Konstruktionserfahrung am Ball – Ein psychologischer Beitrag zur Wirkung des Fußballspiels

Ein psychologischer Beitrag zur Wirkung des Fußballspiels

 

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Prof. Dr. Andreas Marlovits hat Psychologie an der Universität zu Köln sowie Sportwissenschaften und Theologie an der Universität Graz studiert. An der Business and Law School Berlin bekleidet er eine Professur für Sportpsychologie, verantwortet dort die Ausbildung im Masterprogramm ‚Sportpsychologie‘ und ist seit Kurzem auch Gründungsdekan der neu eingerichteten Fakultät „Applied Sport Sciences & Personality“. Als praktisch tätiger Sportpsychologe arbeitet er seit vielen Jahren im professionellen Fußball und Tennis.

Kontakt: marlovits@eludo.net

Konstruktionserfahrung am Ball - Ein psychologischer Beitrag zur Wirkung des Fußballspiels

Der Mensch spielt Fußball, weil seine Füße gestalten können. Gunter Gebauer

Dass das Fußballspiel wirkt, ist keine neue Erkenntnis. Man kann sich lediglich beeindruckt zeigen von seiner umfassenden und durchdringenden Wirkung dieses Sportes. Sie reicht vom Jungen – und mittlerweile auch Mädchen – am Bolzplatz, die früh und mit großer Leidenschaft gegen den Ball treten, über die immer großen Träume von einer eigenen Fußballkarriere, die wohl viele in frühen Jahren in sich tragen. Bis hin zum Fußball als gesellschaftliches Großereignis, dass ein Wochenende in seiner Gestaltung einzunehmen versteht oder bei internationalen Turnieren die ganze Welt ganze Wochen in Spannung zu versetzen mag. Was ist bloß dran an diesem sicherlich nicht sehr komplizierten, teils rohen aber auch ästhetischen Spiel einer Elf in kurzen Hosen, das jedem Wetter trotzt und eine Stundenwelt von 90 Minuten aufweist? Man kann getrost von einem Geheimnis sprechen, das diesem Spiel innewohnt. Keine andere Sportart vermag Woche für Woche Hunderttrausende in Bewegung zu setzen, die alles stehen und liegen lassen, um an einem Spiel ihrer Mannschaft teilhaben zu wollen. Fußballspiele lassen nicht kalt. Anders als in anderen Sportarten bilden Spiele über Jahrzehnte Gesprächsstoff in Kneipen und an geselligen Abenden. Ein Sieg im Fußball versetzt Menschen und ganze Nationen in ekstatische Freude. Eine Niederlage vermag sie in eine tiefe Melancholie zu stürzen. Siege bei Weltmeisterschaften können zur Basis für einen wirtschaftlichen Aufschwung erhoben werden (Weltmeisterschaft Deutschlands 1954). Sie können zu Meilensteinen in der Rivalität zwischen Nationen werden (Österreichs Cordoba-Sieg bei der WM 1998 gegen den großen Konkurrenten aus Deutschland) oder zum schmerzlichen Kulminationsereignis einer langanhaltenden nationalen Schieflage verdichtet werden (7:1-Niederlage Brasiliens gegen Deutschland). Auf verborgene Art und Weise kann sich das lokale oder nationale Selbstbewusstsein aus der Performance seines Fußballteams speisen oder fungiert wie ein Spiegelbild seines Zustandes.

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Wenn man als Sportpsychologe im professionellen Fußball arbeitet wird man mit den Wirkungen, die aus einem Spiel selbst hervorgehen, unmittelbar und mit voller Wucht konfrontiert. Ein Sieg wirkt wie ein Zaubertrank. Er macht das Team stark, selbstbewusst und für eine kurze Zeit beherrschen Glück und Frieden Kabine und Verein. Eine Serie von mehreren Spielen erzeugt eine Leichtigkeit im Können und erhöht das Selbstverständliche im Tun. Man vermeint zu schweben und alles gelingt scheinbar mühelos. Ein verlorenes Spiel im Profifußball ist ebenso wenig nicht einfach ein verlorenes Spiel und als solches ohne Mühe abzuhaken. Eine Niederlage entfaltet eine alles durchdringende zersetzende Wirkung. Verfassungen werden irritiert und instabil. Können stellt sich in Frage. Qualität gerät unter Druck oder geht verloren. Spannungen und Angespanntes beginnt das ganze Gebilde zu besetzen.

In der Art, wie über das Spiel gesprochen wird, wie es oft über Tage oder Wochen nachwirkt und immer wieder am Stammtisch, unter Fans oder leidenschaftlichen Fachleuten thematisiert wird, macht deutlich, dass im Fußballspiel mehr zum Tragen kommt, als man gemeinhin denkt. Das wird auch sichtbar in Spielen, die sich tief ins kollektive Gedächtnis von Nationen oder Städten eingegraben haben, um von dort aus ihr Selbstverständnis zu formen. Deutschland gegen Ungarn in der Weltmeisterschaft 1954. Oder die ‚Mutter aller Fußballtraumata‘ – Manchester United gegen Bayern München 1999 im später Champions League genannten Wettbewerb der Landesmeister, mit einer bis heute nachwirkenden Qualität einer unfassbaren Drehung des Spiels zu seinem Ende in grausigen 90 Sekunden, die aus einem sicher geglaubten Triumph eine der bittersten Niederlagen der Bayern machte. Über Monate und Jahre hat dieses Trauma das Handeln der Verantwortlichen bei Bayern München beeinflusst. Genannt sei natürlich auch das Herzschlagfinale der Saison 2000/01 mit dem Meister der Herzen auf Schalke, wo eine ganze Region innerhalb von vier Minuten einen dramatischen Fall von ganz oben nach ganz unten erleben musste. Schalkes damaliger Manager Assauer verglich dieses Erlebnis mit dem eines Flugzeugabsturzes, einem Fall ins Bodenlose und Zerschmettert-Werden.

Euphorisierende Aufstiege und demoralisierende Abstiege, ein Hoffen bis zum letzten Spieltag und ein Scheitern im Angesicht der großen Chance, Fangesänge und Choreographien, Fans in Trikots, sich mit Wildfremden beim Tor in den Armen liegen und kollektiven Rausch verspüren – das und viel mehr ist Fußball. Da darf man schon die Frage nach der Bauweise oder Seelenarchitektur des Fußballs stellen. Wie macht das der Fußball? Wie bewegt und erreicht er die Herzen von Menschen? Wie erzeugt sich aus ihm heraus seine einnehmende Kraft und betörende Wirkung? Wie schafft er es zu ergreifen, zu berühren, zu verführen, zu zermürben, tieftraurig und glückselig zu machen? Wie schafft es ein Spiel, in dem es nur selten wirklich zum ‚Erfolgserlebnis‘ kommt und das primär aus einem Anrennen und Verhindertwerden besteht, so umfassend zu bewegen? Kurzum: Wie lässt sich die beeindruckende Wirkung im Fußball verstehen?

