Märchenhafte Verhältnisse – Die Kultur der Gegenwart als Metamorphose

Die psychologische Morphologie ist Kulturpsychologie in einem doppelten Sinne: Zunächst versteht sie alle psychischen Erscheinungen …

 

 

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herbert fitzek

Autor:in

Prof. Dr. Herbert Fitzek ist psychologischer Psychotherapeut und hat nach einer Therapieausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (Analytische Intensivberatung) einige Jahre lang freiberuflich als Psychotherapeut, Coach und Organisationsberater gearbeitet; 1999 Approbation als psychologischer Psychotherapeut. Seit 2006 als Gründungsdekan Aufbau des Bereiches Wirtschaftspsychologie im Fachhochschulbereich. Seit 2010 ist er als Prorektor Forschung in der Hochschulleitung der BSP Business & Law School Berlin tätig und engagiert sich in nationalen und internationalen Projekten und Kooperationen.

Kontakt: herbert.fitzek@businessschool-berlin.de

Märchenhafte Verhältnisse - Die Kultur der Gegenwart als Metamorphose

Vorbemerkungen

Die psychologische Morphologie ist Kulturpsychologie in einem doppelten Sinne: Zunächst versteht sie alle psychischen Erscheinungen als Ergebnis von Kultivierung (Selbstbehandlung des Seelischen) und beschreibt sie dementsprechend als Kulturen (Alltagskulturen, Markenkulturen, Medienkulturen, Organisationskulturen, auch Biografien als individuelle Kultivierungswerke). Darüber hinaus wagt sie es aber auch, räumlich und zeitlich übergreifende Wirkungsgebilde – wie Nationalkulturen oder Zeitepochen – als in sich zusammenhängende Kulturen (in einem umfassenderen Sinne) zu charakterisieren. Letzteres stellte für Wilhelm Salber eine Herausforderung dar, der er viele Jahre seines wissenschaftlichen Wirkens widmete (und insgesamt 3 Vorlesungszyklen mit vielen hundert nicht publizierten Manuskriptseiten). Kulturpsychologie fing für Salber dementsprechend mit den Menschen der Steinzeit an und endete in der unvollendeten Gegenwart der jetzt lebenden Generation (Salber 1993).

In den Vorlesungen zur Kulturgeschichte des Psychischen, die Salber in den 80er/90er Jahren an der Universität Köln hielt, waren seine Ausführungen zur Gegenwartskultur von besonderem Interesse, weil hier beide Stränge zusammenliefen: das Interesse an den vielfältigen Kultivierungsprodukten der aktuellen Lebenswelt und am zentralen Muster der Gegenwartskultur, das alle diese Produktionen stilbildend und richtungweisend zusammenhält. Zu den Terminen, in denen Salbers Vorlesungen über die Geschichte des Psychischen und der Psychologie die Gegenwart erreichten, kamen demzufolge auch Kommilitonen in den Hörsaal, denen der Anlauf von den Weltreligionen über die philosophischen Systeme und die Künstler, Schriftsteller und Querdenker der letzten 500 Jahre zu lang war. Und wenn auch vieles an Material aus den Vorlesungen unveröffentlicht blieb, die Ansichten zur Gegenwartskultur wurden frühzeitig publiziert (Salber 1987) und nahmen im schließlich veröffentlichten Konzentrat seiner Vorlesungen, der „Seelenrevolution“, mit Bezug auf den charakteristischen Titel der „Auskuppelkultur“ bereits eine prominente Stellung ein (Salber 1993, S. 184-190). Eine Zwischenbilanz zum Millennium zog Salber gemeinsam mit seinem Sohn. Hier spricht er über die Bedrohung der Auskuppelkultur durch „Anarchie und Diktat“ (Salber & Salber 1999) und lässt weitere Akzentuierungen seiner kritischen Kulturanalysen in späteren Beiträgen zur Zeitschrift „anders“ folgen (Salber 2010; 2013a; 2013b; 2015). Von der Gegenwartsanalytik der späten 80er Jahre bis zu letzten Bemerkungen reichen somit fast 30 Jahre.

Der Spiegel 35/1997

Zurecht wird in den letzten Jahren vergleichend und prüfend zurückgeschaut und gelegentlich danach gefragt, was sich in 30 Jahren morphologischer Kulturpsychologie getan hat, und was in 30 Jahren Kulturentwicklung? Ist die Kultur seit den bewegten 90er Jahren, der schwer überschaubaren Jahrtausendwende und nach den Katastrophen der letzten Jahre weitergekommen? Sind wir vielleicht längst in ein anderes Kultivierungsmuster hineingeraten? Und hat Salber nicht selbst den Fortschritt der Kultur an neuen Märchen festgemacht, die in der Seelenrevolution stets auch neue Kulturepochen kennzeichnen?

Angesichts der Bedeutung des Themas sollten diese Fragen öffentlich diskutiert werden. Zugleich bedarf es aus meiner Sicht einiger Vorüberlegungen, wie mit der Konstatierung von umfassenden Kulturdiagnosen und der Vergabe dazu passenden Märchen umzugehen ist, und dies aus mindestens drei Gründen:

(1) Die Gegenwartskultur ist kein empirisch bestimmbarer Gegenstand wie die Wirkungseinheiten des Tageslaufs, von Produkten, Medien oder Organisationen. Was uns alle gemeinsam bewegt, wird erst in der sorgfältigen Durchsicht durch viele Kultivierungserscheinungen deutlich, die etwa in der Marktforschung ‚auf die Couch‘ kommen (Grünewald 2006), das Zeitprofil in aktuellen Film- und Fernsehproduktionen markieren (Blothner 1993) oder als zeitweilige Trends, Moden und Zeiterscheinungen in den Blick treten (Fitzek 1998).

