Redigierte Fassung der 8. Ringvorlesung „Was ist Morphologie?“ am 7. Juli 2021 an der BSP.
Der Diplom-Psychologe Stephan Grünewald aus Köln ist Gründer des Markt- und Medienforschungsinstituts rheingold. Grünewald ist ein gefragter Speaker und Bestseller-Autor, u.a. mit den Büchern „Deutschland auf der Couch“ (2006) und „Die erschöpfte Gesellschaft“ (2013) sowie „Wie tickt Deutschland“ (2019). (Mehr über Stephan Grünewald unter: https://stephangruenewald.de/)
E-Mail: gruenewald@rheingold-online.de
Armin Schulte: Also, nun darf ich Stephan Grünewald begrüßen. Er hat in Köln Psychologie studiert und sich währenddessen, wie sich das gehört, der Morphologie zugewandt. Im Anschluss an das Studium hat er zunächst mit Kollege Jens Lönneker ein ‚Institut für qualitative Markt- und Wirkungsanalysen‘ gegründet. Das Institut nannte sich zunächst einmal, wie man das in solchen Falle auch gern macht, „Grünewald & Lönneker“. Und die beiden sind dann bei wachsenden Fortschritten auch schon relativ zügig der sogenannten IFM Forschungsgruppe beigetreten, die maßgeblich zunächst Manfred Böhmer (‚IFM Mannheim‘) begründet wurde und der dann später auch Christoph B. Melchers mit dem ‚IFM Freiburg‘ beigetreten ist. Im Jahre 1998 wurde dann das IFM Köln zu rheingold umfirmiert.
Stephan Grünewald: Herzliche Grüße in die Runde nach Berlin, ich sitze hier in Köln, heute mal nicht im Home-Office, sondern im rheingold institut, weil da die Kamera besser ist.
Und ich wollte jetzt eine knappe Stunde aus der Praxis plaudern, Armin Schulte hat ja schon ein paar Eckdaten meiner Vita vorgestellt, ich beginne aber erstmal chronologisch.
Ich bin 1980 zum Studium nach Köln gekommen, nicht weil ich von der Morphologie gehört hatte, sondern aus Liebesdingen. Ich hatte während meines Zivildienstes eine Freundin, die in Kiel studierte und bin dann am Wochenende immer mit dem Auto von Mönchengladbach nach Kiel gefahren, um ein Treffen zu ermöglichen. Nach meinem Zivildienst entstand die Idee, wir suchen jetzt einen Ort, an dem wir gemeinsam studieren können. Die Wahl fiel auf Köln und dort habe ich dann gottseidank auch einen Studienplatz bekommen.
Die Liebe hatte sich dann nach zwei, drei Jahren verflüchtigt, aber der Glücksfall ‚Köln‘ und die Liebe zur Morphologie, die ist bis heute erhalten geblieben. In Köln waren damals ganz unterschiedliche Lehrstühle vertreten: es gab die Behavioristen und welche, die eher naturwissenschaftlich orientiert waren oder Kognitionspsychologie machen; aber es gab auch diese morphologische Ausrichtung und das war jetzt, im Hinblick auf meine spätere Berufsfindung als Marktforscher schon sehr, sehr wegweisend. Am Morphologischen Lehrstuhl von Willhelm Salber übten wir uns schon sehr früh in Tiefeninterviews und in Erlebensbeschreibungen ein. Das Studium war also sehr phänomennah, sehr anschaulich, und wir setzten uns mit konkreten Alltagskontexten auseinander. Wir haben Interviews und Beschreibungen zu Alltagsphänomenen wie etwa dem Mensaessen oder dem Joggen oder zum Spülen durchgeführt, und man war also immer in einer Thematik drin, die unmittelbar mit unseren Lebensvollzügen zusammenhing. Während des Studiums habe ich dann den Dr. Melchers, den viele von Ihnen sicherlich auch schätzen, kennengelernt, der war Dozent bei Professor Salber und bestach in seinen Seminaren immer durch eine sehr hemdsärmelige Praktikabilität. Er hat uns dafür begeistert, Morphologie nicht nur als philosophische oder alltags-anschauliche Disziplin zu sehen, sondern dies auch konkret in den Forschungsprojekten umzusetzen. Dr. Melchers ist der ‚geistige Vater‘ der Morphologischen Markt- und Medienpsychologie, weil er zwei Jahre vor Jens Lönneker und mir schon diese Idee umgesetzt hat, ein kleines morphologisches Forschungsinstitut zu gründen. Er hat dann in der von Armin Schulte herausgegebenen Zeitschrift Zwischenschritte, einen wegweisenden Aufsatz geschrieben über Produktwirkungseinheiten, der für mich eine Art ‚Erweckungs-Erlebnis‘ war. Er hat also das Konzept von Salber zu den ‚Wirkungseinheiten‘ auf Produkte, Marken und Märkte bezogen. Am Beispiel des Biertrinkens hat er die motivationalen Wirkungskräfte im Umgang mit Bier beschrieben und gezeigt, wie Werbung diese Wirkungskräfte aufgreifen oder verfehlen kann.
Bei der Lektüre hatte ich dieses elektrisierende Erlebnis ‚Boah, das ist spannend, da kriegt man ja ungeheuer viel raus‘, wenn man in die Psycho-Logik verschiedener Märkte eintritt: was passiert beim Biertrinken? Oder was passiert beim Parfümieren? Dann versteht man Märkte, das Verhalten von Verbrauchern oder Verbraucherinnen, ganz anders, als wenn man da immer nur quantitativ rangeht. Das heißt, diese Lektüre war für mich wirklich ein Erweckungserlebnis und dann traf es sich, dass ich Studienkollege Jens Lönneker näher kennenlernte und wir gemeinsam dann die Idee hatten: Wir setzen dieses Konzept in einem Forschungsinstitut um.
Ich beschreibe jetzt diese Anfänge ausführlicher, weil so einem Anfang wohnt ja immer ein gewisser ‚Zauber‘, aber auch eine ungeheure Unwägbarkeit inne. Und wir hatten dann in der Anfangsphase geschäftliche Kontakte über weitläufige Bekannte von mir knüpfen können, einmal zur Firma Reemtsma, die in Hamburg saß und Zigaretten produzierte und vor allem mit der Marke West versuchte, sich im Markt zu behaupten und dem Marktführer Marlboro Marktanteile abzuwerben.