Das 1:7 gegen Deutschland verdarb bei der WM 2014 nicht nur diesem Brasilianer die Laune. Foto: Getty

Ins Spiel kommen

Über den Fußball ist bereits sehr viel geschrieben und geforscht worden. Meist aus unterschiedlicher Fachperspektivität – der philosophischen, soziologischen, psychologischen, biologischen, ökonomischen oder medizinischen. Allerdings gibt es wenige Untersuchungen, in denen das Phänomen Fußball selbst in seiner Form und Gestaltetheit in den Blick genommen wurde und ebenso wenig die Wirkung, die von dieser konkreten Gestalt hervorgeht. Die Rekonstruktion der Wirkung des Fußballspiels soll hier von seiner Morphologie, also von seiner Gestalt und Gestaltetheit her geleistet werden (vgl. Salber 1986, 1991, 1998). Welche Wirkungen lassen sich aus der Form des Fußballspiels und seiner herausmodellieren, die Antwort auf die Frage geben können, was die besondere Leidenschaft, den Spaß und die Freude am Fußballspiel ausmachen? Was wirkt und wird wirksam im Fußball als ein konkret erlebbares Phänomen?

Mit dem Fußballspiel hat man es mit einer Gestaltungsform zu tun, in der zwei Mannschaften, bestehend aus jeweils 11 Spielern, gegeneinander auf einem markierten Spielfeld antreten. Das Spielfeld misst in der Regel ca. 110 x 85 Meter und ist durch weiße Linien in zwei Hälften sowie zwei Strafräumen getrennt. An den beiden gegenüberliegenden Enden des Feldes steht je ein Tor aus Aluminium mit einer Größe von 7,32 x 2,44m.

 Wie die Begriffsbezeichnung schon nahelegt gilt im Fußball die Regel, dass das Spielgerät, ein Ball, mit dem Fuß bzw. allen anderen Körperteilen zu spielen ist. Ausgenommen davon sind Arme und Hände. Sie sind mit einem strikten Nutzungsverbot in der Berührung des Spielgeräts belegt. Im Strafraum gelten besondere Regeln. Innerhalb dieses besonderen Raumes wird dem Torwart das Recht zur Nutzung der Arme und Hände zugesprochen. Außerhalb dessen wandelt sich der Torwart vom Handspieler zum Fußspieler. Zur Differenzierung tragen die jeweiligen Teams gleiche Trikots. Zur Differenzierung der Spieler innerhalb einer Mannschaft trägt jeder Spieler auf dem Rücken seines Trikots eine ihm allein zugewiesene Nummer. Das Spiel selbst hat eine zeitliche Begrenzung auf 90 Minuten und wird in zwei Hälften je 45 Minuten geteilt. Eine allen Mannschaften zugesprochene Pause zur Halbzeit des Spiels beträgt 15 Minuten. Das Spiel wird durch Tore entschieden. Wer mehr Tore geschossen hat gewinnt das Spiel. Bei Gleichstand an Treffern oder bei keinem erzielten Treffer beider Mannschaften wird das Spiel als Unentschieden gewertet.

Die Psychologie des Fußballs kommt vom Fuß

Fußball bezieht seinen Namen vom Fuß, weil der Ball hauptsächlich mit dem Fuß gespielt wird. Diese Feststellung ist so selbstverständlich und fast schon banal, dass man glaubt, diesem Faktum keine Bedeutung zukommen lassen zu müssen. Aber in der Tatsache, dass im Fußball der Ball primär mit dem Fuß bewegt wird, liegt ein für das Verständnis vom Fußball bedeutsamer Zusammenhang verborgen. Um ihn klarer verstehen zu können müssen wir uns zwei wichtige historische Daten der Entwicklung dieses Spiels vor Augen halten.

Es ist gemeinhin bekannt, dass die Wurzeln des modernen Fußballs im Rugbysport des 19. Jahrhunderts liegen. Einer Sportart, in der – übrigens bis heute – Arme und Beine im Spiel genutzt werden können. Das Spielgerät darf im Rugby sowohl mit den Armen gefangen und geworfen als auch mit den Füßen getreten werden. Zudem darf – ebenso bis heute – im Rugby auch der Gegner direkt mit Armen und Beinen direkt angegangen und attackiert werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt die sich herausbildende Form des Fußballs – vertreten durch die Football Association (FA) – immer stärker vom Rugby zu entfernen. In einer ersten wichtigen Zäsur beschließt die FA 1863, dass im Fußball ausschließlich der Ball getreten werden soll und nicht mehr auch der gegnerische Mitspieler. Nur acht Jahre später, 1871, dann die zweite wichtige Regelung. Die FA verbietet allen Feldspielern das Spiel mit der Hand. Nur der Torwart darf den Ball in der eigenen Hälfte in die Hand nehmen. Auch diese Freiheit wird später auf den eigenen Strafraum begrenzt.

Für die Rugby-Fraktion war damit eine Grenze überschritten. Nicht mehr den Gegner direkt –mit allem was einem zur Verfügung steht – attackieren zu können, wurde als zu weich erlebt. Die Arme allerdings nicht benutzen zu dürfen überschritt in einer unerträglichen Weise das männliche Selbstverständnis. Diese deutliche Behinderung des Einsatzes der körperlichen Möglichkeiten wollte und konnte man nicht akzeptieren. Als Protest auf diese Regel und zur Sicherung der eigenen Sportart wurde eine eigene Liga gegründet – die Rugby Football Union. Im Rugby sollte weiterhin der volle Einsatz der Arme erlaubt sein, sowohl zum Werfen und Fangen, als auch zum Tackeln des Gegners. Während im Rugby weiterhin die Arme für das Niederringen des Gegners benutzt werden durften, musste der Fußball dafür das Grätschen und Rutschen erfinden. Mit der unterschiedlichen Handhabe der Arme und Hände war genügend Material für das Auseinanderdriften beider Formen gegeben. Fußball und Rugby gingen fortan getrennte Entwicklungswege. Bis heute dürfen im Rugby wie auch in seiner amerikanischen Variante dem American Football auch die Arme benutzt werden. Man kann an diesem frühen Schisma des Sports erkennen, dass sich an der Frage um die Nutzung oder den Ausschluss einzelner Körperteile komplette Trennungen innerhalb einer Sportart vollziehen können und sich einzelne Sportarten gerade über die Nutzung oder Nicht-Nutzung von Körperteilen in ihrem Wesen bzw. Bauplan definieren. Der Fußball über das primäre Spielen des Balles mit dem Fuß, Rugby über die Nutzung von Armen und Beinen. Das reicht für die Grundlegung einzelner Sportarten aus einem gemeinsamen Kern aus.