(2) Die Eigenart der Gegenwartskultur bestimmt unser Leben in voller Breite und zieht als Thema (auch Morphologen) in besonderer Weise an. Der Blick auf die Zeit, in der wir leben, wird gerne genutzt, das persönliche Lebensgefühl widerzuspiegeln, und fällt deshalb immer auch nach eigenen Bedürfnissen aus: als willkommene Bestätigung, als immerwährende Klage, als gnadenlose Abrechnung. Anders als bei Alltagskulturen, von denen die Menschen weniger verwickelt werden, gehört der Blick auf das Zeitgeschehen von daher zu den Dingen, die besonders durch Vorlieben und Vorurteile belastet sind.

(3) Obwohl die Zeitgeschichte eine ganze Generation von Menschen betrifft, vollzieht sie sich für alle ohne wirkliche Eingriffsmöglichkeit. Die Dinge geschehen als Ereignis, nicht als Aktion, und machen die Zeitgenossen nachdenklich, betroffen, wütend, renitent. Aber aufhalten lassen sich die Ereignisse nicht, sie laufen in eine vom Einzelnen nicht zu steuernde Richtung. Wenn hier schon nichts auszurichten ist, so erleichtert das Gefühl wenigstens ein wenig, die Richtung zu kennen und bewusst nachvollziehen zu können, wohin es geht und was bevorsteht. Ist der Einzelne schon nicht aktiv beteiligt ist, kann er sich wenigstens dadurch aktivieren, das Weiterrücken der Geschichte zu proklamieren. Und dieses tut er gerne und mit Leidenschaft … und womöglich ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wie der Stand der Dinge wissenschaftlich zu werten ist.

Entwicklungsprinzip: Metamorphose

Angesichts dieser warnenden Vorbemerkungen empfiehlt es sich, mit der Diagnose von Zeitenwenden besonders vorsichtig zu sein. Das Bedürfnis, die Tür zum Neuen und nie da Gewesenen aufzustoßen, sollte Psychologen davor warnen, in Krisen- und Umbruchserfahrungen zu früh Anzeichen für das Ausrufen einer neuen Epoche zu verfallen. Studiert man Salbers ‚Seelenrevolution‘ genauer, dann findet sich für das psychologische Verständnis des Epochenwandels ein entscheidender methodischer Hinweis. Morphologisch betrachtet, erscheinen Epochen nämlich nicht als Nacheinander aufeinander folgender Kulturen, sondern – wie der in methodischer, wenn auch nicht in weltanschaulicher Hinsicht vorbildliche Oswald Spengler es in seiner Morphologie der Weltgeschichte bereits konstatiert hat (Spengler 1918) – als Metamorphosen im „Wirkungsraum bewegter und bewegender Gestalten“ (Salber 1993, S. 9). Morphologisch ist das Nacheinander der Zeitgeschichte nicht als Abfolge von für sich bestehenden Kulturbildern zu verstehen, an deren Schwelle die Menschheit jeweils völliges Neuland betritt. Vielmehr bezeichnet ihre Eigenart als Metamorphose im Gegenteil einen Übergang, in dem fortwirkendes Altes über dauerhafte Zwischenformen sich vorgestaltlich bereits andeutendes Neues bewegt.

Die Kultur steht weder für eine Anzahl von Jahren still, noch ändert sie sich mit einem Mal. Vielmehr sind zu jeder Zeit Wirkungstendenzen in Richtung von Bewahren und Verharren auf der einen Seite und solche in Richtung von Verändern und Umstürzen zu verzeichnen. Insofern ist im, für sich gesehen, verhältnismäßig stabilen Bild, das eine Kulturepoche bietet, noch präsent, was zuvor gewesen ist und schon, präsent, was folgen wird. Metamorphose ist ein für eine gewisse Zeit Sinn stiftender Verwandlungsmodus, der aufgegebene Strukturen der Vergangenheit in eine vorgestaltlich präsente Zukunft transformiert.

So ist es mit den Kulturepochen der Geschichte wie auch mit denen der Gegenwart. Und daher ist es morphologischen Untersuchungen zur Kulturgeschichte in besonderer Weise mitgegeben, den Gestaltwandel im jeweils thematisierten Zeitfenster im Blick zu behalten. Dafür gibt es ein historisches Beispiel, das Salber selbst mit Hans-Jürgen Freichels vorgelegt hat, als die deutsche Wiedervereinigung nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch Psychologen Rätsel aufgab, weil die erlösende Nachricht von der Öffnung der Grenzen außer Beglückung auch Beunruhigung, Ängste und dauerhafte Enttäuschungen mit sich brachte (Salber & Freichels 1990).

Foto: SSgt. F. Lee Corkran, DoD                                      

Psychologisch war die Gewinnung von Einheit nicht als Befreiung aus jahrzehntelanger Nötigung zu verstehen, sondern als spätes Produkt eines weit über die Politik hinausreichenden ‚Blockdenkens‘, das nach wirren Kriegszeiten zunächst Sicherheit Wohlstand und Stabilität versprochen hatte. Paradoxerweise hatte die Einheitssehnsucht nach den totalen Kriegs-Zerschlagungen zunächst verschiedene miteinander konkurrierende (Einheits-)Systeme in Ost und West hervorgebracht. Deren Vereinigung wurde am Ende des Jahrhunderts mit dem Zusammenfallen der Grenzen gefeiert. Doch kam damit die Metamorphose der Kulturentwicklung nicht zum Stehen. Das Zusammenfallen der Gegensätze bedeutete zugleich den Zusammenfall der Systeme oder, im psychologischen Sinne, des Systems der aufgespaltenen Einheit.