Wir haben dann damals im Jahre 1987 bei Reemtsma angerufen und haben gesagt, dass wir ein junges Institut gegründet hatten und uns gern mal vorstellen würden, weil wir mit einer ganz anderen tiefenpsychologischen Konzeption forschen. Und dann haben wir nach einem halben Jahr Wartezeit auch einen Vorstellungstermin bekommen, sind nach Hamburg gefahren und haben überlegt – wir waren ja noch komplett neu im Markt und hatten überhaupt keine Forschungserfahrung – was erzählen wir denen jetzt?
1986 war dieses Reaktorunglück in Tschernobyl passiert, und es gab Veröffentlichungen von den Morphologen, die festgestellt haben, dass mit Tschernobyl so eine große Ohnmachts-Erfahrung verbunden war – ähnlich, wie wir das jetzt auch mit Corona erlebt haben. Auf einmal war eine Bedrohung da, die sinnlich nicht fassbar war, die wir nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken konnten, die als ‚Radioaktivität‘ durch die Gegend rauschte, und das war für die Menschen fast unaushaltbar. Ich hatte dann in einer Publikation meine Beobachtung beschrieben, dass kurz nach Tschernobyl auf einmal eine große Migrationsdebatte aufbrach. Man hetzte auf einmal gegen Asylsuchende, die aus der damaligen DDR, die die Grenzen gelockert hatten, zu uns ‚hineinströmten‘. Diese Migration wurde dabei jedoch wie eine Neuauflage von Tschernobyl auserzählt: „Da strömt aus dem Osten Fremdes in unser Land ein und das bedroht unser Erbgut.“
Mir war also aufgefallen, dass diese Asylantendebatte, die wir Ende der 80er Jahre hatten, eine seelische Wiederaufbereitung der Ohnmachts-Erfahrung von Tschernobyl war. Und mit dieser Hypothese sind wir dann zu Reemtsma gefahren und haben denen gesagt: Passt mal auf, wir glauben, dass ihr die nächsten seid, weil diese Ohnmachts-Erfahrung danach schreit, das zu vermenschlichen, die unsichtbare Gefahr zu vergegenständlichen. Denn Asylsuchende kann man im Gegensatz zu Radioaktivität sehen, man kann sie ausweisen oder Zäune errichten, um sie nicht ins Land gelangen zu lassen. Man fühlt sich also wehrhafter und handlungsfähiger, wenn man aus einer unsichtbaren radioaktiven Strahlung Migranten macht. Genauso kann das auch mit den Rauchern passieren, und wir gehen davon aus, dass jetzt in den nächsten Jahren eine doch sehr vehemente Anti-Rauch-Kampagne aufkommen wird, die nicht nur gesundheitlich motiviert ist, sondern auch durch die Ohnmachtserfahrung begründet ist. Denn auch Raucher, die giftigen Qualm ausstoßen, sind sichtbar und man kann gegen sie vorgehen.
Ich erzähle Ihnen das jetzt, weil Sie natürlich aus einer Zeit kommen, wo das Rauchen im öffentlichen Leben kaum noch eine Rolle spielt, das war aber in den 80er Jahren noch komplett anders, da war das ein soziales Event, da haben fast alle geraucht, da wurde in den Kinosälen geraucht, da wurde auf den Partys geraucht, die Kneipen waren komplett verraucht – also das Rauchen hatte einen ganz anderen Stellenwert, aber kulturpsychologisch setzte mit Tschernobyl dann die erste große Anti-Rauch-Kampagne ein.
Das war eine Hypothese, die wir der Reemtsma-Marktforschung erzählt haben und die waren dann verblüfft oder irritiert und wunderten sich, dass man so komische Theorien verbreiten kann.
Und dann sind auch wir etwas konsterniert da weggefahren in Hamburg, hatten erstmal keine direkte Zusage bekommen, aber Reemtsma meldete sich dann wenig später und sagte: Ja, es war ja doch nicht ganz uninteressant, was Ihr uns da erzählt habt, untersucht doch mal: Was sind die Erfolgsgeheimnisse der Marlboro?
Das war also der erste Auftrag, den wir damals als frisch gestartete Marktforscher bekommen haben, und dieser Auftrag hatte es in sich, weil Marlboro die damals erfolgreichste Marke war, die hatten ungefähr 30% Marktanteil und die Marke West von Reemtsma, die auch rot-weiße Packung hatte und die den Cowboy durch einen Trucker ersetzt hatte, die hatte jedoch nur 4 oder 5% Marktanteil. Das war vor allem verwunderlich, weil Reemtsma die Geheimrezeptur von Marlboro ausfindig gemacht hatte. Sie hatten mit der West also ein Produkt produziert, das den gleichen Tabak hatte, den genau gleichen Geschmack hatte, eine ähnliche Packung besaß und es war noch viel billiger als die Marlboro, aber es verkaufte sich nur marginal.
Und wir hatten jetzt die spannende Aufgabe zu untersuchen: Was macht Marlboro überhaupt so erfolgreich?
Ich erzähle das jetzt alles so ein bisschen ausführlicher, weil ich glaube das, was wir machen, lässt sich nur veranschaulichen anhand von Beispielfällen. Wir haben dann dreißig Verbraucher und Verbraucherinnen, sinnbildlich auf die Psychologen-Couch gelegt. Wir machen ja immer diese zweistündigen Tiefeninterviews, in denen wir ganz offen gefragt haben: was fällt Ihnen denn so zu Marlboro ein?
Die Raucherinnen und Raucher erzählten dann viel von diesen Werbebildern, vom Cowboy und von den Pferden und von den Rinderherden. Es wurde aber deutlich, dass das, was Marlboro abbildete, sehr stark mit dem Lebensalltag der Menschen zusammenhing. Es war nur eine abenteuerliche Verkleidung und es wurde eigentlich ein fast typischer Tageslauf geschildert: Man steht morgens auf, fährt zwar nicht dem Auto, aber reitet zur Arbeit, und abends kehrt man in den Kreis der Gemeinschaft zurück, schaut ins Lagerfeuer statt ins Fernsehen und blickt nochmals stolz auf das geleistete Tagwerk zurück.
Also unser Ergebnis bei der Marlboro-Analyse war, das heißt zwar ‚Freiheit und Abenteuer‘, aber was Marlboro zeigt, ist eigentlich unser Alltag, der nur sinnlich material aufgewertet wird. Vordergründig verheißt Marlboro zwar ‚Freiheit und Abenteuer‘, das hintergründige Versprechen der Marke ist jedoch komplett anders. Marlboro verspricht den Rauchern mehr Sicherheit und Gebundenheit, weil die Marlboro-Kommunikation immer wieder zeigte, dass jeder freiheitliche Impuls zugleich wieder kontrolliert oder eingefangen wird.