Man darf diese beiden historischen Daten in ihrer die Form des Fußballs prägenden Wirkung nicht unterschätzen. Durch den Ausschluss der Arme wird im Fußball das Zentrum des Tätigseins auf die Beine gelegt. Der Schwerpunkt des Spiels verlagert sich vom ganzen Körper und seinen Handlungsmöglichkeiten nach unten. Das ‚Gehorgan‘ wird zum Zentrum des Spielens und Gestaltens. Im Alltag werden Beine und Füße in überwiegender Mehrheit zur Fortbewegung – zum Gehen und Laufen – genutzt. Im Fußball kommt zum Laufen noch ein zweites hinzu. Denn im Fußballspiel werden die Beine neben dem Laufen primär genutzt, um gegen den Ball zu treten. Das Treten gegen etwas ist in seinem Wesen aggressiv (lat. aggredi), wie man am Treten und Tritt gegen den anderen leicht erkennen kann. Der Tritt gegen den anderen ist Ausdruck höchster Aggression.

Das Aggressive, das im Treten gegen den Ball entsteht, kann also als die psychologische Grundqualität verstanden werden, die die Gestalt Fußball durchzieht. Der Besuch eines Fußballspiels lässt diese Grundqualität nicht nur an den Spielern selbst, sondern auch an den Stimmungen im Stadion und dem Verhalten der Fans selbst schnell sicht- und spürbar werden. Ihre Lautstärke, das Rohe und Derbe ihrer Äußerungen, die Beschimpfungen gegen den Schiedsrichter und Gegner. Das Aggressive des Spiels, das über das Treten gegen den Ball evoziert wird, entzündet sich auch auf den Rängen und sucht auch dort nach unterschiedlichsten Möglichkeiten, seinen Ausdruck und Ausbruch zu finden (vgl. Gebauer 2006; 2016). Im Fußball gibt es daher keine Ruhe oder Stille. Fußball setzt einen Aggressionsraum in Szene. Dort drängt es auf lauten Ausdruck des Aggressiven, auf Pfiffe, auf Schreien und Anschreien, auf Anfeuern und Brüllen, auf Schimpfen und Beschimpfen. Die Grundtönung des Fußballspiels ist das Aggressive, das über das Treten des Balles als elementaren Handlungsakt in der Ausgestaltung des Spiels ins Spiel gebracht wird.

Im Treten gegen den Ball bleibt der Fußball allerdings nicht in seinem rohen Gewaltausdruck verhaftet. Der Ball soll durch das Treten ja gespielt werden. Aus dem rohen, aggressiven Treten gegen den Ball muss ein gefühlvolles, wohl dosiertes Behandeln des Balles werden. Aus dem isolierten Treten gegen den Ball soll ein Zuspielen zu einem anderen werden. Aus der Alleinhandlung wird ein Zueinander und Miteinander. Das Aggressive erfährt eine Wandlung und verwandelt sich vom Treten ins Passen, vom Dagegen in ein Mit. Aus einem wuchtigen Dagegen wird ein zielgerichtetes Zuspielen. Aus der bloßen Aggressionsabfuhr über das Treten rückt im Passen ein anderer in den Blick. Fußballspielen ist daher eine Spielform, mit der Aggressives kultiviert wird. Im Fußball als Sportspiel steht fortan das Miteinanderspielen im Fokus und zwar durch einen ständigen Transformationsvorgang und

zugleich Behandlung von zerstörerischer Aggression in ein miteinander Spielen. Daher eignet sich gerade der Fußball als völkerverbindende Sportart und erfährt globale Popularität, da die Umwandlung des Zerstörerischen ins Kultivierte zentrale Aufgabe jeder Gesellschaftsform ist (vgl. Freud 1930; Elias & Dunning 1966, 1989). Fußball kann daher auch in all jenen Gesellschaftsformen wirksam werden, in denen das Aushalten-Müssen von Aggressivem, das oftmals aus einer langanhaltenden Unterdrückung resultiert, von besonderer Relevanz erscheint. Die Geschichte vieler europäischer und südamerikanischer wie auch afrikanischer Völker sind gekennzeichnet von solcherart Repressalien.

Der in jedem Pass zu vollziehende Kultivierungsvorgang während des Spiels reizt vor allem das Männliche, das vermeintlich eine größere Behandlungsnot mit dem Aggressiven hat als das Weibliche. Diejenigen, die diesen Verwandlungsvorgang in Form einer herausragenden Ballbehandlung beherrschen wie ein Pelé, Beckenbauer, Maradona, Messi werden in den Olymp gehoben (‚Kaiser‘, ‚Fußballgott‘) und heute auch mit schwindelerregenden Gehältern entlohnt. Darin scheinen Kulturen die besondere Leistung dieses Transformationsvorgangs zu erkennen und würdigen.

Die Kultivierung des Tretens ist die psychologische Keimform des Fußballspiels. Durch das Treten mit dem Fuß gegen den Ball wird der Fußball mit einer ihm typischen Wirkung und einem einmaligen psychologischen Komplex aufgeladen, die für die Popularität dieser Sportart von entscheidender Bedeutung sind. Die Zentrierung der Tätigkeit auf die Füße im Fußball und ihre daraus resultierende Wirkung wird durch einen körperlichen Gegenzug – der Einschränkung der Gebrauchsmöglichkeiten der Hand – ergänzt und verschärft. Im Fußball werden Armen und Händen eine untergeordnete Rolle zugebilligt. Die Arme werden lediglich zur Fortbewegung und zur Stabilisierung des spielenden Körpers zugelassen, während die Nutzung der Hände komplett verboten wird. Die Hand als das Kulturorgan schlechthin, über dessen feinmotorischer Nutzung und vielfältiger Gestaltungsmöglichkeiten sich die zentralen Kulturbereiche von Schrift, Sprache, Kunst, Intelligenz entwickeln konnten, wird im Fußball ausgeschlossen. Nicht von ungefähr fordern daher ‚Hand-Sportarten‘ wie etwa Golf oder Tennis von seinen Akteuren dem Ausdruck und Wettkampf eine kultiviertere Umgangsform ab. Im Tennis fordert der Schiedsrichter mit einem entschiedenen „Quiet, please!“ zur radikalen Selbstdisziplinierung auf, bevor das Spiel freigegeben wird. Ruhe und Stille sind im Tennis notwendige Bedingung für die Durchführung des Spiels – im Fußball, bedingt durch seine aggressive Grundqualität, wäre diese Selbstbeherrschung komplett undenkbar. Anspruch und Kultiviertes zeigen sich aber auch in der Komplexität der Sportart selbst (etwa Zählweise im Tennis und Golf) sowie im Anspruch an den Ausdruck und das Verhalten (weiße Kleidung, Markenverwendung/Uhren, Sekt und Erdbeeren in Wimbledon, Jackett im Golf).

Das Ausschließen der Hand und der Arme als Handlungsorgane für das Spiel verstärkt die Zentrierung des Geschehens im Spiel auf die Beine und damit zugleich die aggressive Grundtönung im Fußball. Die Arme erscheinen nutzlos und zum Gleichgewichtsorgan verkommen. Die Hände werden in ihren Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten nicht nur beschränkt, sondern in ihrer Nutzung sogar durch Bestrafung ausgeschlossen. Berührt man mit ihnen den Ball in der speziellen Verbotszone des Strafraums, ergibt das eine besonders harte Strafe – den Strafstoß aus 11 Metern. Der Fußballspieler muss sich also mit einer Teilbehinderung auf dem Platz bewegen. Seine Arme und Hände sind vom Spielbetrieb ausgeschlossen.