Metamorphose als Fortsetzung von Gewordenem

Erreicht wurde eine Metamorphose der Kultur, in der auf einmal alles gleichzeitig möglich schien, aber keine Vorgaben mehr erkennbar waren, in welche Richtung gearbeitet werden konnte, um sinnvolle Ziele zu erreichen. Zusammenfall bedeutete also – wie der Doppelsinn des Begriffs andeutet – nicht nur den Gewinn von Einheit, sondern gleichzeitig den Verlust von Halt (Zerstörung von Grenzsicherungen), eine bedrohliche Sinn- und Richtungslosigkeit, Perspektiven in eine ungewisse Zukunft. Und damit andererseits Raum für unendlich viele Ideen, welche Zukunft versprechen und Klarheit erreichen wollen, weshalb die 90er Jahre nicht nur von einer um sich greifenden Orientierungslosigkeit geprägt waren, sondern zugleich von einer überschäumenden Welle von Zukunfts- entwürfen.

Was im politischen Raum als Zusammenbruch der Systeme spürbar war, hatte viele Jahrzehnte hindurch auch den Alltag der Menschen geprägt. Das Blockdenken war in den Nachkriegsjahrzehnten ja nicht beschränkt auf Ost und West, es deklinierte gleichsam den ganzen Alltag durch als Gegenlauf von Ideologie und Wohlstandsdenken (auf beiden Seiten), von Engagement und Passivität, von Jeans und Bügelfalte, E- gegen U-Musik, ‚Bauhaus‘ gegen Historismus, Puma gegen Adidas, Coca-Cola gegen Pepsi-Cola. All das war nun in seiner berechenbaren Gegenläufigkeit bedroht. Und verlor sich in der Gleichwertigkeit und Gleichgültigkeit der vielen nebeneinander bestehenden Möglichkeiten ohne Perspektive und Konsequenz.

Was nach der Wende wie eine Vertauschung von Aufbruchs- und Sicherungstendenz in West und Ost wirkte, führte im privaten Umfeld der Menschen zu einem kurzzeitigen Aufblühen der Möglichkeiten. Jeder schien sich neu erfinden zu können als alles Mögliche. Nicht nur im Osten erblühte die Freiheit des Reichtums, des Reisens und des schnellen Glücks. Die 90er Jahren waren eine Blasenwelt der ungeheuren Möglichkeiten: Immobilien, Börse, weltweite Vernetzung. Blasenförmig wurden auch die Existenzen der Einzelnen, in denen eine einzelne Person in sich alle Generationen, Bildungsschichten, Geschlechter, Medien, Freizeitinteressen und Aktivitäten zu einer persönlichen Gleichung zusammenzubringen suchte und jeder gleichsam alles auf einmal darzustellen glaubte. Salber prägte für die scheinbar konsequenzenlose Durchlässigkeit der Möglichkeiten bis in den Alltag der Einzelnen hinein den Begriff des „Auskuppelns“ (Salber 1987, S. 47). Er war von der gleichen Doppeldeutigkeit geprägt wie der ‚Zusammenfall‘ und beschwerte das geräuschlose Changieren mit dem Warnton eines hochtourigen Leerlaufs. Das Auskuppeln brachte viele Männer dazu, sich gleichzeitig als harte Geschäftspartner, verständnisvolle Ehemänner, liebevolle Väter, Paschas, Machos, Softies und auch als zeitweilige Aussteiger aus alledem zu erfinden, während Frauen sich wie nie zuvor als gleichberechtigte Partnerinnen mit öffentlichem Auftrag und zugleich als Mütter, Business Women und Emanzen verstanden. Zum ausgekuppelten Alltag kursierte der nicht von Morphologen geprägte Werbespruch: „Alles ist möglich!“

Für eine gewisse Zeit lebten die Menschen in einer schwerelosen Fassungslosigkeit, in der Wundersames möglich war, in die aber von allen Seiten her ungeahnte Katastrophen einbrachen. Katastrophen ereignen sich in der Weltgeschichte fortwährend, in den Jahren um das Millennium herum wurden sie aber prägend für das Lebensgefühl einer ganzen Generation, in der Gestalt des Naturereignisses (Tsunami), als menschliches Verbrechen (Amokläufe) oder religiös geprägter Terrorismus (Selbstmordattentate, 9/11), übrigens analog auch im privaten Rahmen, wo Katastrophenereignisse ein völlig neues Vokabular erhielten (ADHS, Panikattacken, Burnout). Und als Wirken eines unheimlich eindringenden Feindes erlebt wurden, der die der Geschichte abgetrotzten Freiheiten übermächtig von außen bedroht.

Gegen die Bedrohung machte sich (wie zuvor bei Einheit und Aufspaltung) die Macht einer komplementären Ergänzung erkennbar, die das Chaos der Gleichwertigkeit (Anarchie) durch Setzung von Festgefügtem (Diktat) behandelte – und zwar paradoxerweise in äußerst unterschiedlicher (und damit wiederum ausgekuppelter) Richtung. Das lässt sich besonders deutlich an den Vorbildern der jungen Generation ablesen, die mit Macht Entschiedenheit suchten, allerdings in völlig verschiedener Richtung: im Anschluss an Altbewährtes („Generation Biedermeier“), in radikaler Zukunftsorientierung („Fridays for Future“) oder noch häufiger in der Konzentration auf die eigenen Belange (‚Selbstverwirklichung‘) – was sich bis heute weder in die eine noch in die andere Richtung vermittelt, denn es fehlt an Austragungsorten für den Wettstreit der Entwürfe.