Denn die Werbung zeigte Wildpferde, die durchgingen, und der Cowboy, der ritt das Wildpferd zu, bis es brav und kontrolliert Spalier ritt. Oder die Werbung zeigte Rinderherden, die davonstoben und die von den Cowboys wieder zusammengetrieben wurden. Oder die Werbung zeigte endlose Weideflächen, die dann von den Cowboys umzäunt und umgattert wurden.
Und uns fiel eine Grundmechanik der Marke auf: Marlboro steht dafür, dass immer etwas, was freiheitlich ausbrechen will in feste Bahnen gebracht wird.
Also das Wild wird hier zugeritten, die Rinderherden werden in die Koppel getrieben, das Land wird vergattert. Und dann fiel uns auf: Diese Grundbotschaft, dass Freiheitliches wieder eingefangen wird, taucht auch auf der Packung wieder auf. Wenn Sie sich die Marlboro-Packung ansehen, da gibt es zwei Buchstaben, ‚l‘ und ‚b‘, die ausbrechen. Und diese Ausbruchssymbolik wird aber gehalten durch ein Marlboro-Dach, was sozusagen den Ausbruch auffängt. Und das wiederum hat ganz viel mit der Psychologie des Rauchens zu tun. Also wir rauchen in Momenten, in denen wir eine ungeheure Unruhe spüren, in denen wir nicht mehr an uns halten können, und die Zigarette ist, das ist zumindest eine Funktion, eine kompensatorische Fluchtmöglichkeit. Ich bündele meine Unruhe und stabilisiere sie durch den Rhythmus des Ein- und Ausatmens und schaffe so eine kontrollierte Revolte.
Sie kennen vielleicht das Lied von Udo Jürgens Ich war noch niemals in New York, da geht es ja auch um Freiheit, um Abenteuer, um Ausbruch, da geht jemand abends Zigaretten kaufen und will so aus seiner Bohnerwachs-Idylle fliehen und realisiert, dass er noch niemals in New York oder in San Francisco war, aber er kommt dann nur bis zum Zigarettenautomaten, zieht sich eine Packung und kehrt dann wieder zurück nach Hause und guckt dann die Quizshow Dalli Dalli, die damals Donnerstagsabend gesendet wurde.
Das ist so ein bisschen das Naturell des Rauchens, die Ausbrüche werden nicht ausgelebt, sondern die werden gehandhabt, die werden kontrolliert, die verrauchen buchstäblich. Und Marlboro war dadurch eine Marke, die uns immer wieder tröstend sagt: Das, was du so an Lebenskontrolle und an Konstanz an den Tag legst und bringst, darauf kannst Du stolz sein, das ist sinnlich und das ist in irgendeiner Art und Weise auch abenteuerlich.
Und das, was wir den Kunden damals erzählen konnten, war: Marlboro ist eine Marke, die sehr stark die Psychologie des Rauchens in ihrer Packungssymbolik, in ihrer Kommunikation aufgreift, und die den Menschen ein fast konservatives Versprechen macht, nach dem Motto ‚Schuster bleib‘ bei deinen Leisten‘.
Und dann haben wir auch festgestellt, dass die Zigarettenpackung, die war damals für die Raucher noch viel bedeutsamer, eine Art ‚Persönlichkeitsausweis‘ ist. Das heißt die Menschen legten eine Packung auf den Tisch und zeigten: Aha, ich bin jemand, der fest im Sattel sitzt und keine großen Experimente macht; oder der Camel-Raucher, der bringt zum Ausdruck: Ich bin jemand, der noch auf der Suche ist nach dem Weg, der sich lohnt, der wie das Kamel etwas unentschlossen in der Gegend rumsteht, weil er hofft, dass irgendwann die große Sinngebung kommt. Das heißt wir konnten sagen: Rauchen ist nicht nur eine Geschmackssache, sondern Rauchen rüstet die Menschen mit vorzeigbaren Lebensbildern aus und im weiteren Beratungsprozess haben wir die Marke West dann zu einer Marke weiterentwickelt, die ein Lebensmodell postulierte, dass man als ‚Grenzgängertum‘ bezeichnen kann. Sehr wahrscheinlich werden Sie die erfolgreiche „Test the West“-Kampagne nicht mehr kennen: Da wurden immer zwei Personen auf einem Plakat abgebildet, ein Ottonormalbürger und eine Person, die komplett schräg und abgedreht war.
Also man sah auf einen Plakat zum Beispiel einen Biedermeier und einen Exhibitionisten oder man sah eine ganz biedere, normale Frau und eine alte Frau, die komplett schräg, wie eine moderne Hexe aussah, Damit ging eine Grundbotschaft für die West-Raucher einher: Liebe West-Raucher, ihr seid Grenzgänger, ihr habt eine stinknormale Seite, aber als West-Raucher zeigt ihr auch, dass ihr mal eine temporäre Verrücktheit zulassen könnt, dass ihr auch schräge Seiten habt, aber ihr kriegt sozusagen diese schräge Seite immer in diesen Normalitätsbereich integriert.
Und diese Kampagne führte dann dazu, dass die West zur zweit-erfolgreichsten Marke wurde. Packung und Geschmack sind gleichgeblieben, nur die Kommunikation hatte sich geändert und dadurch hatte sich auch der Ausweischarakter der Packung geändert. Und da merkt man natürlich die Kraft der Psychologie, dass man letztendlich Sinnbilder raucht und mich hat es als jungen Marktforscher dann verblüfft, dass die Menschen das identische Produkt jetzt komplett anders beschrieben.
Das heißt bei Marlboro wurde immer gesagt: Ja, das schmeckt sehr urwüchsig und irgendwie so natürlich bodenständig, und bei der West wurde immer gesagt: das schmeckt so nach rohem Asphalt, das hat so eine teerige Note, weil die Westkampagne immer auf irgendwelchen Straßen stattfand.
Ich habe das jetzt ein bisschen ausführlicher erzählt, die Identifikation des Erfolgsgeheimnis führte dazu, dass Reemtsma uns dann auch weiterbeauftragt hat. Wir haben uns sehr schnell in anderen Bereichen – Ernährung, Versicherungen, Bekleidung – als Forschungsinstitut etabliert und sind dann als autonomes Institut in die ‚IFM Forschungsgruppe‘ eingestiegen, haben irgendwann aber gemerkt, dass diese Forschungsgruppe für uns eher ein Bremsschuh war oder immer zu Verwechslungen führte, weil dieses technokratische Kürzel IFM ‚Institut für Morphologie‘ oder ‚Marktforschung‘ ständig zu Verwechslungen führte. Ende der 90er Jahre, 1998, haben wir uns dann den bis heute geltenden Namen rheingold gegeben.
