeigt nun etwas sehr Interessantes: In beiden Bereichen geht es um ein ähnliches Grundproblem – mit ähnlichen Konsequenzen für die Images und die Führung der Marke -, nämlich um unkalkulierbare oder unsichtbare Bedrohungen, die man nicht im Griff hat und die einem letztlich vor Augen führen, auf welch tönernen Füßen die eigene Existenz steht. Dabei weiß man nie genau, wo die Gefahr lauert. Man ist niemals sicher, sie kann überall und unvermittelt auftauchen – gleichgültig, ob man durch eine tödliche Krankheit dahingerafft wird oder mit den Konsequenzen von Unglück, Hagel, Feuer und Diebstahl fertig werden muss. Man lebt am Rande des Abgrunds.
All das versucht man durch vermeintlich medizinische Bannungs-Rituale (SAGROTAN) oder den Pakt mit einer großen Macht (Versicherungen) in den Griff zu bekommen. In diesen Bereichen gibt es nun jeweils Marken, die mit dem Versprechen operieren, wie ein Schutzengel auf einen aufzupassen, gleichzeitig aber unsichtbar im Hintergrund zu bleiben. Der Sinn des Ganzen ist, die mit dem Komplex von ‚unbehandelbaren‘ und existentiellen Bedrohungen verbundenen Ängste im Alltag nicht bewusst werden zu lassen.
Für SAGROTAN leitet sich daraus die Konsequenz ab, in der Werbung nicht mit Krankheiten oder Gefährdungen zu drohen, sondern immer gleich auf den Schutz durch die ‚Macht von SAGROTAN‘ zu verweisen. Dabei sollte man dem Verbraucher nicht zu deutlich vor Augen führen, wie SAGROTAN wirkt oder warum es notwendig ist. All das würde nur die latent vorhandenen Ängste schüren. Ähnliches gilt für bestimmte Versicherungen (z.B. R&V), die als Instanz im Hintergrund zwar Schutz versprechen, aber weder die Befürchtung beleben, in Abhängigkeit zu geraten, noch Ängste in Bezug auf die eigene Hilflosigkeit wecken. Auch hier darf in der Werbung die Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit des Verbrauchers nicht in den Fokus gerückt werden.
Bei der Beschreibung oder der Erstellung eines Gutachtens sollte man sich also immer fragen: Woher kennt man das? Gibt es Analogien zu anderen Bereichen auch über die konkreten inhaltlichen Ähnlichkeiten hinaus? Andererseits hat man es aber trotz aller Vergleichbarkeit und Gemeinsamkeit bei jeder Studie gleichzeitig mit einem eigenständigen spezifischen ‚Fall‘ zu tun. Auch das will berücksichtigt werden, sonst wird aus Erfahrung ‚Schubladendenken‘.
Darüber hinaus kann der kulturelle oder kulturpsychologische Kontext wichtige Hinweise zum Verständnis einer Wirkungseinheit geben. Gerade wenn viel geforscht wird, etwa im universitären Rahmen oder in einem Markforschungsinstitut, können ‚kulturelle Quervergleiche‘ tatsächlich neue Erkenntnisse ermöglichen. Aber auch ohne einen solchen Background ist es sinnvoll, sich zu fragen, wie eine Aussage zu verstehen oder zu bewerten ist, wenn man sie im Licht der für den Befragten relevanten Kulturströmung betrachtet. Falls heute etwa ein Jugendlicher in einem Interview etwas mit ‚geil‘ attribuiert, so meint er damit nichts im engeren Sinne Sexuelles. Oder wenn heute jemand erzählt, er lasse sich als aufgeklärter Mensch von Werbung nicht beeinflussen, so zitiert er nur die Zeitungen, die er liest (zu diesem grundsätzlichen Kulturbezug vgl. auch ZIEMS 1996).
Als qualitativer Psychologe bewegt man sich mit jeder Untersuchung in der Spanne zwischen Banalität und Unverständnis. Bei der Präsentation von Marktforschungsstudien zum Beispiel kann es leicht passieren, dass sich im Auditorium jemand zu Wort meldet und reklamiert, dass man das doch bereits vorher gewusst habe und man ja gar nicht so viel Geld zum Psychologen hätte tragen müssen – häufig sind diese Schlaumeier Vertreter der Werbeagentur. Der andere, ebenso häufige Vorwurf ist, dass die Ergebnisse mit Sicherheit „wissenschaftlich“ und „sehr psychologisch“ seien, aber eben auch entsprechend unverständlich und dass man damit „in der Praxis nichts anfangen kann“.