https://www.faz.net/multimedia/letzte-generation-wie-weit-duerfen-die-proteste-gehen-18189565.html

Gemeinsam ist den neuen Wert- (und Welt-)Orientierungen, dass gegenüber der zweifellosen Zuordnung von Gut und Böse in den Zeiten des Blockdenkens und der darauffolgenden totalen Diffusion des richtigen Handelns nunmehr sehr genau bemessen wird, was in welcher Situation zu tun und zu lassen ist, was gefördert werden kann und was sanktionieren werden muss. Wertorientierungen werden immer stärker zu Normorientierungen, in denen ein zunehmend bürokratisiertes System von formellen und informellen Maß- und Regelwerken immer neue Verhaltensregeln und Verbote setzt. Die Gegenwartsmenschen erleben sich zunehmend von Vorschriften im Zusammenleben und Miteinander-Kommunizieren reguliert, die die Möglichkeiten des Einzelnen im Dienst von übergeordneten Zielen mehr und mehr beschneiden. Auch das ist nicht nur in der aufgeblähten Bürokratie der politischen Systeme zu spüren, sondern wiederum unmissverständlich in freundlichen Zwangsmaßnahmen des konkreten Alltags zu entdecken: in den Repressalien gesunder Lebensführung (Rauchverbot, Bewegungszwang, Ernährungskontrolle), in den Geboten gendergerechter Sprache und einem (gnadenlosen) Frühwarnsystem für mögliche Übergriffe an jeder Stelle. Statt der Einschwörung auf gemeinsame Utopien wird die Vielfalt des Einkuppelns heute vor allem auf Stilistisches verpflichtet. Gemeinsam ist nicht die Richtung, in der es weitergehen soll, sondern die Aufgeregtheit, mit der alle möglichen Ziele gleichzeitig nebeneinander verfolgt werden: Spekulation, Obszönes, Fundamentalismus, Verschwörungstheorien, sogenanntes Quer- denken – alles ist erlaubt, solange sich an die Spielregeln von gewaltfreier Kommunikation gehalten wird.

Salber hat das Lebensgefühl der Auskuppelkultur als inhaltlich freies, aber auch zunehmend inhaltsfreies Spielfeld für die persönliche Lebensgestaltung charakterisiert: „Nie gab es so viele ‚Freiheiten‘ wie heute. Und selten wurden Menschen so geschickt und komplett gegängelt wie heute. Wie passt das zusammen? In den westlichen Gesellschaften reduziert sich die wirkliche ‚Freiheit‘ auf die freie Wahl zwischen Rasierwasser, Urlaubsorten, Katzenfutter, Lebensversicherungen. Alles andere nimmt ein bürokratisch-industrieller Komplex seinen Bürgern ab. Er nimmt ihnen vieles Lästige ab, er nimmt ihnen aber auch in zunehmenden Maße Steuern und Gestaltungsmöglichkeiten ab“ (Salber & Salber 1999, 73).

Metamorphose als Gefüge von gegenwärtig Wirksamem (Märchenanalogie)

Wie das Blockdenken nach Kriegszeiten zunächst eine Lösung vorgab, so kam auch das Auskuppeln zunächst als Lösung (erstarrter Blöcke) ins Spiel: Die gespaltene Einheit fließt in einen befreienden Gleichklang zusammen (alles ist möglich!). Gegen den damit freigesetzten Horror des Verfließens klammert sich die ‚Auskuppelkultur‘ mehr und mehr an eine Sehnsucht nach Konsequenz (‚Einkuppeln‘), die gleichsam in alle Richtungen ausschwingt und sich letztlich nur auf Regularien verständigen kann (Formalismus, Gerechtigkeitsbürokratie). Wie die Erfolge des Blockdenkens sind also auch die Segnungen der ‚Auskuppelkultur‘ vorübergehend. Und suchen Auswege in neuer Richtung.

Hier zeigt sich Kultur als Metamorphose, die Probleme von historischen Kulturbildern in einen vorübergehenden Ausgleich bringt, der aus sich heraus in Neues vordringt. Für die psychologische Charakterisierung solcher historischen Metamorphosen hat Salber Erzählungen gefunden, die dem Übergangscharakter des Seelischen gerecht werden und die Herausforderungen der jeweils gefundenen historischen Gleichung bebildern. Das sind die von den Gebrüdern Grimm gesammelten Märchen, die auch die (Übergangs-)Strukturen von individuellen und überindividuellen Wirkungseinheiten markieren (Salber 1999).

Postkarte von Paul Hey (1908) – Deutsches Märchen- und Wesersagenmuseum/Hanna Dose (CC BY-NE-SA)
Postkarte von Paul Hey (1908) – Deutsches Märchen- und Wesersagenmuseum/Hanna Dose (CC BY-NE-SA)

Die Zeit der Wiedervereinigung hatten Salber und Freichels mit dem Märchen „Tischlein deck dich, Esel streck dich, Knüppel aus dem Sack“ charakterisiert. Es ließ sich zusammenbringen mit der gespaltenen Einheit der Blockzeiten und dem lustvollen (und angstbesetzten) Zusammenfall der Grenzen am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Einheits- und Spaltungsproblematik ist mit ihrem Zusammenfall, dem Metamorphose-Konzept entsprechend, nicht einfach weg (und das Märchen ist daher auch für neuere Entwicklungen tragfähig). Aber Salber hatte für die Zeit der Auskuppelkultur schon in seiner Seelenrevolution ein neues Märchen in Anschlag gebracht, das Märchen vom „Krautesel“. Am „Krautesel“ lässt sich die Metamorphose der aus problematischen Einheitsverhältnissen herausgewachsenen Orientierungslosigkeit differenziert nachzeichnen. Die Märchenerzählung ist nicht so bekannt wie das „Tischlein deck dich“ und soll deshalb hier etwas ausführlicher vorgestellt werden.