Im Regelfall würde ein Kultivierungsanspruch primär über die Nutzung der Arme und Hände realisiert werden. Die besondere Wirkung und Faszination des Fußballs geht vom Ausschluss der Hände als Kultivierungsmöglichkeit aus. Das Geschehen verlagert sich ‚nach unten‘ ins Treten und Aggressive. Dort geschieht nun die Kultivierung durch eine Verwandlung des aggressiven Dagegen in ein kunstfertiges Miteinander. Die Psychologie des Fußballspiels kommt aus den Beinen. In der Ballbeherrschung und im Passen liegt das gesamte Wandlungsversprechen des Fußballs. Indem wir uns mit ihm mitbewegen, erfahren wir ein konkretes Bild für den Umgang mit Zerstörerischem. Die Faszination am Fußballspiel liegt zu einem wesentlichen Teil in der Kultivierung des Aggressiven. Das Produkt dieses Umformungsprozesses, das gestaltende Spielen mit dem Ball, ist damit zu etwas Künstlichem und Kunstvollem geworden. Natürlich wäre das Dagegen-Treten. Kulturleistung ist das Passen. In der Sprache des Fußballs finden sich markante Hinweise auf das Wissen um diesen Zusammenhang des Kunstvollen. Da ist vom ‚Kunstschützen‘ die Rede, der den Ball beim Freistoß unhaltbar ins Eck zirkelt. Der Fußballer selbst wird in seinem besonderen Können als ‚Künstler‘ bezeichnet und ein besonderes Tor oder die Spielart eines Teams als ‚Kunstwerk‘. Die Anerkennung dieses Umwandlungs- und Formungsprozesses erfährt in vielen Kulturen einen hohen Wert. Je besser Spielern die Transformation des aggressiven Tretens in ein kunstvolles Behandeln des Balles gelingt, umso höher ist ihr (Markt-)Wert und umso höher das Ansehen, dass ihnen zukommt. Die ständige Umwandlung des Aggressiven ins Kultivierte, das kunstvolle Können ist eben etwas, was an menschliche Grenzen führt und in ihrer Anforderung fast schon an eine Leistung der Götter erinnern lässt.

Am Fußball wird damit erfahrbar, was jeder von uns jeden Tag zu leisten hat. Kultur als Form des Miteinanders verlangt andauernd eine Umwandlung von Zerstörerischem. Menschen als Kulturwesen stehen in der Aufgabe, Aggressives in eine Kultivierung und damit in eine Form zu bringen, die ein Miteinander möglich macht. Vor diesem Hintergrund bekommt man vielleicht eine Idee davon, warum Fußball im Kern eine männlich geprägte Sportart ist. Das Aggressive scheint dem Männlichen ein größeres Thema zu sein als dem Weiblichen. Dies könnte auch eine Erklärung dafür sein, warum der Frauenfußball grundsätzlich um eine Anerkennung ringt. In ihm scheint das Ausmaß der Umwandlungsnot weniger stark vorhanden zu sein als im Männerfußball.

Die Elf als ein Ganzes

Als zweiter Faktor zur Faszination am Fußball rückt das Gebilde von 11 Spielern in den Blick. Im Fußball bilden 11 Spieler eine Mannschaft. Bereits die Beschreibungen, die für die Spieler verwendet werden, deuten an, dass es sich dabei um ein besonderes, eigens geformtes Gebilde handeln muss. Mannschaft, Team, Truppe, die Elf sind Begrifflichkeiten, die ein Mehr und Anders als 11 Teile sprachlich fassen wollen. Sie betonen ein Zusammenwirken zu einem Größeren oder weisen auf eine Verbindung zwischen den Elementen hin, die aus 11 eben ein Mehr – ‚die Elf‘ – machen. Es ist nicht von einer Gruppe die Rede, sondern von einem Team, verstanden als ein Organismus oder Gebilde, in dem die einzelnen Teile zu etwas anderem verwachsen. Dass etwas zwischen den Spielern zur Wirkung kommt und aus den Spielern auch mehr macht als einen losen Verbund oder eine Gruppe wird bildsprachlich mit dem Teamgeist umschrieben. Zwischen den Elementen bzw. Teilen besteht etwas Geistiges, was man nicht anfassen kann und dennoch die Einzelnen zu einem größeren Gebilde oder Handlungskörper formt. Als solcher oder als ein solches Ganzes soll das Team nun handeln. Zwischen den einzelnen Spielern soll keine Differenz, nichts wirklich Eigenes oder Individuelles mehr sein. Das Gebilde als Ganzes soll wie eine Einheit agieren.

Damit wird dem Gebilde eine psychologische Thematik als Anforderung und Ideal unterlegt. Elf Spieler sollen ‚als Elf‘ eine Einheit bilden, indem jeder Spieler als Teil des Ganzen sein Individuelles zugunsten des Ganzen in den Hintergrund zu stellen oder sogar aufzugeben hat. Das Handeln als einer Einheit ist nicht nur das von vielen Trainern angestrebte Ziel („Wir müssen als Einheit spielen!“), sondern auch ein Faktor, der am Fußballspiel so fasziniert. Weit weg vom Individuellen einer Einzelsportart verlangt der Fußball aufgrund der Größe des Spielfeldes ein Zurückstellen individueller Strebungen. Der eine ist auf den anderen angewiesen, will man zum gegnerischen Tor gelangen. Alleine ist die Überbrückung nahezu ausgeschlossen. Dazu ist das Spielfeld zu groß und zu viele Spieler am Platz, die sich einem in den Weg stellen. In dieser Anordnung unterscheidet sich der Fußball fundamental in seinen Wirkmöglichkeiten von anderen Teamsportarten wie Basketball oder Handball, in denen das Spielfeld deutlich kleiner ausfällt. Das Zurückstellen des Individuellen ist also notwendige Bedingung zur Möglichkeit, eine Einheit mit mehreren werden zu können. Die Bewegung zum Einheit-Werden, die darin notwendige De-Personalisierung sowie das Aufgehen in einem größeren Gebilde üben eine betörende Wirkung aus, die nahezu einmalig in der Sportlandschaft erscheint.