Und rheingold hatte zur Zeit der Umfirmierung ca. vierzig Mitarbeiter und 60-70 freie Mitarbeiter, mittlerweile sind wir so 50 feste und auch so ca. 70 freie Mitarbeiter.
Ich will nun ganz kurz unsere Arbeitsbereiche clustern: Wir forschen sehr viel in der Frage ‚Was sind so große Entwicklungen, große gesellschaftliche Trends?‘ Zweites Feld: wie funktionieren bestimmte Alltagskontexte oder Märkte. Jeder Markt hat seine eigene Logik und seine Eigenart. Das Bier-Trinken ist komplett anders als das Wein-Trinken, und das Cola-Trinken ist wieder komplett anders als das Saft-Trinken. Das heißt, wir versuchen immer in die Psychodynamik der Märkte einzudringen, arbeiten dabei häufig mit dem Ihnen vertrauten Sechseck, was uns dabei hilft sozusagen die inneren Widersprüche von Märkten zu differenzieren.
Seit ca. 25 Jahren, ich mache mal direkt das nächste Beispiel auf, arbeiten wir für den ‚grünen Frosch‘ und die erste Studie, die wir für Frosch gemacht haben, da ging es auch so um eine ganz banale Alltagsfrage: Was passiert eigentlich beim Putzen, warum putzen die Menschen?
Und das überraschende Ergebnis war, dass die Menschen häufig gar nicht putzen, wenn es die Wohnung nötig hat, sondern wenn sie selbst das Gefühl haben, es nötig zu haben. Sie wollen dann durch das Putzen ‚reinen Tisch‘ machen, sie wollen klare Verhältnisse herstellen.
Das heißt, Putzen stellt in vielen Alltagskontexten ein Verlagerungsangebot dar: Es gelingt mir nicht, in der Beziehung klare Verhältnisse herzustellen, deswegen greife ich zum Lappen. Ich merke, im Arbeitsbereich kriege ich keinen ‚reinen Tisch‘ hin im Gespräch mit meinen Kollegen und schwinge dann den Lappen. Ein weiteres Ergebnis war, dass das Putzerlebnis, in das ich dann reingerate, für viele Menschen fast wichtiger ist als das Putzergebnis. Das heißt, ‚Putzen‘ ist eine Handlungseinheit, die uns über eine halbe Stunde oder eine Stunde in eine bestimmte dramaturgische Welt reinbringt, die ihren eigenen Sinn und ihre eigene Sinnlichkeit hat.
Und die Marken, das war jetzt eine weitere wichtige Erkenntnis, die liefern den Menschen nicht nur ein Sauberkeitsversprechen, sondern die liefern den Menschen eine Putzdramaturgie. Marken sind meist der Knigge des Alltags, Marken sagen uns, wie wir putzen, wie wir Bier trinken, wie wir Wein trinken, wie wir uns duschen sollen.
Ich mach das jetzt mal am Putzbeispiel fest: Der General ist eine Marke, die sagt uns, ihr müsst generalstabsmäßig zu Werke gehen. Wenn man mit dem ‚General‘ putzt, ist Schlendrian nicht erlaubt, sondern in privaten Bodenoffensiven sollen feindliche Schmutzansammlungen zur Strecke gebracht werden und dadurch verdient ihr Euch die Sporen und könnt auch stolz sein.
Kleiner Einschub: Wir haben während der Coronakrise erfahren, auch von unseren Kunden, aber auch durch Studien, die wir gemacht haben, dass der Frühjahrsputz in diesem und im letzten Jahr martialischer ausgefallen ist, als in den Jahren zuvor, weil mit Corona auch wieder diese Ohnmachts-Erfahrung da war ‚Wir haben eine Bedrohung, die wir nicht wahrnehmen können‘ und viele Menschen haben diese Ohnmachts-Erfahrung kompensieren können, indem sie dann zum Lappen gegriffen haben, einen wüsten Frühjahrsputz veranstaltet haben und so die Gewissheit hatten: Aha, zumindest mit den sichtbaren Feinden kommen wir klar.
Die Marke General stand also dafür, dass wir wirklich daheim einen häuslichen Kleinkrieg zelebrieren, dann gibt es eine Marke wie Meister Proper, die sagt: Lieber Verbraucher, so ganz generalstabsmäßig muss es beim Putzen gar nicht ablaufen, ein properes Blendwerk genügt auch. Da spielt die Gallionsfigur des ‚Meister Propers‘ eine ganz große Rolle, weil er durch sein Augenzwinkern andeutet: ‚Lieber Verbraucher, wir verstehen uns: außen hui, aber wie es in der Ecke aussieht, ist egal.‘
Der Meister Proper hat auch als Figur diese Doppelbödigkeit. Er hat einerseits diese glattpolierte Glatze, das ist ein Glanzversprechen, andererseits hat er so den dezenten Charme eines Schiffschaukel-Anhalters durch sein Muscle-Shirt, seinen Ohrring, also eine leicht schwiemelige Seite. Und das ist markenpsychologisch wieder wichtig, weil das sagt: vordergründig akkurat, aber jeder hat so seine kruden Ecken.
Und jetzt kam ‚der‘ Frosch ins Spiel, Frosch ist also eine Marke, die ein wirklich fantastisches, entschiedenes Nachhaltigkeitskonzept an den Tag legt. Also Frosch oder besser gesagt, die Firma Werner & Mertz hat ein klimaneutrales Verwaltungsgebäude.
Der Inhaber Reinhard Schneider kämpft gegen die anderen großen ‚Henkels‘ dieser Welt, die immer noch Plastik in den Packungen verwenden oder die Mikroplastik in den Produkten haben. Er ist wirklich ein Überzeugungstäter und wir haben jetzt die Marke Frosch untersucht und festgestellt, dass sie tatsächlich als eine nachhaltige, als eine grün-angehauchte Marke erlebt wird. Aber der Erfolg ‚des Froschs‘ hängt noch mit einer ganz anderen psychologischen Dimension zusammen, denn ‚der Frosch‘ entdramatisiert das Putzen. Er macht den Menschen das Angebot, dass man beim Putzen auch wirklich mal fünf gerade lassen kann. Dabei spielt wieder der ‚grüne Frosch‘ als Wappentier eine große Rolle, weil diese grüne Kröte suggeriert: meine Heimat ist der Tümpel, eine gewisse ‚Modrigkeit‘ gehört zum natürlichen Umfeld dazu, Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, Du kannst es auch ruhig modern lassen auch im eigenen Bereich und es reicht ja, dass Du mit Frosch sozusagen die Umwelt sauber hältst. Eine saubere Umwelt ist doch letztlich noch wichtiger als eine saubere Wohnung.
