Weltmeisterschaft – Triumph des Teiles oder der Ganzheit?

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Dr. Wolfram Domke

Dr. Wolfram Domke ist Leiter der rheingold Akademie und arbeitet seit über 30 Jahren als Analytischer Intensivbehandler in eigener Praxis in Köln.

Kontakt: wolfram@dom-ke.de

Die Ermittlung eines Weltmeisters ist eine große Sache und auch eine langwierige Prozedur. Beim Fußball – um ein populäres Beispiel zu wählen – beginnen die Qualifikationen für das alle 4 Jahre stattfindende Ereignis zum Teil schon 2 Jahre vorher, denn es braucht einige Zeit, bis sich jene 32 Nationen aus aller Welt herauskristallisiert haben, die dann am abschließenden Turnier teilnehmen dürfen. Wenn dieses Turnier beginnt, sind die meisten Nationen also bereits ausgeschieden und nur noch die Besten der Besten tragen in einer anfänglichen Gruppenphase untereinander aus, wer es in die KO-Spiele des Achtel-, Viertel- und Halbfinales schafft. Ziel des Aussortierens ist weiterhin, die Teilnehmerzahl Runde für Runde so weit zu reduzieren, dass am Ende nur zwei Mannschaften für das Finale übrigbleiben. Der Sieger des Finales ist dann schließlich der lang gesuchte Weltmeister, der sich – gewissermaßen nach dem darwinistischen Selektionsprinzip – als der Stärkste durchgesetzt hat gegen den eben schwächeren Rest der Welt. Wie groß auch immer das Gewinnerland aber sein mag, stets handelt es sich doch um einen vergleichsweise kleinen Teil, der da als einziger durchkam und nun triumphierend das ganze Bild beherrscht. Fußballerisch darf sich dieser kleine Teil nun also Weltmeister nennen, aber darf er das auch aus psychologischer Sicht?

Fraglich, wenn man die ganze Ermittlungsprozedur so versteht wie eben dargestellt: als eine Art Trennen der Spreu vom Weizen. In dieser gängigen Sicht wären die besiegten Nationen lediglich so etwas wie die Weltspreu, aus der das ‚Meisterkorn‘ erst mühsam herausgedroschen werden musste, um nach langer Verborgenheit nun endlich strahlend hervorzutreten in seiner Besonderheit. Eine Alleinstellung, die den Ersten einer Weltmeisterschaft ja zugleich zum Letzten macht, der von der Ganzheit aller mitspielenden Teilnehmer übrig blieb. Ausgerechnet dieser ‚letzte Rest‘ soll die Ganzheit nun aber angemessen repräsentieren? Hier kommen Zweifel auf, obwohl es ja grundsätzlich sehr wohl möglich und auch üblich ist, dass ein kleiner Teil das größere Ganze vertreten darf: Monarchen und Präsidenten tun dies für ihren Staat seit je her. Nicht so sehr das Prinzip des ‚pars pro toto‘ ist hier das psychologische Problem, sondern die Legitimation und das Selbstverständnis des Meister-Teiles.

In der herkömmlichen Sichtweise ist der Weltmeister also das Endprodukt eines Sonderungsprozesses, der immer mehr jene Ganzheit von sich abtrennt, aus der er kommt und zu der er weiterhin gehört. Das kann die eitle Fehleinschätzung befördern, das Einzel-Teil sei besser, stärker, größer als das Restganze. Eine solche Hybris der Einzigartigkeit hätte es schwerer, wenn das Weltmeister-Werden nicht als Selektionsprozedur, sondern als kontinuierlicher Aneignungsprozess verstanden würde. In dieser umgekehrten Logik wäre jedes Gewinnen im Qualifizierungsgeschehen eine Art wölfische Einverleibung, wobei der Sieger immer den Verlierer frisst. Äußerlich betrachtet, muss der dann zwar nach Hause fahren, aus psychologischer Sicht ist er nun aber im Bauch des Matchwinners, und damit nicht raus sondern weiterhin drin im Spielgeschehen. 

Denkt man diesen archaisch-märchenhaften Ansatz weiter, dann stehen sich im Endspiel einer Weltmeisterschaft nicht zwei übrig gebliebene Einzelteile gegenüber, sondern die zwei Hälften einer sich selbst auspielenden Ganzheit. Am Anfang streut sie sich gewissermaßen aus in der Vielzahl der mitwirkenden Teil-Nehmer, sammelt sich dann Runde für Runde wieder ein in den beiden Finalisten und drängt in deren Doppelgestalt auf schlussendliche Vereinheitlichung. Der Sieger des Endspiels ist also der finale Ganzmacher, in dessen Bauch alle mitspielenden Teile wieder zusammenkommen: „The winner takes it all“. Meister ist nach dieser Lesart also nicht, wer alleine von der Welt übrig blieb, sondern der, der ‚alle Welt‘ in sich aufnehmen konnte. 

Vielleicht haben aber auch beide Lesarten zusammen ihre Berechtigung – darauf weist das Märchenbild vom Wolf und den 7 Geißlein hin. Es beinhaltet sowohl das fressende Einsammeln aller herumspringenden Teile durch den Wolf als auch das Übrigbleiben eines vor der Einverleibung versteckten Teiles. Dieser kleine, letzte Rest bewirkt dann wieder das Aufschneiden der Bauchganzheit und die Freisetzung der Einzel-Teile, womit erneut eine fressende Einsammlungsbewegung in Gang gesetzt wird. Das siebte Geißlein wäre dann so etwas wie der Dreh- und Wendepunkt im Weltmeisterschaftsgeschehen, weil er Teil und Ganzheit immer wieder auftrennt als auch miteinander verbindet.

Der Austragungsmodus nationaler Fußball-Meisterschaften kann den Aspekt einer sich selbst ausspielenden Ganzheit etwas offenkundiger veranschaulichen. Denn auch da gibt es natürlich Spiele mit Siegern und Verlierern, aber kein Verein ist nach einer Niederlage ausgeschieden. Zumindest eine Saison lang spielen alle gegen alle in zwei Durchgängen und bleiben selbst bei größter Erfolglosigkeit stets sichtbar mit  ‚im Spiel‘. Eine hierarchische Tabelle zieht Spieltag für Spieltag ‚Bauchbilanz‘ über das gegenseitige Fressen und Gefressen-Werden und macht den Stand der sich entwickelnden Meisterschaft – mit all ihren Teilen – so jederzeit ablesbar.

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