Eine Studie endet nicht mit dem letzten Wort des Gutachtens. Wissenschaft ist kein Selbstzweck, es geht also darum, ob der Auftraggeber die Studie versteht und mit den Ergebnissen in seinem Alltag tatsächlich etwas anfangen kann. Das, was wir herausgefunden haben, muss in die Lebenswirklichkeit des Auftraggebers oder Adressaten rückübersetzt werden.
Die morphologische (Markt-)Forschung ist folglich daran zu messen, ob es ihr gelingt, eine Sache so zu psychologisieren, dass der Leser oder Auftraggeber wirklich eine neue Sehweise an die Hand bekommt. Eine gute Studie kann eine echte Verstehens-Plattform sein für alles, was im Alltag des Marketings an Fragen auftaucht (z.B. im Hinblick auf eine Verpackungsgestaltung) – ohne den Psychologen erneut fragen zu müssen. Gelingt dies, dann findet eine echte Umbildung des Denkens und Handelns beim Auftraggeber statt.
Wenn sich ein solches Aha-Erlebnis einstellt, wenn man wie mit einem Schlag die Dinge in einem klareren psychologischen Licht sieht, dann sind methodisch meist die Drehbarkeiten des Seelischen am Werk: Liebgewonnene Alltagssichtweisen auf den Kopf stellen, die Dinge einmal vom anderen Ende aus betrachten – darum geht es meist.
Dazu noch einmal ein bereits vorgestelltes Beispiel: Alle Milchprodukte, insbesondere auch die Puddings, sind Regressionsprodukte. Sie ermöglichen eine Art gesteuerte temporäre ‚Rückbesinnung‘, die im Alltag neue Kraft geben kann, und sind damit späte Abkömmlinge der Muttermilch und der mit dieser verbundenen symbiotischen Beziehung. Mit Pudding soll die Welt wieder ganz süß und rund werden. Mit einem Löffel ist der ganze Mund erfüllt von herrlich cremiger Süße.
Pudding wird deshalb immer dann eingesetzt, wenn das Leben nicht richtig ’satt‘ macht und rund läuft. Man kriegt nicht, was man haben will. Der Alltag ist durch Entbehrungen, Missverstehen und Aufwand charakterisiert, sei es, dass man sich nicht genug geliebt fühlt oder die Mitmenschen als böse und feindlich gesinnt erlebt. Kurz: Die Gestalten des Alltags schließen sich nicht ganz. Es bleiben immer Reste, aber auch Lücken. Der Pudding kann diese ‚Risse‘ regelrecht kitten und anfüllen. Alle Probleme lösen sich in dem Augenblick auf der Zungenspitze in einer süßen cremigen Wohligkeit auf, die raue, harte und bittere Welt wird wieder weich und umschmeichelnd. Damit verbunden sind infantile Züge: nicht genug kriegen können, Pudding immer und sofort haben wollen – schlürfen, sabbern, glucksen und schmieren.
Einem erwachsenen Menschen ist das nicht ganz geheuer. Er verspürt den Sog dieser ‚einfachen Lösung‘, die dann jedoch mit dem erwachsenen Selbstbild auf Kollisionskurs gerät. Man muss sein Leben selbst in den Griff kriegen! Infolgedessen kommen Befürchtungen auf, zu stark in Regressivem zu versinken. Implizit schwingt beim Puddingkonsum stets die Angst mit, die Alltagsprobleme nicht richtig ‚erwachsen‘ bewältigt zu haben. Das ist die zentrale Grundlage zum Verständnis des Puddingmarktes. Insbesondere die besonders ‚mächtigen Puddings‘ wie etwa Mousse au Chocolat sind in Konsequenz dessen mit einer ‚Kultivierungs-Tarnkappe‘ versehen: Sie haben französische Namen und zieren sich mit Pokalbechern.