Das heißt das Erfolgserlebnis von Frosch besteht darin, dass ein Nachhaltigkeitsversprechen gekoppelt wird mit einer seelischen Entlastungsfunktion: Ich habe mit Frosch die Lizenz zum faul sein, ich darf es auch ruhig mal ein bisschen ruhiger angehen lassen, brauche kein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich tu ja was für die Umwelt. Das ist ein Grundmoment, das wir und jetzt nach mehr als dreißig Jahren Forschungsarbeit immer wieder feststellen: Nachhaltigkeit funktioniert nur, wenn man das, was man für die Natur tut, verbindet mit einem alltagsrelevanten seelischen Mehrwert.
Denken Sie etwa an die Bio-Produkte, die in den späten 90er Jahren auf einmal auf die Erfolgsspur kamen. Das hing mit einem Bedeutungswandel bei den Bio-Produkten zusammen, weil sich die Bio-Philosophie verändert hat. Bio stand lange Zeit für Produkte, die klein und mickrig sind. Denken Sie etwa an die mitleiderregend aussehende Bio-Möhre, die so ein bisschen verschrumpelt war und irgendwie so ein bisschen in den Seilen hing. Sie repräsentierte eine Art verschrumpelter Vernunfts-Askese. Und irgendwann hat man gesagt: Ja, Bio, das ist nicht Askese, sondern Bio ist frugal. Die Bio-Möhre ist, weil sie natürlich aufwächst, noch rosiger, die ist noch vitaler und die gibt noch mehr sinnlichen Genuss und macht uns noch gesünder. Und in dem Moment waren die Menschen auch bereit mehr für die Bio-Möhre zu bezahlen.
Ähnlich ist es mit dem Bio-Fleisch. Wenn wir Fleisch essen, dann sind wir immer noch von einer fast animistischen Vorstellung beseelt, dass so die Kraft des toten Tieres in uns übergeht. Und wenn wir Rindfleisch essen, dann verleiben wir uns diese stoische Wiederkäuer-Kraft des Rindes ein, das bei Wind und Wetter auf der Weide steht und dem Wetter trotzt.
Oder wenn wir Geflügelfleisch essen, dann geht diese flatterhafte Agilität der Hühner in uns über, die so durch den Stall flattern, dann bekommen wir eine ganz andere Dynamik in unser Leben. Oder wenn wir Schweinefleisch essen, dann geraten wir in eine suhlende Wohlgefälligkeit, die man sich dann sonntags auch mal gönnen kann.
Also ich glaube es ist als Morphologischer Marktforscher immer ganz, ganz wichtig, Qualitäten herauszustellen. Und ich bleibe mal bei unserem Frosch-Beispiel, wie gesagt seit 25 Jahren begleiten wir ‚den‘ Frosch jetzt auch bei Transformationsprozessen, und mittlerweile hat ‚der‘ Frosch auch zwei Markenawards bekommen, wo wir auch mit Pate gestanden haben.
Den ersten Markenaward haben die vor gut zehn Jahren bekommen, da haben sie Stäbchen entwickelt, die in so einen Duft-Flacon gestellt werden, und diesen Duft-Flacon drapiert man dann im Badezimmer oder im Gästeklo oder irgendwo im Arbeitszimmer, und das Versprechen ist: Damit reinigt sich der Raum buchstäblich von selbst. Ich brauche jetzt keinen Lappen mehr in die Hand zu nehmen. Das bringt dieses ursprüngliche Frosch-Versprechen ‚eine Lizenz zum faul sein‘ auf den Punkt, weil ich durch diese Duft-Flacons mit diesen Stäbchen auf einmal selbst-reinigende Räume habe.
Das hat sich dann sehr bewährt, und viele Menschen haben das auch als weitere Entlastung angenommen. Dann haben wir ‚den‘ Frosch vor ein paar Jahren in den Wäschemarkt begleitet. Und auch da, ich mache das wieder an einem Beispiel fest, an dem deutlich wird, dass wir die Wirklichkeit nochmal umkategorisieren und so auf ganz andere und tragfähigere Erklärungsmuster kommen:
Also auch beim Wäschewaschen sind weiße Wäsche und Leistungskraft ganz wichtig. In den Tiefeninterviews zum Thema ‚Waschen‘ haben wir dann festgestellt, dass das Waschen sehr stark mit der Psychologie des Flecks zusammenhängt.
Das heißt, wenn wir Wäsche tragen, dann sind wir mit dieser Wäsche im Alltag unterwegs, und es entstehen immer wieder Verunreinigungen. Und diese Verunreinigungen, diese Flecken, sind aber, psychologisch betrachtet, auch Ausdruck einer inneren Verfehlung. Man kann sagen eines ‚Sündenfalls‘. Der Schweißfleck bringt zum Ausdruck: Ich war zu aggressiv oder zu ungestüm. Der Knutschfleck bringt zum Ausdruck: Ich war zu geil. Der Fettfleck bringt zum Ausdruck: Ich war zu gierig. Das heißt die Flecken sind nicht nur physikalischer Schmutzansammlungen, sondern sie sagen auch etwas über unseren Seelenhaushalt aus. Und hier haben wir festgestellt: ja, es ist ganz wichtig, dass die Waschmittel nicht nur ein Versprechen liefern, dass sie den Fleck beseitigen, sondern dass sie auch die dahinterliegende Verfehlung eliminieren.
Der ‚Persilschein‘, das kennen Sie vielleicht, das war ein Begriff, der in den 50er Jahren aufkam, als viele Nazis versucht haben, sich von dieser Menschheitsschuld reinzuwaschen, das wurde dann auch schon in diese Persil-Logik gebracht. Also es geht beim Waschmittel darum nicht nur sauber, sondern im bildlichen Sinne, oder im Läuterungssinne ‚rein‘ zu werden.
Wenn man diesen Grundgedanken im Hinterkopf hat, dann versteht man, dass wir jetzt verschiedene Waschmittelkategorien haben. Also wir haben die Waschmittel-Gottheiten, Persil und Ariel, Persil ist ein bisschen katholischer, Ariel ist ein bisschen protestantischer, weil die immer noch diese Werkheiligkeit zum Ausdruck brachten: Man muss selbst noch so ein bisschen mitwirken. Früher hatte Ariel eine Werbe-Ikone, das war die Clementine, eine ältere Dame so ende 50, die, bevor die Wäsche in die Waschmaschine kam, noch so ein bisschen vorgeschrubbt hat.