Im „Krautesel“ bricht ein junger Bursche auf, um sein Schicksal in die Hand zu nehmen und erhört gleich den ersten Anruf einer alten Weisen. Er möge nur beherzt ins Blaue schießen und dafür reichen Lohn ernten. Der frisch gewagte Schuss setzt wunderbare Schätze frei: bequemen Reichtum (in Form eines Goldherzens), garantiertes Fortkommen (Wunschmantel) und die sich bald einstellende Zuneigung eines Mädchens. Er genießt das freie Leben und bemerkt dabei nicht, wie seine Unbeschwertheit ihn blind werden lässt für Fallen, in die er hineingerät: den Neid einer anderen Alten, die ihm die Wunderdinge, auch die Liebe des Mädchens geschickt entwendet. Nachdem es ihn mit seiner Braut in schwindelnde Höhen getrieben hat und er auf den Granatenberg aufgestiegen ist, stürzt er wegen deren boshaftem Wirken ins Bodenlose und landet als Erdenwurm auf dem harten Boden der Realität. Hier findet er für seinen Unterhalt nichts vor als bitteres Kraut vor, um dessen Wunderwirkung es eher arm bestellt ist: das Kraut macht ihn zum Esel. Erst als er merkt, dass es auch andere Kräuter gibt und wie mit diesen Mitteln strategisch sinnvoll umzugehen ist, gewinnt er die Macht über sein Schicksal zurück und lernt, wie er der alten Hexe und ihrer jungen Verbündeten (seiner vormaligen Geliebten) habhaft werden und sie über gezielte Gaben von Eselskraut dazu bringen kann, die entwendeten Wundergaben herauszurücken. Das Märchen endet interessanterweise nicht mit den sonst üblichen Glücksszenarien für die Liebenden bzw. den Höllenstrafen für die Hexe, sondern mit einer geradezu peniblen Bemessung von Lohn und Strafe für alle Beteiligten. Darauf soll im Folgenden mit Bezug auf die Gegenwartskultur eingegangen werden.

Was die offenkundigen Analogien zur Gegenwartskultur angeht, erweist sich schon der Anfang des Märchens als vielsagend. Wie die Menschen der Gegenwart lebt der Jäger in einer Welt, die von äußeren Beschwernissen weitgehend freigeräumt ist. Das ermöglicht ihm ein unbeschwertes Loslegen, das aber schon in der Anfangssequenz den Beigeschmack des Pfeifens im Walde hat: die Aussicht auf alles Mögliche bringt aus sich eine erschreckende Unbekümmertheit hervor. Die Goldstücke und Wunschmäntel der Wirklichkeit nimmt er hin wie ein selbstverständliches Vermögen, das ihn immer höher hinaufzusteigen verheißt, ihn aber unversehens in die Abhängigkeit von hexischen Mächten treibt. Ganz unverschuldet erscheint dem glücklichen Schützen der komplette Absturz in eine bittere Realität, in der nun fast gar nichts mehr möglich ist und nur eines gewiss: das Krautfressen. Was am Jäger durch freie Beweglichkeit ummäntelt war, tritt jetzt als gewaltige Eselei in den Blick. Das unbeschwerte Leben ereignete sich auf Kosten einer Wirklichkeit, die für den Erfolg über Leichen geht (Vögel mussten sterben, Herzen wurden ausgerissen, Wunderdinge entwendet). Das bittere Kraut ist aber nicht nur Strafe, sondern zugleich der Beginn einer (Gegen-) Richtung, in der ganz entschieden auf ein Lebensprinzip gesetzt wird, aus dem (o Wunder) eine ganze Vielfalt an Verwandlungsmöglichkeiten heraustritt. Von den Hexen schaut sich der Jäger die Wendigkeit des Bemächtigens und Gegenwirkens ab und besiegt sie mit ihren eigenen Mitteln, die er genau bemessen und dosieren kann. Damit sind wir beim merkwürdigen Schlussakkord des Märchens: der von Salber im Hinblick auf die Gegenwartskultur immer wieder betonten beckmesserischen Gleichheitsbürokratie, der niemand entgeht.

Am Märchensteckbrief entlang lassen sich die strukturellen Kennzeichen der Gegenwartskultur resümieren: Ein befreiender ‚Schuss ins Blaue‘ (Einheit) setzt wunderbare Schätze frei, die einen Höhenflug möglich machen (frei verfügbare Möglichkeiten), zugleich aber hexische Gegenkräfte auf den Plan rufen (Katastrophen). Einem Absturz aus höchsten Höhen auf den Boden der Realität (Desillusionierung) folgt eine Phase des bitteren Krautfressens, das in unbestimmte Richtung führt, aber entschiedene Konsequenzen verspricht (‚Einkuppeln‘). Die krautigen Konsequenzen werden dadurch spürbar, dass mit großer Geste Lohn und Strafe für alle verteilt werden (Gerechtigkeitsbürokratie).

llustration von Henry Justice Ford (1894)