Sie geben sich weltmännisch, sind der Inbegriff der Patisserie-Kunst und haben tolle Markenbilder. In den entsprechenden Spots gastieren nur höchstkultivierte Menschen im Abendkleid oder im Anzug. Mit langstieligen Silberlöffeln geht man zum Pudding auf Distanz und hält sich die Verlockungen vom Leib.
Ein Trugschluss wäre es nun zu glauben, hierbei handele es sich eben um besonders kultivierte und erwachsene Produkte. Je größer die infantile Verlockung ist, desto kultivierter geben sich die Marken. Diese Marken kennt fast jeder Verbraucher (NESTLÉ u.a.). Sie gelten als Inbegriff des guten Geschmacks. Die Hersteller einfacher Puddingprodukte schauen nun mit Neid auf diese Marken und glauben, dass man ihnen nachstreben müsste, um für die Verbraucher attraktiver zu sein. Der gesamte Markt ist gesteuert von dem Vorurteil, dass ein solches Produkt umso besser ist, je kultivierter und genussvoller es daher kommt. Das Gegenteil ist aber der Fall. Die ‚Kultivierten‘ machen viel weniger Umsatz – trotz hoher Werbeaufwendungen -, da sie die einfachen infantilen Züge nicht genügend kommunizieren. Dadurch geht der ‚eigentliche Produktnutzen‘, das süße Sabbern und wohlige Schlabbern, das Zurückversetzen in eine Welt, die sich irgendwie runder, besser ‚ganzer‘ anfühlte, verloren.
Hier haben wir es mit drehbaren Verhältnissen zu tun (Drehgesetze): im Aller-Kultiviertesten steckt das Infantilste. Im Alltag haben wir das häufig so verdreht, dass nur noch eine Sehweise möglich ist. Wir setzen z.B. nur noch auf das Kultivierte. Der anderen Seite – im Sinne der Drehgesetze – wieder ihren Raum eröffnen, das kann eine ‚einfache Leitlinie‘ mit weitreichenden Konsequenzen sein, von der aus sich neue Lösungsansätze für Marketingfragen ergeben – so als ob ein ‚Knoten‘ zum Platzen gebracht wird. Hieraus lassen sich neue Produkte, bessere Positionierungen und effektivere Werbestrategien entwickeln, wenn es – in diesem Beispiel – gelingt, mit dem Dogma ‚Je kultivierter, desto besser‘ zu brechen. Produkte und Marken können durchaus kultiviert und stilisiert werden, das ‚Schlabbern und Sabbern‘ das ‚Saugen und Lutschen‘ ist bei Puddings aber immer mit zu berücksichtigen.
Damit sind die sechs Kennzeichen des Beschreibungsprozesses vorgestellt und hoffentlich in ihrer Bedeutung für die Praxis deutlich geworden. Das Ganze ließe sich sicherlich noch genauer ableiten, ausführlicher darstellen und besser mit der Theorie der psychologischen Morphologie in Austausch bringen. Das aber würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Auch in der konkreten wissenschaftlich fundierten Alltagsarbeit sollte man keinem falschen Perfektionszwang hinterherlaufen. Es ist sehr schwierig und in der Praxis oft gar nicht machbar, allen Kennzeichen gerecht zu werden. SALBER hat die Wissenschaft als eine Zwischenwelt charakterisiert. So ist es auch mit jeder konkreten Untersuchung. Sie überschreitet die Sehweise unseres Alltags und führt zu gesicherteren und weiterreichenden Erkenntnissen. Sie ist aber prinzipiell vorläufig, begrenzt und fragmentarisch. Maßstab für eine gute Beschreibung und eine gute Untersuchung ist nicht ihr Grad an Perfektheit. Psychologie soll bei der Bearbeitung der Probleme helfen, die zur Beauftragung des Psychologen geführt haben; andererseits soll sie uns aber auch ’nur‘ das gute Gefühl geben, eine Sache jetzt etwas besser zu verstehen. Wissenschaft ist ja immer auch eine Form von Selbstbehandlung im Alltag des Forschers.