Also es gibt diese großen Gottheiten, die auch den kompletten Ablass versprechen, es gibt Halbgötter, wie Omo oder Dash, die sagen: Ja, so ein bisschen Reinheit bringen wir auch, und es gibt so profane Marken, wie Spee, die sagen: Ok, den Fleck machen wir weg, aber wir lassen dich sozusagen auch so ein bisschen in der Schuld sitzen, dafür machst du auch keine Schulden, weil wir was billiger sind.
Jetzt war natürlich die Frage: welche Rolle kann ‚der‘ Frosch dabei übernehmen? Und wir haben festgestellt, dass Frosch dafür steht, dass man wieder ein entspanntes Verhältnis zu sich selbst gewinnt – eine andere Fleckentoleranz. Dass man das Schwitzen, das Fetten, das Knutschen nicht als etwas sieht, was fies und verkehrt ist, sondern was zu einem gesunden Leben dazugehört. Also auch hier wieder der Entlastungsversuch: Wir schonen nicht nur die Umwelt, sondern wir schonen auch den Menschen. Denn nur, wenn wir den Menschen mitbewegen, kommen wir weiter.
Ich will jetzt nicht nur spannende Fälle und Erfolgsgeschichten präsentieren, sondern auch mal einen Fall, wo wir gemerkt haben, das ging gründlich nach hinten los. Und zwar haben wir eine Studie gemacht für Rittersport. Sie kennen das „quadratisch, praktisch, gut“. Und damals gab es einen Geschäftsführer bei Rittersport, der hatte uns kennengelernt und fand das immer hochspannend, was wir herausgearbeitet haben, auch so dieses überraschende Momentum, und der sagte: OK, ich möchte jetzt, dass rheingold sich mit der Psychologie des Schokoladenverzehrs auseinandersetzt und analysiert: Wie ist überhaupt die Marke Rittersport positioniert?
Ein Grundverwandlungsmomentum im Umgang mit Schokolade haben wir „Verschmelzung“ genannt. Also wenn ich Schokolade esse, das löst sie sich langsam im Mund auf, und ich komme in eine orale Gestimmtheit, wo es so die Differenz zwischen mir und der Welt für einen kurzen Moment verschmilzt. Also die Schokolade löst sich auf, aber in diesem Verschmelzungsprozess lösen sich auch viele Widerstände und Sorgen auf. Das macht die Schokolade zu einem situativen Therapeutikum.
Und es gibt jetzt Marken wie Milka, die sehr mit diesem Verschmelzungsmomentum werben, und andere Marken, wie Rittersport, die jetzt das eher verdecken oder in einen ganz anderen Kontext rücken. Rittersport bezieht die Anti-Verschmelzungsposition: Der Ritter, der hat eine stabile Rüstung, und der Sport sorgt auch dafür, dass man aktiv bleibt, und die quadratische Form ist auch ein Statement gegen die Verschmelzung, denn Verschmelzungserlebnisse werden seelisch eher als rund erlebt. Aber das Eckige mit seinen Kanten ist natürlich gegen die Verschmelzung gerichtet.
Das heißt Rittersport ist eine Marke, die Menschen eine Verschmelzung erlaubt, ohne, dass sie sich zu der Verschmelzung bekennen müssen, sondern die gleichzeitig diesen Verschmelzungswunsch wie hinter einer Rüstung versteckt.
Wir haben dann die quadratischen Aktivpositionierung von Ritter im Vergleich mit den Positionierungen anderer Marken vorgestellt, und der Geschäftsführer sagte uns dann, dass ihm das strategisch weiterhilft. Dann wurde aber ein paar Wochen später der Geschäftsführer gefeuert, und wir haben uns dann gefragt, woran liegt das, und dann habe ich mit ihm telefoniert, und er hat gesagt: Ja, ich habe dem Herrn Ritter, dem Inhaber von Rittersport, ihre Studie gezeigt, und daraufhin hat er mich entsetzt gefragt, wie ich sowas in Auftrag geben könnte.
Und dann wurden wir von Herrn Ritter sozusagen ‚nach Canossa‘ gebeten, eine Kollegin von mir und ich, wir sollten Abbitte leisten und sollten vor dem Herrn Ritter bekunden, dass Schokolade überhaupt nichts mit Verschmelzung zu tun habe.
Witzigerweise lief damals dieser Kinofilm Chocolat, wo es auch um diese Verschmelzungs-Abwehr geht. Der Film spielt in den 50er Jahren in einem französischen, sehr biederen Dorf, in dem eine junge Frau einen Schokoladen-Laden aufmacht und das ganze Dorf mit den Verschmelzungsangeboten sozusagen verzaubert. Und ein wackerer Bürgermeister, der ist wirklich auch ein Kämpfer gegen die Verschmelzung, der will Sitte und Anstand hochhalten, der zieht dann zu Felde gegen diesen Schokoladen-Laden und will, dass der aus dem Dorf verschwindet, und in irgendeiner Nacht und Nebelaktion bricht er in den Laden ein und will die ganzen Schokoladen-Auslagen verwüsten. Dabei probiert er die Schokolade und kommt dann selbst in eine Art Verschmelzungstaumel. Am nächsten Morgen findet man ihn ganz verschmiert, wie berauscht in den Auslagen liegend.
Das haben wir dem Herrn Ritter auch erzählt, in der Hoffnung, dass wir ihn sozusagen auch davon überzeugen können, dass Schokolade etwas mit Verschmelzung zu tun hat. Das führte aber wiederum dazu, dass das die erste und letzte Begegnung war und wir auch heute 15 oder noch mehr Jahre danach nie mehr irgendeinen Fuß bei Rittersport in die Tür setzen konnten.
Das haben wir psychologisch nicht bedacht, also die Marke hat sich unbewusst immer als Ritter gegen die Verschmelzung gebärdet. Sie hat immer wieder dafür gekämpft, Schokolade nur in einem aktiven Modus zu bringen. Sie stritten für die Quadratur des Kreises und haben all das, was in der Schokolade an Verführung, an Zauber und Sinnlichkeit drin ist, getarnt. Und jetzt kommen wir und behaupten, ihr verkauft auch eine Form der Verschmelzung, ihr tarnt es nur perfide und bietet sozusagen denjenigen ein Schlupfloch, die das mit einer aktiven Pose ummanteln wollen.