Metamorphose als Vorentwurf von Zukunft

Das Märchen vom ‚Krautesel‘ beleuchtet die Konsequenzen, die der Auskuppelkultur blühen. Wie der Jäger entgehen auch die Zeitgenossen nicht ihrem Schicksal und erleben mit nie dagewesenen Chancen zugleich auch die Problematik von rätselhaften Abhängigkeiten, schmerzhaften Abstürzen und mühesamen Orientierungsversuchen. Diese markieren nach einer Phase der Gleichwertigkeiten (und Gleichgültigkeiten) den Anlauf zu einem neuen Kultivierungsmuster, das in der Metamorphose der ‚Auskuppelkultur‘ bereits (vor-)wirkt und sich gleichfalls bereits in der Seelenrevolution in einem neuen Verhältnis (und einem neuen Märchen) ankündigt. Salber kommt im letzten Kapitel darauf zu sprechen, dass sich die Auskuppelkultur in „Überdrehtes“ hineinbewegt und sich „die Menschen noch einen Genuß daraus machen“, was an Steigerungen von Technologie, Power und Panik gewagt werden kann und auszuhalten ist. Paradoxerweise entdecken sie ausgerechnet in den Zuspitzungen des Hochgeschraubten das Glück einer einfachen Lebensführung: „Den Überdrehungen und dem Panik-Machen setzt sich in’s Verhältnis, was Menschen binden und bergen kann – was ‚Herz‘ hat“ (Salber 1993, 192).

Die neue Metamorphose begnügt sich nicht mit einem Einkuppeln in die eine oder andere Richtung. Sie sucht in einem atemberaubenden Kraftakt gleichsam alle Tendenzen zu einem Ausgleich für alle zu bringen: also Konservatives, Progressives und Selbstverwirklichung in einem stimmigen Ganzen. Damit sind hohe Ansprüche verbunden, sie erfordern besondere Opfer: Sich-Fordern, Verzichten, Durchhalten. Mit schnellem Erfolg ist hier nicht zu rechnen ist – dafür besteht die Aussicht auf die Besinnung auf Wesentliches und auf nachhaltige Weiterentwicklung.

Ich möchte das Entwicklungspotenzial der Gegenwartskultur mit unserer Forschung an der BSP in Verbindung bringen, die den morphologischen Zugang zur Auskuppelkultur mit ganz entsprechenden Ansichten unserer Managementkollegen zusammenbringt. Diese benennen die aktuelle Gegenwartskultur als „VUCA- Welt“ und fassen die gegenwärtige Realität der Wirtschaftswelt mit dem beinahe morphologischen ABC von „Volatilität“, „Unsicherheit“, „Komplexität“ und „Ambiguität“ (Mack, Khare, Krämer & Burgartz 2016). Das Hochfahren der Verhältnisse in der Gegenwartskultur (Aufstieg zum Granatenberg) ist in der Wirtschaftswelt noch weniger zu übersehen als im Alltagsleben. Hochgefahren werden nicht nur die Kontexte für wirtschaftliches Handeln (Globalisierung, digitale Revolution), die einzelnen Unternehmen (vom Global Player bis zum Start- Up) wie die darin arbeitenden Individuen (Stressbelastung, fehlende Work- Life-Balance, drohendes Burnout). Genauso hoch fliegen die Ansprüche an eine Erneuerung der Gesamtwirtschaft unter Stichworten wie „New Work“, „Agilität“, „Holokratie“.

Den Höhenflügen der Wirtschaft wird aber zunehmend eine Besinnungsrichtung entgegengesetzt, die auf Reduktion und Resilienz setzt. Die hochgepushte Entwicklung soll mithilfe von Methoden aufgefangen oder korrigiert werden, die vornehmlich aus der Tradition der Religionen und Weisheitslehren stammen. Das Herunterfahren des heiß gelaufenen Managementbetriebs bedient sich nicht zuletzt psychologischer Einsichten und ernährt eine völlig neue Richtung in der Unternehmensberatung. Statt messerscharfer Bilanzprüfung drängen inspirierte Berater heute auf Resilienz, Achtsamkeit, Nachhaltigkeit, „Presencing“ (Scharmer 2009).

Im Forschungsprojekt unserer Hochschule (‚Digitalisierung im Mittelstand‘) haben wir festgestellt, dass sich Methoden des Herunterfahrens von Hochtourigem nicht etwa nur als letzte Rettung für heiß gelaufene Großunternehmen einstellen, sondern sich auch bei Neugründungen auf dem in Berlin weit verbreiteten Start-up-Markt zunehmender Beliebtheit erfreuen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf eine Untersuchung von Sheeana Reinsch eingehen, die die Unternehmenskultur einer alles andere als esoterischen Unternehmensgründung untersucht hat (Reinsch 2020). Das Unternehmen war zum Zeitpunkt der Untersuchung erst ein gutes Jahr lang auf dem Markt und entwickelte „Softwarelösungen für digitale Gesprächsassistenz im Bereich des B2B and Inside Sales“, worunter man sich so etwas selbst organisierende Besprechungsprotokollierungen vorstellen kann. Es lag noch nicht viel mehr vor als die Idee der Gründer und die Anschubfinanzierung durch einen Investor. Ein paar schmucklose Räume waren angemietet und ein paar Softwarespezialisten eingestellt worden, das musste für den Anfang reichen, Reichtum oder Renommee waren für die Geschäftsführer noch überhaupt kein Thema. Was das Unternehmen zur Psychologie brachte, war ein in diesem Rahmen kaum zu erwartendes Anliegen.

Das weder durch ein halbwegs fertiges Produkt noch durch ein klares Unternehmensbild gekennzeichnete Start-Up war auf der Suche nach einem ‚Purpose‘, der unbedingt mehr sein sollte als ein Leitbild für das eigene Selbstverständnis. Mit dem „Purpose“ sollte eine Mission verwirklicht werden, die Kundschaft und Mitarbeiter mit der wertschöpfenden Kraft des Unternehmens versöhnen wollte. Von Ikea und Google – den ersten bedeutsamen Purpose-Schöpfern – war offensichtlich abgeguckt worden, dass gelingende Unternehmen eine Botschaft ‚mit Herz‘ brauchen – in der ungeheure Ansprüche (Hochfliegendes) auf die Schlichtheit einer unmissverständlichen Botschaft reduziert werden: ‚Wer wir sind und was wir wollen‘.