Die Psychologie kennt die besondere Wirkung, die von einer Einheit ausgehen kann, bereits sehr lange. Wissenschaftlich wurde die sog. ‚Übersummativität‘ durch von Ehrenfels (1890) sowie den Gestalt- und Ganzheitspsychologen (vgl. Wertheimer 1925; Klemm 1934, 1936; Koffka 1935, 2008; Metzger 1999) nachgewiesen. Ein Ganzes ist ‚mehr und anders‘ ist als die Summe seiner Teile. Das Teil steht in einem Verhältnis zum Ganzen und das Ganze in einem Funktionsverhältnis zu seinen Teilen. Im Zusammenwirken der Teile ergibt sich ein ‚Mehr‘, eine eigene Qualität im Wirken, die das Können der Einzelteile übertrifft. Im Fußball bzw. Profifußball ist dieses Wissen um das Wirken eines Ganzen fest etabliert und gelebte Praxis. Eine Fußballmannschaft, die in ihrem Spielen tatsächlich zu einer Einheit wird, zu einer Art Kollektiv oder Organismus, hat also einen entscheidenden Vorteil. Spieler verspüren und wissen um die Wirkung, die im Handeln aus einem größeren Organismus heraus alle über sich hinauswachsen lässt. Deshalb haben sich auch spezielle Formen und Handlungen entwickelt, die das Herstellen einer Einheit zwischen den Spielern fördern sollen. Im Spielerkreis zu Beginn des Spiels wie auch im Torjubel lässt sich die Einheitsbildung und ihre Dynamik besonders gut erkennen und miterleben.

Eine der wohl auffälligsten und sichtbarsten Handlungen zur Einheitsbildung liegt im Spielerkreis, den viele Mannschaften kurz vor Anpfiff des Spiels auf dem Platz bilden. In der Umarmung der benachbarten Spieler und indem alle das tun, entsteht eine Geschlossenheit untereinander, die ein Eins-Werden entstehen lassen möchte. Der Kreis ist das Symbol der Einheit schlechthin. Körper an Körper, die Arme um den Nachbarn gelegt, alle Köpfe zur Mitte und nach unten gewandt. In diesem Bild des Kreises wird das Gebilde der Einheit sichtbar und auch der Anspruch, Einheit zu werden. Elf Spieler sollen zu einem einheitlichen Gebilde verschmelzen. Die Spieler erscheinen von außen betrachtet als großer Einheits-Körper und nicht als elf einzelne Spieler. Das was nach außen hin sichtbar wird, soll sich auch zwischen den Spielern entwickeln. Sie wollen Einheit sein, sich als Teil eines Ganzen verstehen und die spezielle Wirkung der Einheit nutzen.

Der Torjubel als zweite, allen bekannte Handlungsform, macht vor allem in seinem dynamischen Verlauf die höchst spannende Wirkung der Einheitsbildung erlebbar. In den Regularien des Fußballs gibt es keine Regel dazu, wie man sich als Spieler im Fall eines Torerfolgs zu verhalten habe. Dennoch scheint es eine allgemeingültige Form des Torjubels zu geben, eine Art Choreographie, die weltweit mit dem Torerfolg in Szene gesetzt wird. So als wenn es ein geheimes internationales Abkommen zwischen den Spielern über die Durchführung des Torjubels gegeben hätte, an das man sich weltweit zu halten habe.

Wird ein Tor geschossen, läuft der Schütze in den meisten Fällen – meist mit hohem Tempo vom Tor weg in Richtung Seitenaus oder Eckfahne. Auf dem Weg dahin oder das Ende des Weglaufens markierend wird von vielen Spielern eine Jubelpose eingenommen, die den Schützen in seiner individuellen Besonderheit auszeichnet. Ein Salto, eine halbe Drehung in der Luft, ein Bogen, der mit den Armen gespannt wird, ein angedeutetes Rühren in einem Topf usw. Die gewählten Ausdrucksformen der Torschützen ist so vielfältig wie die Torschützen selbst. Jeder hat seine eigene Bewegungsnote. Zeitglich beginnt sich der Rest des Teams mit unvermittelt hohem Tempo in Richtung Schützen auf den Weg zu machen. Der Schütze bleibt in seiner individuellen Jubelpose nicht lange alleine, sondern wird vom Rest der Mannschaft oft auf freundliche, manchmal brutale, immer aber sehr entschiedene Art und Weise eingefangen. Eine Horde von Männern läuft hemmungslos auf den Schützen zu, umarmt ihn, steckt die Köpfe zusammen, fällt teilweise über ihn her oder bildet mit Flugsprüngen einen Körperhaufen, der den Schützen unter sich begräbt. Alle wollen teilhaben. Alle wollen den Schützen berühren, am Kopf, an der Schulter, mit einer inniglichen Umarmung, mit einem freundschaftlichen Klaps, manchmal sogar mit einem Kuss. Dann löst man sich voneinander, orientiert sich am Platz und begibt sich in einem kleinen Pulk, der eine noch näher am Schützen, der andere schon ein wenig weiter weg, in die eigene Spielhälfte.

Pfrondorfer Jubeltraube im Spiel TSV Altingen gegen den SV Pfrondorf (Kreisliga A) bei strömendem Regen: Trainer Rasmus Joost (ganz unten) wird von seinen Spielern überrumpelt und gefeiert. Bild: Rippmann

Natürlich freuen sich alle im Team ob des Tores. Doch reicht Freude aus, um diese komplexe Choreographie mit dem teils hemmungslosen Aufeinander zu verstehen? Wenn man das Nacheinander des Verhaltens in den Blick nimmt, fällt zunächst der Torschütze auf. Er finalisiert einen Angriff des Teams, indem er den Ball im Tor unterbringt. Dann löst er sich aus dem Geschehen und geht sinnbildlich seine eigenen Wege. Er vereinzelt sich und hebt sich vom Rest, der Einheit, heraus. Die Einheit musste er schon kurz vorher im Moment des Erzielens des Tores auflösen. Er musste etwas zum Abschluss bringen, was ihn nun zu etwas Besonderem macht und individuell oder einzelteilig werden lässt. Im Abschließen eines Prozesses hebt er sich aus der Einheit heraus, verlässt sie auch kurzzeitig und man kann vielleicht auch sagen, muss sie kurzzeitig verlassen, um überhaupt abschließen zu können.

In seiner eigenen Jubelpose bringt er das Individuelle und damit die Abspaltung von der Einheit besonders zum Ausdruck. Er zeigt sich darin den Zuschauern und erhöht sich gegenüber der Einheit. In der individuellen Jubelpose zelebriert er das Einzelteilige und will damit ein Stück weit durchkommen. Bereits im Versuch sich herauszulösen antwortet die Einheit mit einem Sturmlauf auf den abgespaltenen Teil. Die Einheit weiß intuitiv um die Gefährdung, die aus der Abspaltungsbewegung im Torabschluss hervorgeht und sucht daher mit hohem Tempo den Kontakt mit dem Fremdgänger. Im Berühren, Abklatschen, in der engen Umarmung oder auch im wilden Aufeinander als Haufen versucht die Einheit das abgespaltene Element wieder einzugemeinden. Das kann mitunter bereits beim Zusehen Schmerzen bereiten.