Wichtig bei unserer Arbeit im rheingold-Institut ist der Teamgedanke, gemeinsam Sinn zu entdecken. Es gibt meistens einen Projektleiter und im Idealfall dann noch einen, der das Projekt im Hintergrund supervidiert, dann haben wir ja meistens ein Team von fünf sechs freien Psychologen, die die Tiefenexplorationen durchführen, wir treffen uns regelmäßig, also während eines Projekts zweimal einen halben Tag, um zu verstehen: Was da gerade passiert?
Also ich komme jetzt gerade aus einer Analyse, die wir für die „Identity-Foundation“ durchführen: eine Untersuchung über die Zukunftsvorstellungen der Deutschen. Und da tauchen wir natürlich auch viel in individuelle Fallgeschichten ein, merken, dass jetzt nach Corona der Zukunftshorizont der meisten Menschen sehr zusammengeschrumpft ist; man sucht jetzt Halt in den unmittelbaren Familienbezügen, in den engeren Freundeskreisen, also die, die nicht gleichgesinnt sind, die werden erstmal ausgegrenzt. Wir sind also im Moment eher auf so einem Stabilisierungskurs und viele ziehen sich in ihr privates Schneckenhaus zurück, um wieder festen Grund unter die Füße zu bekommen nach 1,5 Jahren Corona.
Aber was wichtig ist, ist, dass wir in diesen Analysesitzungen auch immer gemeinsam eindringen. Also die Psychologen erzählen von den Interviews, und wir versuchen das gemeinsam einzuordnen und da Versionen und durchgängige Züge herauszuheben. Und genau diese gemeinsame Analyse und Verdichtungsarbeit führt dann dazu, dass wir am Ende bestimmte Sinn-Bilder haben. Uns zeichnet aus, dass wir, und das wird uns von vielen Kunden zurückgespiegelt, dass wir die Wirklichkeiten mal anders aufrollen. Dass wir mit unvertrauten Kategorien konfrontieren, dass wir die Kunden auch wieder in die Widersprüche und in die Paradoxien des Alltags reinziehen, dass wir idealerweise ‚Aha-Effekte‘ generieren. Und wir machen ja dann meistens auch eine strategische Begleitung und versuchen das, was wir verstanden haben, dann in Konzepte oder Markenentwicklungen umzusetzen, die den Markt auch einen Schritt weiterbringen.
Also ich mache das nochmal an dem Paradebeispiel Frosch fest, die ja nicht nur im Waschmittelbereich ungeheuer erfolgreich sind, wir haben die auch in den Markt der Duschgels begleitet. Auch da ist psychologisch ganz interessant, wenn wir uns mit der Psychologie des Duschens auseinandersetzen, denn dann merken wir: Duschen ist einerseits Reinigung, aber Duschen ist andererseits auch ein morgendlicher ‚Rebirthing‘-Prozess, also die meisten Menschen taumeln schlaftrunken unter die Dusche, sie sind ein diffuses Etwas, und durch den Strahl und durch die Berührung konturiert es sich erst in ‚die‘ Wirklichkeit und ‚die‘ Körperlichkeit. Also man wäscht seine Achseln und merkt: Aha, hier ist ja eine Aushöhlung und da ist ja noch ein Fuß und so weiter und so fort. Und wenn man dann kalt duscht und sich abrubbelt, dann stählt man sozusagen diese wiedergefundene Körperlichkeit.
Und beim Duschen ist es immer eine ganz wichtige Frage: Wann schlägt Reinlichkeit in Autoerotik um? Wenn Menschen Duschwerbung sehen, gucken sie auch immer darauf: Aha, wie geht der mit sich um, wie liebevoll, wie drakonisch? Wie lange darf man sich an bestimmten Stellen berühren und in welcher Intensität und so weiter und so fort.
Und die ganzen Duschmarken geben zumindest sinnbildlich darauf eine Antwort. Und jetzt hatte ‚der‘ Frosch auch vor, sich in diesem Markt zu positionieren, auch wieder mit dem Angebot ohne Mikroplastik, mit abbaubaren Verpackungen, also ein komplett neuer Nachhaltigkeitsstandard. Aber die ersten Prototypen, die wir dann auch psychologisch analysiert hatten, die haben die Menschen abgeschreckt.
Was war passiert? Die hatten auf der Packung ganz groß ‚den‘ grünen Frosch drauf und wenn die Menschen die Packung in der Dusche stehen hatten, hatten sie das Gefühl, dieser Frosch guckt ihnen wie ein Sittenwächter dabei zu, wie sie sich sozusagen selbst berühren. Das war viel zu viel Kontrolle. Wir haben empfohlen, mehr Natur-Ingredienzien abzubilden und eine entspannte schwingende Packungslogik zu evozieren, bei er ‚der‘ Frosch nur ganz klein und unscheinbar zu sehen ist.
Und jetzt ganz aktuell geht ‚der‘ Forsch in einer nächsten Evolutionsstufe in den Haarpflegebereich. Der Umgang mit Haaren ist für die Menschen auch sehr, sehr schwierig, weil die Haare ihren ‚eigenen Kopf‘ haben. Die Haare sind selbst auch sehr lebendig, und sie konfrontieren uns mit einer Wirklichkeit, die nicht so schön frisiert ist, wie wir sie eigentlich frisieren wollten.
Also wir bemerken, immer irgendwas sitzt schief, irgendwas ist zu strohig oder zu fettig, irgendwas ist zu glatt oder zu widerborstig, das heißt der Kampf mit den Haaren ist ein endloses Geschäft und führt nur temporär zu einem Zustand der – Wortspiel – der Ha(a)rmonie.
Und auch hier ist jetzt das Versprechen von Frosch, das ist nicht nur eine Selbstverwöhnung, sondern auch eine Selbstversöhnung möglich ist. Also Frosch fungiert auch hier als Anwalt eines menschlichen Maßes: Lasst uns akzeptieren, dass es auch bei den Haaren nicht die perfekte Ausstattung gibt, das Unperfekte, das Lebendige gehört auch dazu. Und natürlich sollte man die Haare pflegen, aber man muss das Haar nicht kontrollieren oder kaschieren, wie andere Marken es machen.