Ganz unabhängig von der Darstellung in der Seelenrevolution kam die Autorin darauf, die seltsame Suche des unfertigen Unternehmens nach einer übergeordneten Vision mit dem Märchen vom „Wasser des Lebens“ zusammenzubringen. Hier geht es um einen kranken König, der Heilung allein von einem geheimnisvollen Wasser des Lebens erhalten kann, nach dem seinen drei Söhne für ihn suchen. Zwei scheitern, weil sie zu achtlos und ungeduldig vorgehen. Erst dem dritten gelingt es trotz größter Hindernisse auf verschlungenen Wegen zum Ziel zu gelangen. Den Rückweg zum König verstellt ihm zunächst die Heimtücke seiner Brüder, aber dank seines unermüdlichen Tuns und seines reinen Herzens findet er Wege, sein Glück, dazu eine liebevolle Gefährtin und schließlich auch das Vertrauen des kranken Königs zu gewinnen und ihm den heilenden Trank zu überreichen.

Ähnlich wie im Märchen setzt sich das Unternehmen hohe Ziele, die weit über den noch gar nicht institutionalisierten Geschäftsbetrieb hinausgehen und eine unbekannte Sinnbildung in Anspruch nehmen. Es wird geahnt, dass nachhaltige Entwicklung nicht durch den schnellen Erfolg zu erzielen sind, sondern eine Haltung erfordern, die dem hochtourigen Alltag von Start-Ups entgegenläuft. In vielen Unternehmen verdichtet sich diese Ahnung zur Gewissheit, dass nicht hochartifizielle Geschäftsstrategien der Weisheit letzter Schluss sind, sondern etwas viel Schlichteres erreicht werden muss, um nach innen und außen zu überzeugen. Der sich immer weiter durchsetzenden Suche nach Missionen und Visionen (‚Purpose‘) kommt die Beraterlandschaft deshalb immer öfter mit Angeboten entgegen, die gerade nicht in Richtung der technologischen Ausrüstung perfektionieren, sondern Ruhe, Gegenwart, Sinnlichkeit ins Spiel bringen und Vertrauen in das erwecken wollen, was sich aus dem Augenblick entwickelt – das tun auch wir mit gutem Gewissen und versuchen es z.B. mit dem Ansatz des ‚Kunstcoachings‘ (Fitzek 2015)).

Märchenhafte Verhältnisse

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Masterabsolventin in ihrer Arbeit auf das gleiche Märchen gestoßen ist, das Salber bereits in seiner Seelenrevolution als Bebilderung für die neuen Wendung der Kultur gefunden hat. „Das Wasser des Lebens“ beschreibt sowohl das Hochstrebende der Ansprüche und Anstrengungen wie auch die Gegenrichtung des Herunterfahrens in Richtung von ‚Materialem‘, von Schlichtheit und Authentizität (Salber 1993, 191-193).

Ist das nun der Abschied von der Auskuppelkultur, der Schritt ins Zeitalter „panischer Reisen“? Vom Prinzip der Metamorphose her können Überdrehung und Rückbesinnung durchaus im Rahmen des bekannten Entwicklungsgefüges dargestellt werden. Wie eingangs erwähnt, passt der Bruch mit Vergangenem und das Ausrufen eines neuen Zeitalters (selbst unter dem Eindruck von Corona) nicht ins Bild der Metamorphose. Das Metamorphosenkonzept der Seelenrevolution bietet in seiner Dreizeitigkeit eine hinreichend komplexe Darstellung der Gegenwartskultur, weil es die Fortsetzung des Blockdenkens (Vergangenheit) im aktuellen Gefüge der Auskuppelkultur (Gegenwart) als gleichzeitiger Vorentwurf in Richtung von Herunterfahren, Nachhaltigkeit, Purpose (Zukunft) in einer Wendung zusammenhält. Mit den Strukturvarianten der drei dazu passenden Märchen sollte eine Generation von Zeitgenossen und Morphologen doch wohl auskommen können – zumal sich von jedem anderen Märchen her, und durchaus nicht nur von den bei Salber gedeuteten, völlig legalerweise weitere sinnvolle Aussichten auf Kennzeichen der aktuellen Kulturentwicklung eröffnen lassen. (Das hat Salber in den Märchenapplikationen seiner letzten Lebensjahre überaus deutlich gezeigt.)

Immer wieder gerät Kulturentwicklung in die Dynamik von Kultivierungsmustern, die aus sich heraus korrigierende Gegenbewegungen wie auch Ansätze zu umfassenden Metamorphosen hervorbringen; mit jedem Dreh an der Schrauben der Kulturentwicklung lassen sich passende Lösungs- und Transformationsansätze verfolgen. Mit dem Set der drei in sich gefügten Kulturen (nicht als Nacheinander, sondern als Fortsetzung, Gefüge und Vorentwurf) lassen sich die Verhältnisse der Gegenwartskultur aus meiner Sicht umfassend abbilden. Wir haben damit ein vor 30 Jahren entworfenes Instrumentarium, um den historischen Hintergrund einer ganzen Generation von Zeitgenossen, ihre Entwicklungslast, aktuelle Problematik und daraus hervorgehende Verwandlungspotenziale zu kennzeichnen. Ein Aufstoßen von Türen zu neuen Zeitaltern unter Fanfarenklang können wir uns vor diesem Hintergrund sparen und brauchen damit in absehbarem Zeitraum auch nicht zu rechnen – im bewegten Rahmen der drei Märchen dreht sich das Rad zwischen kulturellem Gefüge und den ‚Zufällen‘ der Weltgeschichte, oder, wie Goethe es vielleicht sagen würde: die Hexe „Tyche“ steht nicht still.