1Darüber hinaus sind mit diesen Kennzeichen auch Qualitäts- oder ‚Einschätzungskriterien‘ für die tägliche Praxis gegeben. Die Kennzeichen gehen auf die Erfahrungen zurück, die ich in der Marktforschungspraxis mit eigenen Interviews und Beschreibungen sowie den Beschreibungen von Kollegen gemacht habe. Sie wurden von Dipl.-Psych. Judith BEHMER und mir entwickelt. Im Rheingold Institut sind sie eine Grundlage für die Einschätzung der Arbeit der freien Mitarbeiter.
2Zum grundsätzlichen Verhältnis von Kunst und Psychologie, insbesondere im Hinblick auf das Kunstanaloge der morphologischen Methodik vgl. z.B. SALBER 1977, SALBER 1990 und 1991 sowie RASCHER 1993.
3In der von zahlreichen Anglizismen durchwobenen Praxis von Marketing und Marktforschung hat es sich eingebürgert, im Hinblick auf die Entwicklung von Begrifflichkeiten und Wörtern von ‚worden‘ zu sprechen (vom Englischen ‚word‘); vgl. dazu die Erfordernis des Beschreibens „Logifizierung im Vertraut-Werden“ bei SALBER 1969a, 13f).
4Die Studien wurden von Dipl.-Psych. Katrin MAI durchgeführt.
5Dieser Zusammenhang zwischen der dinglichen Welt und dem Erleben und Verhalten wird sehr ausführlich von HEUBACH (1987) behandelt.
6Unter dem Gesichtspunkt, das morphologische Tiefeninterview als eine vom Interviewer und Probanden gemeinsam durchgeführte ‚Forschungsreise‘ aufzufassen, basiert die Funktion des Interviewers dabei in weiten Teilen auf einer ‚permanenten‘ Konsensverweigerung‘ bzw. einem ’systematischen Nicht-Verstehen‘ gegenüber dem, was der Proband berichtet – dies insbesondere im Hinblick auf die zahlreichen Vertrautheiten und Selbstverständlichkeiten, die der Interviewer von seinem eigenen Alltag her auf das Interview übertragen könnte; darüber hinaus jedoch gilt eine solche Konsensverweigerung gegenüber allen Phänomenen, die sich als ’normal‘ oder ’natürlich‘ geben (vgl. dazu SCHULTE 1999).
7Dieses Beispiel basiert auf einer Studie, die von Dipl.-Psych. Frank SZYMKOWIAK durchgeführt wurde.
8Die Untersuchung wurde von Dipl.-Psych. Thomas OPPEL durchgeführt.
9Zu Unterscheidung von ‚Klagen‘ und ‚Leiden‘ vgl. z.B. RASCHER 1988 und 1990.
10Analogie-Bildung meint, sich eine z.B. Marke im Interview als Mensch, als Tier, Film oder als Kultur etc. beschreiben zu lassen (weiteres s. SCHULTE 1999).
11Die Studien zu diesem Bereich wurden von Dipl.-Psych. Hans Joachim KAROPKA durchgeführt.
FREUD, A. (1936): Das Ich und die Abwehrmechanismen. Wien
GRÜNE, H., LÖNNEKER, J. (1993): Der ‚Mehrwert‘ von Tiefeninterviews in der Marktforschung. Eine Einführung mit Fallbeispielen. In: FITZEK, H., SCHULTE, A. (Hg) (1993): Wirklichkeit als Ereignis, Bd. 1. Bonn, (107- 118)
GRÜNEWALD, S./SZYMKOWIAK, F. (1997): Die Psychologie der Werbewirkung. planung & analyse 2/97
HEUBACH, F.W. (1987): Das be-dingte Leben. Zur Theorie der psychologischen Gegenständlichkeit der Dinge. München (2. Auflage, München 1996)
RASCHER, G. (1988): Wenn Bilder zum Psychologen müssen (Falldarstellung ‚Des Teufels rußiger Bruder‘). Zwischenschritte (7)2, 22-47
– (1990): Einschätzungskriterien in der Analytischen Intensivberatung. Zwischenschritte (9)1, (36- 47)
– (1993): Die kunstanaloge Behandlung von Neurosen. In: FITZEK, H., SCHULTE, A. (Hg) (1993): Wirklichkeit als Ereignis, Bd. 1. Bonn, 176-196
SALBER, W. (1959): Der Psychische Gegenstand. Bonn (6. erweiterte Auflage, Bonn 1988)