Das Fußballspiel lässt das Werden einer Einheit erleben. Er versinnbildlicht die Erfahrung des Aufgehens in einem größeren Ganzen und bedient die Sehnsucht des Seelischen, sich darin eine Erleichterung zu schaffen (vgl. Freud 1921). Zugleich setzt das Spiel in seinem höchsten und erfüllenden Moment, dem Torerfolg, eine Erfahrung des Spaltens und der Vereinzelung, die sich ins Individuelle und Besondere hochschrauben möchte, um dann wieder im Gemeinsamen der Einheit aufgelöst zu werden. Die Verdichtung dieser Grundspannung in einer dynamischen Handlungsszene berührt und fasziniert. Sie erinnert an Komplexe wie den des Ödipus, in dem mehrere, sich ausschließende Strebungen in einem dynamischen Geschehen aufeinandertreffen und eine Lösung finden müssen. Auf jeden Fall scheint sie für die Handhabe des Seelenbetriebs so relevant zu sein, dass sie keine Befriedigung kennt und mit jedem Spiel neu erlebt werden möchte. Der Torjubel fühlt sich daher niemals alt an. Nicht einmal für Fans von Mannschaften, die von Erfolg verwöhnt sind und in jedem Spiel mehrfach Anlass zum Jubeln geben. Die psychologische Konstruktion des Torjubels erschafft ihn ständig neu.

Körperkontakt als Widerstandserfahrung

Ein weiteres Bestimmungsmerkmal das Befragte und Aktive zum Spiel benennen ist der Körperkontakt, der im Spiel möglich und gewünscht ist. Im Fußball ist es erlaubt, den Gegner mit dem eigenen Körper zu berühren, zu bedrängen und im Kampf um den Ball auch hart anzugehen. Erlaubt sind Einwirkmöglichkeiten des unmittelbaren Körperkontaktes wie drücken, drängeln, schieben, blocken, grätschen. Dies alles sind Handlungen, die auf ein Einwirken auf den Körper des anderen zum Ziel haben, um sich in eine bessere Position zum Ball und damit zur Spielbestimmung zu bringen. Darüber hinaus wird der eigene Körper im Spiel auch weniger unmittelbar zum Einsatz gebracht, nämlich für das Zustellen oder Öffnen von Räumen. Im Fußball ist es möglich im ‚Schatten‘ oder ‚Halbschatten‘ eines Spielers zu stehen, ‚gedeckt‘ und damit nicht anspielbar zu sein.

Die Wirkung des Körpers ist also unmittelbar im Zweikampf und mittelbarer in seiner Positionierung im Raum. Immer geht es darum, mit seinem Körper ein freies Handeln des Gegners zu irritieren, zu stören oder im Ideal zu unterbinden. Ein glattes Durchkommen kommt im Fußball äußerst selten vor. Der Gegner soll – so die Traineranweisung – so früh wie möglich, am besten bereits bei der Ballannahme ab einer bestimmten Zone am Platz, gestört werden. Je näher der Ball Richtung Strafraum gebracht wird, umso massiver wird das unmittelbare körperliche Einwirken des Gegners und umso schwerer wird das Durchkommen. Wirkung und Gegenwirkung werden also primär in Bewegung und im körperlichen Kontakt ausgetragen. Der körperbetonte Zweikampf ist wesentlicher Bestandteil des Fußballspiels. Bereits historisch war der Fußball ein raues Spiel, das vor dem intensiven Einsatz des Körpers im Spiel nicht zurückschreckte. Von Fußballmannschaften wird das Kämpfen und ein bestimmte Leidenschaftlichkeit in den Zweikämpfen auch lautstark von den Fans eingefordert („Kämpfen! FC Kämpfen!“).

In der psychologischen Qualität und Wirkung, die mit dem Körperkontakt in das Spiel kommt, lässt sich unschwer Widerständiges erkennen. Ein wesentliches Kennzeichen des Fußballspielens ist das Handeln unter Widerstand. Die Qualität des Widerstands ist ein sehr unmittelbarer, heftiger und bisweilen schmerzhafter. Im Widerstand wird gerungen, gedrückt, getreten, geschubst, gecheckt. Manchmal zeigt sich der Widerstand in brutalen Fouls, vereinzelt im Schlagen oder Beißen des Gegners. Die Normalität im Fußball ist die Widerstandserfahrung. Deutlich wird einem das im Wechsel der Sportart. Wenn man also vom Fußball herkommend plötzlich Tennis spielt, merkt man, dass man zunächst die ungestörte Freiheit zum Schlagen hat. Niemand stört einen in der Ausführung des Schlages. Man muss sich lediglich etwas mehr bewegen, wenn der Spielpartner den Ball longline oder cross gespielt hat. Aber die Ausführung der Handlung selbst stört im Tennis, Golf und vielen anderen Sportarten keiner. Im Fußball ist das anders. Das Durchsetzen des eigenen Handelns findet fast ausschließlich unter dem druckvollen Einwirken und Stören des Gegners und auch der Zuschauer statt. Womit sich also Fußballspieler immer auseinandersetzen müssen, weil es elementar zum Fußball gehört, ist der Widerstand, der körperlich im Einwirken des Gegners spürbar wird.

Sowohl im Spielen als auch im Zuschauen wird der Widerstand sehr deutlich erfahrbar. Man spürt das Vordringen und Behindertwerden. Man möchte vorwärts und merkt, dass das nicht so glatt oder einfach geht. Wenn man an einem vorbei ist, versucht bereits der Nächste ein Durchkommen zu verhindern. Bereits in der Ballannahme stört ein anderer. Als Zuschauer erlebt man, wie ein freier Weg zugestellt wird, wie ein dynamisches Durchkommenwollen jäh behindert wird. Man erlebt den Ärger, wenn der schussbereite Ball in letzter Sekunde weggespitzelt und einem damit die bereits vorweggenommene Befreiung beim Schießen genommen wird. Im Zuschauen und im Spielen selbst bildet sich durch die Qualität des Widerstandes das für den Fußball so typische Erleben eines ständig behinderten und damit mühsamen Vorwärtsdrängens. Mit jedem neuen Angriff, mit jedem Pass ist ein Moment des Anfangs und des Hoffens auf ein Durchkommen verbunden, der schnell und jäh unterbrochen und frustriert wird. Hier entpuppt sich der Fußball als ein Spiel, dass eine extrem hohe Frustrationstoleranz voraussetzt, weil nur die wenigsten Angriffsversuche auch wirklich durchkommen. Ständig wird verhindert, ständig wird unterbunden oder verunmöglicht. Hoffnungsvolle und auch kreative Ansätze des Vorwärtskommens erfahren einen ständigen Stop. Daher staut sich mit jedem unterbrochenen Gestaltungsversuch immer stärker die Sehnsucht nach einem ‚Durchkommen‘ und ‚Abschließen-Können‘ auf. Ein Durchkommen muss immer mit einem Dagegen rechnen. Die Idee eines freien, selbstbestimmten Willens als Basis für das eigene Handeln wird im Fußball anschaulich als Illusion entblößt. Handeln geschieht primär aus dem Zugleich von Gestalten und Widerstand heraus. Damit berührt der Fußball eine allen bekannte Erfahrung des Alltags. Unsere Handelungen und Gestaltungen entstehen immer unter dem Einfluss von Widerstand – dem vom anderen oder dem eigenen.