Ich habe noch einen letzten Punkt: Wirkungen von rheingold über die Marktforschung hinaus. Wir haben uns auch über die konkreten Studien hinaus immer damit beschäftigt, was ist in der Gesellschaft los ist, welche Entwicklungen beobachten wir? Wenn wir ein zweistündiges Tiefeninterview machen, dann erfahren wir ja nicht nur etwas über das Haarewaschen, das Putzen oder über das Duschen, sondern das ist ja immer eingebettet in einen erlebten Alltag mit seinen Belastungen und Träumen. Das heißt wir generieren ungeheuer viel Material, was uns hilft die Welt ‚da draußen‘ und diese komischen Wendungen, die wir erleben, besser zu verstehen.
Ich habe versucht einen Teil dieser Erkenntnisse in meinen Gesellschaftsbüchern, ob das jetzt Die erschöpfte Gesellschaft oder Deutschland auf der Couch oder Wie tickt Deutschland? war, zu veranschaulichen, das hat aber auch dazu geführt, dass wir mittlerweile in vielen Bereichen jetzt nicht nur medial, sondern auch in politischen Kontexten gefragt werden.
Ich haben Ihnen ja von unserer Anfangszeit erzählt, wo wir dann wochenlang nichts von Reemtsma gehört hatten und nicht wussten, ob der Kunde sich jemals nochmals meldet. Wir haben uns im ersten Jahr 700 DM im Monat ausgezahlt, weil Forschung, gerade psychologische Forschung, so ungeheuer arbeitsaufwendig ist. Reich wird man dabei eher an spannenden Erfahrungen. Wir sind im rheingold-Institut Überzeugungstäter, und was sicherlich dann auch nochmal jenseits des Pekuniären eine Wertschätzung oder Belobigung ist, dass wir in vielen Kontexten mittlerweile Gehör finden. Ich bin seit vielen Jahren Mitglied im Unicef-Komitee, wir begleiten Unicef auch bei der Frage: Was sind die Spendenmotivationen der Menschen oder wie ändert sich das gesellschaftliche Klima, wie kann man dafür sorgen, dass wir Kinder-Themen und Kinder-Rechte weiter im Blick halten? Also da bin ich auch froh, dass so eine große Organisation wie Unicef auch immer wieder das Gespräch mit uns sucht.
Im letzten Jahr war ich auch Mitglied im Corona-Expertenrat von Ministerpräsident Laschet, also ein Gremium, wo halt Juristen, Verfassungsrechtler, Ethiker, Wirtschaftsmenschen, Leute aus den sozialen Verbänden, ein Philosoph, ein Soziologe versuchen, die Krise nicht nur aus virologischer Sicht zu betrachten, sondern den Perspektivwechsel einzuläuten: Wie kommen wir durch die Krise, indem wir einerseits maximalen Gesundheitsschutz ermöglichen, andererseits aber dafür sorgen, dass die Kinder zuhause nicht abdrehen oder komplett ins Internet abdriften. Was passiert mit den Obdachlosen und mit den Prostituierten? Was passiert mit den Alleinerziehenden, die mit Homeschooling und mit Homeoffice überfordert sind?
All das sind Themen, die wir im Expertenrat diskutieren. Und wo rheingold und ich immer die Funktion haben zu gucken: Aha, was passiert da gerade in der Gesellschaft, wie polarisiert es sich gerade, wie spannte es sich auf? Und ein zentrales Ergebnis unserer Coronaforschung war, dass wir auch festgestellt haben, dass zwei Drittel – also ein Großteil der Bevölkerung im Lockdown – sehr, sehr gelitten hat, die waren überfordert, die haben existenzielle Ängste, die litten unter der räumlichen Enge, die wussten nicht ein und aus, fühlte sich sozial depriviert. Aber ein anderes Drittel der Bevölkerung erzählte in den Tiefeninterviews: Der Lockdown ist jetzt mit die schönste Zeit in unserem Leben, wir kommen endlich mal zur Ruhe, konzentrieren uns auf unseren Familienkreis, wir sind nicht mehr neidisch auf das Leben der anderen, weil alle das gleiche Leben führen, wir sind entbunden von Besuchen, von Party und Reiseaufforderungen.
Also dieses knappe Drittel hatte sich so in einer ‚Corona-Biedermeier-Idylle‘ eingerichtet und war fast enttäuscht, als es jetzt hieß, das Leben läuft wieder an. Ich glaube, das ist auch wichtig, gerade für gesellschaftliche Entwicklungen, dass man es nicht auf einen Nenner bringt, sondern zeigt, wie desperat Krisen sind, wie unterschiedlich sie wahrgenommen werden und wie sehr Corona die Entzweiung und auch die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft vertieft hat. Denn alle die, die familiär oder sozial gut eingebunden waren, die keine finanziellen Sorgen hatten, die ein Haus oder eine große Wohnung hatten, die konnten da ihr ‚Corona-Biedermeier‘ entschleunigt mehr oder weniger zelebrieren; aber die anderen in den sozialen Brennpunkten, die mit der Familie auf drei Zimmern hausten, die haben sich nicht nur vermehrt angesteckt, sondern da war die Lebensqualität auch am Boden. Und ich glaube, das ist auch wichtig als Psychologe, das immer wieder deutlich zu machen.
Mittwoch ist der Expertenrat verabschiedet worden, weil Herr Laschet nicht wollte, dass dieses überparteiliche Gremium im Wahlkampf zwischen die Fronten gerät. Donnerstag hatte ich einen Termin im Bundespräsidialamt, über den ich mich sehr gefreut habe. Ich war jetzt zum zweiten Mal seit der Pandemie eingeladen beim Bundespräsidenten, und er hatte sich mehr als die geplante Stunde Zeit genommen, um mit mir und seinem Stab darüber zu sprechen, wie sich die Gesellschaft entwickelt und welchen Beitrag er als Bundespräsident leisten kann, damit Deutschland nicht komplett auseinanderdriftet.
Das vielleicht so als Überblick über die verschiedenen Tätigkeitsbereiche, ich sehe ich bin schon leicht über der Zeit. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit, fand es auch sehr wohltuend, dass sich jetzt einige mit Bild eingeschaltet haben, weil dadurch hatte ich ein Gegenüber und redete nicht ins Nirvana.
Also vielen Dank und wir haben ja jetzt noch eine knappe halbe Stunde Zeit für Fragen.
Der Diplom-Psychologe Stephan Grünewald aus Köln ist Gründer des Markt- und Medienforschungsinstituts rheingold. Grünewald ist ein gefragter Speaker und Bestseller-Autor, u.a. mit den Büchern „Deutschland auf der Couch“ (2006) und „Die erschöpfte Gesellschaft“ (2013) sowie „Wie tickt Deutschland“ (2019). (Mehr über Stephan Grünewald unter: https://stephangruenewald.de/)
E-Mail: gruenewald@rheingold-online.de