– (1969a): Strukturen der Verhaltens- und Erlebensbeschreibung. In: Enzyklopädie der geisteswissenschafltlichen Arbeitsmethoden, 7. Lieferung: Methoden der Psychologie und Pädagogik. München, 3-52
– (1969b): Wirkungseinheiten. Ratingen (2. Auflage, Köln 1981)
– (1972): Psychologie als Konstruktion und Neukonstruktion. In: SALBER, W. (Hg): Perspektiven Morphologischer Psychologie, Bd. 1. Ratingen, 81-93
– (1975): Konturen einer Wissenschaftstheorie der Psychologie. In: Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften, 258-272
– (1977): Kunst – Psychologie – Behandlung. Bonn (2. Auflage, Bonn 1986)
– (1980): Konstruktion psychologischer Behandlung. Bonn
– (1985): Methoden des Seelischen – Methoden der Psychologie. In: MEUSER, K. et al. (Hg) (1985): Wider die seelenlose Psychologie. Bericht über die Tagung „Studentischer Methodenkongress“ vom 21.-24. Juni 1984 an der Universität Köln. Köln, 35-52
– (1989): Der Alltag ist nicht grau. Bonn (2. Auflage, Bonn 1991)
– (1990): Kunst-Psychologie-Behandlung. Zwischenschritte (9)1
– (1991): Gestalt auf Reisen. Das System seelischer Prozesse. Bonn (2. Auflage, Bonn 1999)
– (1997): „Mich reizt Deine schöne Gestalt…“ Zwischenschritte (16)1, 46-57
SCHULTE, A. (1997): Anmerkungen zur Anfertigung von Erlebensprotokollen. kamm-Materialien. Köln
– (1999): Das morphologische Tiefeninterview in der Markt- und Medienwirkungsforschung. kamm-Materialien. Köln
ZIEMS, D. (1996): Thematische Frageperspektiven des tiefenpsychologischen Interviews in der Morphologischen Wirkungsforschung. Zwischenschritte (15)1, 74-87
Stephan Urlings absolvierte das Psychologie-Studium an der Universität zu Köln am Lehrstuhl von Prof. Wilhelm Salber, zudem hat er die Ausbildung zum analytischen Intensivberater durchlaufen.
Er ist bei rheingold Managing Partner sowie Head of International Research.
Er führte national und global zahlreiche tiefenpsychologische Marktforschungsstudien zu motivationalen Grundlagen und Verbrauchertrends, Kulturpsychologie, Produkt-Innovationen, Markenpositionierungen und werblicher Kommunikation durch. Außerdem untersucht er gesellschaftliche und politische Themen für NGOs, Verbände und Parteien. Intern ist er unter anderem für das Thema Weiterbildungen zuständig.
Für rheingold als Wirkungs- und Markforscher sind Beschreibungen das Kernstück des Analyseprozesses, das permanent optimiert und weiterentwickelt wird.
Stephan Urlings hat in diesem Bereich zahlreiche Weiterbildungen durchgeführt. Seine Expertise basiert nicht zuletzt auf Tausenden Interviews, die er selbst durchgeführt oder beobachtet hat.
rheingold zählt zu den renommiertesten Adressen der qualitativ-psychologischen Wirkungsforschung und ist eines der letzten unabhängigen Marktforschungsinstitute in Deutschland. Das Institut hat sich mit seinen rund 45 festen Mitarbeitern und 55 freien Auftragnehmern auf tiefenpsychologische Kultur-, Markt- und Medienforschung spezialisiert. Ihre Analysen erarbeiten die Kölner auf der Basis der morphologischen Markt- und Medienforschung, die an der Universität Köln entwickelt wurde. Jahr für Jahr liegen bei rheingold über 5.000 Frauen und Männer „auf der Couch“. Dabei analysieren die Wissenschaftler auch die unbewussten seelischen Einflussfaktoren und Sinnzusammenhänge, die das Handeln eines jeden Menschen mitbestimmen. Zu den Kunden des Instituts zählt neben öffentlichen Auftraggebern die Beletage der deutschen und europäischen Wirtschaft.