Anordnung und Funktion im Spannungsfeld

Ein weiterer Wirkungsfaktor des Fußballspiels liegt in seiner Anordnung und der Funktion der Spieler auf dem Spielfeld. Aufgrund der Größe des Platzes ist es notwendig eine mehr oder weniger starke Funktionsteilung vorzunehmen. Die Spieler werden sinnvollerweise in bestimmten Anordnungen auf dem Platz verteilt. Theoretisch könnte man alle elf Spieler auf der Torlinie positionieren oder auch an der Mittellinie. Die folgenschweren Auswirkungen solcher geradlinigen Anordnungen würden sehr schnell als wenig effizient erfahrbar werden. In der Entwicklung des modernen Fußballs hat sich als grundlegende Anordnungsform eine Dreiteilung als sinnvoll erwiesen, die bis heute in ihrer Struktur Gültigkeit besitzt. Spieler einer Fußballmannschaft werden in den Funktionsbereichen Abwehr, Mittelfeld und Sturm aufgeteilt. Hinzu kommt die Sonderposition des Torhüters. Diese Grundstruktur wurde in den letzten Jahrzehnten immer weiter differenziert und im Verständnis der einzelnen Position erweitert (Libero als ‚Freigeist‘ in der Abwehrreihe; defensives und offensives Mittelfeld; Außenverteidiger, der bis in die Spitze agiert und damit abhängig von der Spielsituation auch stürmt oder dabei hilft, das Mittelfeld zu überbrücken; Stürmer, die über spezifisches Anlaufen in vorderster Reihe Defensivaufgaben übernehmen usw.). Im Kern besteht eine Fußballmannschaft immer noch aus diesen drei räumlich angeordneten Funktionsbereichen der Abwehr, des Mittelfeldes und des Sturms sowie der Sonderposition des Torhüters.

Mit der funktionalen Anordnung von Spielern in der Räumlichkeit des Platzes wird die Form einer Mannschaft gestaltet. Das ist zu Beginn eines jeden Spiels kurz vor dem Anstoß besonders klar zu sehen. Die Spieler organisieren sich in Ruhe in ihrem Funktionsbereich am Platz. Sie nehmen eine Form bzw. Formation ein, die sich im Moment des Anstoßes zu bewegen und dynamisch zu verändern beginnt. Es bilden sich Konfigurationen, situativ gestaltete dynamische Einheiten, die sich aus Spielern und Gegenspielern zusammensetzen. „Figurationen“ bezeichnet der Soziologe Norbert Elias diese situativen, dynamischen in sich gespannten Gebilde oder Gestalten (vgl. Elias & Dunning o.J., 108). Ihre Spannung entsteht aus dem Spannungsverhältnis von Spielern zweier Parteien und den daraus resultierenden gegengerichteten Handlungen und Absichten. Spieler beider Parteien bilden auf dem Feld situative Gestalten, die Zugleich durch ein Gegeneinander als auch ein Miteinander entstehen. Die Bildung von situativen Spielgestalten oder Figurationen benötigt sowohl eigene Spieler als auch gegnerischen Spieler. Sie bedingen sich aus einem Miteinander, dass durch das Gegeneinander entsteht.

Ein großer Teil der Trainerarbeit besteht darin, möglichst wirksame dynamische Formationen bzw. Figurationen für das Spiel zu üben. Der moderne Fußball fordert von seinen Spielern ein ständiges Wandeln dieser Formationen. Egal wie dynamisch oder statisch sich eine Mannschaft in ihren Formationen zeigt – immer geht es um eine Anordnung in einem ausgedehnten Raum, der durch eine Anordnungsform besetzt wird. Figurationen sind Gestalten in Bewegung. Situative Zwischengestalten, die sich ständig bilden und umbilden und deren Bestand oft nur von flüchtiger Dauer ist. Wenn nach 90 Minuten das Spiel beendet wird, hat sich die Gestalt des Spiels aus einem ständigen Wandel von Zwischengestalten in ihrer Bildung und Umbildung herausgehoben.

Die strukturellen Positionen am Platz – Verteidigung, Mittelfeld, Sturm sowie die Sonderposition des Torwarts – lassen sich nun nicht nur taktisch, sondern auch unter einer psychologischen Wirkungsperspektive verstehen. Sie gestalten mentale Verfassungen der Spieler und stellen zugleich auch konkrete Aufgaben für das Spiel. Das Verteidigen im Fußball bedeutet nicht nur taktisch, sondern auch psychologisch ein Bewahren und Zerstören. Das Tor soll grundsätzlich vor einer Bedrohung bewahrt werden und das Angreifen des Gegners soll ge- und zerstört werden. Die Aufgabe des Verteidigens ist das Bewahren des Status quo und Zerstören des Eindringenden. Im Kern geht es beim Verteidigen um den Wandel von Wirkung durch Gegenwirkung zur Wirkungslosigkeit. Dazu verlangt man von Verteidigern selbst aber auch von allen anderen Positionen, die situationsspezifisch auch verteidigen sollen, ein robustes Einschreiten, ein entschiedenes Dagegen, ein kompromissloses Zweikampfverhalten.

Ganz anders der Sturm. Dessen Hauptaufgabe liegt im Drängen auf das Tor und dem Abschließen von Gestaltungsaktionen durch das Erzielen von Toren. Vom Stürmer werden überraschende Wege und kreative Vorstöße erwartet. Ein effektiver Sturm ist einer, der die Abwehrreihen des Gegners durch sein Einwirken bedrängt, in Unordnung und sich in aussichtsreiche Position bringt. Der klassische Mittelstürmer konnte es sich noch erlauben, auf seine Torchance zu warten. Durch ständige, für Verteidiger unangenehme Wühlarbeit versuchte er, den Torabschluss in aussichtsreicher Position zu erzwingen. Im modernen Fußball gleicht das Andrängen des Sturmlaufs einer Mannschaft eher dem Überfall einer wilden Horde, die mit hoher Wucht in die Verteidigungsreihen des Gegners einfallen und deren Ordnung und Kontrollversuche gleichsam zerfetzen. Drängen und Abschließen sind die psychologischen Kennzeichnungen des Sturms.