Abbildung zu Beginn des Artikels: Gustave Doré Der gestiefelte Kater am See (Ausschnitt) – CC BY-NC-SA @ Deutsches Märchen- und Wesersagenmuseum

Literatur

Blothner, D. (1993). Der Spielfilm als Kulturmedium. In H. Fitzek, A. Schulte (Hrsg.), Wirklichkeit als Ereignis, Bd. 1 (S. 59-175). Bonn: Bouvier.

Fitzek, H.  (1998). Trends, Moden, Zeiterscheinungen. Kulturpsychologie als Psychologie der Gegenwartskultur. In H. Fitzek & M. Ley (Hrsg.), Alltags-Figurationen. Grundlinien einer psychologischen Kulturtheorie (S. 24-53) Zwischenschritte 18 (1). Bonn: Bouvier.

– (2015). Von der Figur zur Figuration. Theorie und Praxis des Kunstcoachings. In W. Gödde, W. Pohlmann & J. Zirfas (Hrsg.), Ästhetik der Behandlung. Beziehungs-, Gestaltungs- und Lebenskunst im psychotherapeutischen Prozess (S. 95-116). Giessen: Psychosozial.

– (2022). Art Analysis and Art Coaching. Psychological Approaches to a Work of Art and its (Psycho-)Analysis. In M. Watzlawick & S. Salden (Hrsg.), Courageous Methods in Cultural Psychology – Beyond the symbolic nature of language. Springer International Publishing.

– (2022). Rückzug als Fortschrittsutopie. Kulturpsychologische Anmerkungen zum Minimalismus. In H. Derwanz (Hrsg.), Minimalismus – Ein Reader (89-110). Bielefeld: Transcript.

Grünewald, S. (2006). Deutschland auf der Couch. Eine Gesellschaft zwischen Stillstand und Leidenschaft. Frankfurt/Main: Campus.

Mack, O., Khare, A., Krämer, A., Burgartz, T. (Hrsg.) (2016): Managing in a VUCA World. Heidelberg/New York: Springer.

Reinsch, S. (2020). Intersubjektive Sinnbildung in Unternehmen. Empirische Organisationskulturanalyse eines SAAS-Start-Up. Business School Berlin: Unveröffentlichte Masterarbeit.

Salber, W. (1987). Kulturpsychologie – Wie und Warum. Zwischenschritte, 6 (2), 40-49.

–, Freichels, H.J. (1990). Zur Psychologie von Einheit (‚Wiedervereinigung‘). Zwischenschritte, 9 (2), 4-24.

– (1993). Seelenrevolution. Komische Geschichte des Seelischen und der Psychologie. Bonn: Bouvier.

– (1999). Märchenanalyse. Bonn: Bouvier.

– (2010). Babelturm und Blocksberg. anders, 3/2010, 25-35. [Gegenwartskultur und „Rapunzel“]

– (2013a). Ein Wort zur Auskuppelkultur. anders, 14/2013, 47-51. [Gegenwartskultur und „Krautesel“, „Wasser des Lebens“, „Rapunzel“, „Schneeweißchen und Rosenrot“]

– (2013b). Unbewusstes – was dazwischenkommt. anders, 15/2013, 51-55. [Gegenwartskultur und „Die kluge Else“]

– (2015). „…Und was ist Nichts? anders, 22/2015, 48-53. [Gegenwartskultur und „Meerhäschen“]

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Scharmer, C.O. (2009): Theorie U. Von der Zukunft her führen. Heidelberg: Carl Auer.

Spengler, O. (1918). Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1. Wien/Leipzig: Braumüller.

 

Artikel und Beiträge von Herbert Fitzek in Zwischenschritte:

  • Der gemachte Mann

Fallbei(l)spiel eines Psychologen beim Eintritt ins Berufsleben (2/85)

  • Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren…

Zum Gebrauch formaler Modelle in der Wissenschaft (2/88)

  • Notiz über den ‘Wunderblock‘

Wie eine Ausstellung versucht, die Seele in den Blick zu bringen (1/90)

  • Kuriert vom Dino-Fieber (2/94)
  • Geburtstag im Hause Freud (1/96)
  • Hinter den Kulissen des Seelenbetriebes (2/97)
  • Trends, Moden, Zeiterscheinungen

Kulturpsychologie als Psychologie der Gegenwartskultur (1/98)

  • Der Alltag als Gegenstand der Kulturpsychologie (2003)
  • Alltag im Wunschformat

Über Internatserziehung im Blick der Eltern (2003)

  • Kulturen im Dialog – Notizen über den Dialog der Kulturen in der Psychologie (2011)
  • Morphologie ist keine Kunst (2/22)
herbert fitzek

Autor:in

Prof. Dr. Herbert Fitzek ist psychologischer Psychotherapeut und hat nach einer Therapieausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (Analytische Intensivberatung) einige Jahre lang freiberuflich als Psychotherapeut, Coach und Organisationsberater gearbeitet; 1999 Approbation als psychologischer Psychotherapeut. Seit 2006 als Gründungsdekan Aufbau des Bereiches Wirtschaftspsychologie im Fachhochschulbereich. Seit 2010 ist er als Prorektor Forschung in der Hochschulleitung der BSP Business & Law School Berlin tätig und engagiert sich in nationalen und internationalen Projekten und Kooperationen.

Kontakt: herbert.fitzek@businessschool-berlin.de

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