Anders als im Handball oder Basketball findet das Fußballspiel auf einem so großen Feld statt, dass sich große Räume in der Mitte als Mittefeld bespielt werden muss. Der Besetzung des Mittelfeldes, des großen Feldes zwischen Verteidigungs- und Angriffszone kommt daher eine sehr große Bedeutung zu. Zahlenmäßig besetzen daher die meisten Spieler Positionen im Mittelfeld – zentral, links und rechts sowie stärker offensiv oder defensiv. Spieltaktisch wie auch psychologisch ist das Mittefeld der Ort der Mitte und des Vermittelns. Wie der Name bereits andeutet verhandelt sich im Mittelfeld die Kontrolle und das Bewahren der Verteidigung mit dem Drängen und Abschließen des Sturms. Dieses ständige Vermitteln drückt dem Fußballspiel seinen unvergleichlichen Charakter auf. Aus ihm heraus entwickeln sich in der Regel die Gestaltungsversuche, den Ball über das Bespielen mehrerer Stationen nach vorne in die gegnerische Hälfte und idealerweise in eine Position zu bringen, aus der heraus ein Abschließen erfolgen kann. In ihm zeigt sich die Genialität von Spielern, wenn sie vermeintliche Räume erahnen oder durch ihre Laufwege erzwingen. Mannschaften, die durch hohes Passspiel das Mittelfeld zu überbrücken suchen, wird eine Schwäche im Spielaufbau attestiert. Sie wirken oft unbeholfen und in ihren Möglichkeiten beschränkt. Wohingegen Mannschaften, die eine Könnerschaft in der Spielgestaltung aus dem Mittelfeld heraus durch schnelles, kreatives Passspiel praktizieren, die höchste Ehrerbietung und kultähnlicher Status zuteil werden. Es ist nicht verwunderlich, dass Mittelfeldspieler, besonders die das Zentrum bespielen können, zu den wertvollsten bzw. teuersten Spielern am Markt zählen. In ihnen verkörpert sich das Vermitteln wie in keinem anderen Spieler. Sie sind die Spielgestalter, wandeln Defensives ins Offensives durch kreative Lösungen, bringen den Ball in eine aussichtsreiche Position oder spielen den tödlichen Pass, der ein Tor möglich macht. Sie sind Drehstellen im Gefüge, die das Defensive ins Offensive drehen und umgekehrt. Sie sind Gestalter, indem sie aus der unendlichen Vielzahl von Möglichkeiten eine Gestaltung herausheben und damit das Spiel einer Mannschaft Wirklichkeit werden lassen.

Dem Torhüter, der Nummer 1, kommt eine Sonderposition zu. Zum einen ist er Sinnbild des Bewahrens. Er wird daher grundsätzlich der Verteidigung zugeordnet. Er ist der Tor-Hüter oder Tor-Wart. Zum Hüten und Verhindern ist er ist mit zahlreichen Sondererlaubnissen ausgestattet, die ihn zwar als Teil des Teams, zugleich aber auch als etwas anderes erscheinen lassen. Sein Bewahren wird mit Sonderrechten erweitert. Er darf Dinge tun, die den Feldspielern vorenthalten sind. Zuvorderst die Erlaubnis, den Ball in die Hand nehmen zu dürfen. Der Torhüter darf paradoxerweise das ‚Kultur-Organ Hand‘ innerhalb des über den Fuß und seine Psycho-Logik konstruierten Spiels nutzen. Also genau die Verkehrung des im Fußball strikt geahndeten Handspielverbots. Er darf sogar zum besseren Agieren Hilfsmittel wie Handschuhe verwenden, darf den Ball lange in seinen Armen halten, bevor er ihn wieder ins Spiel gibt. Seine Sonderrechte verliert der Torhüter, wenn er sich außerhalb des Strafraums bewegt.

Psychologisch lässt sich in der Position des Torhüters etwas Verkehrtes erkennen. In ihm verkörpert sich das Paradox, als Anderes Teil vom Ganzen zu sein. Er ist Teil des Teams und trägt dennoch ein anderes Trikot. Er spielt Fußball mit der Hand. Er ist Teil des Ganzen und darin doch ganz anders. Torhüter scheuen oftmals nicht, ihr Anders-Sein in aller Schrillheit im Outfit oder auch in ihrem Verhalten zur Schau zu stellen. In Spielerkreisen haben Torhüter oft den Ruf, ein wenig ‚anders‘ und ‚speziell‘ zu sein (vgl. Reng 2009). Sie sind in ihrem Verhalten und Ausdruck verkehrt zu allen anderen und dennoch – als Verkehrung – Teil des Ganzen.

Fußball als Konstruktionserfahrung

Betrachtet man den Fußball ganz nüchtern, kann man an ihm auf den ersten Blick wenig Attraktives erkennen. Besondere Schwierigkeiten bereiten einem schon die Umstände eines Spiels. Im Stadion kann es kalt oder heiß sein. Menschen verbinden sich zu einer Masse und rücken nahe aneinander. Auf das Spielfeld kann man oft nur eingeschränkt sehen bzw. die Distanzen sind teils so groß, dass ein Teil des Geschehens nur aus einer größeren Entfernung miterlebt werden kann. Das Spiel selbst kann ‚dahinplätschern‘, ‚langweilig sein‘, ‚wenig bieten‘. Tore können ‚Mangelware‘ sein. Spiele können unentschieden ausgehen oder nach wenigen Minuten bereits entschieden sein. Manche ziehen sich zäh wie Kaugummi über die Spielzeit von 90 Minuten. Andere wiederum vermögen es, ein ‚Feuerwerk‘ zu entfachen und eine Spannung bis zur letzten Sekunde aufzubauen. Warum wirkt nun der Fußball trotz seines mitunter recht bescheidenen Auftritts?

Die Psychologie einzelner Gestaltfaktoren eröffnet einen Zugang zur vereinnahmenden Wirkung dieser Sportart. Diese ergibt sich aus deren Zusammenwirken und damit ihrer Gestaltung. Indem also das Zentrum der Tätigkeit auf die unteren Extremitäten gelegt und die Arme und Hände als wesentliche Mitgestalter ausgeschlossen und damit behindert werden, entsteht eine spannungsvolle, vereinnahmende Dynamik. Das mit den Beinen mögliche Treten wird umgewandelt zum Passen. Aggressives Gegeneinander erfährt eine gelebte Umwandlung in kultiviertes Miteinander, ohne dabei das Aggressive zu verlieren. Es ist gewandelte Aggressivität. Der Körperkontakt und das damit mögliche direkte, körperliche Einwirken auf den anderen erschwert ein glattes Durchkommen im Handeln. Handeln unter Widerstand ist eine Erfahrung, die wir nur allzu gut aus unserem Alltag kennen. Damit greift der Fußball eine Alltagserfahrung auf, die besonders für europäisch geprägte Kulturen höchste Relevanz besitzt. Zugleich löst der Fußball aus der Zentriertheit ins Individuelle. Er lädt ein zu einer Einswerdung mit anderen, zu einer Teilhabe unter Gleichen, eingebunden in das Spiel als größeres, alle Einzelne durchdringendes und verbindendes Gebilde oder Werk. Es erscheint attraktiv, sich aus der Verantwortung des Einzelnen und seiner Schwere zu lösen und Teil einer Einheit zu werden, mit ihr und aus ihr heraus zu handeln und auch getragen zu werden.

Mit diesen ersten Gestaltfaktoren stellt der Fußball in seinem Transformationsangebot ein für Kultur und Kulturbildung höchst relevantes Bild zur Wandlung des Aggressiven zur Verfügung. Kultur als Form des Zusammenlebens braucht das Wandeln des Zerstörerischen im Aggressiven. Mit der Widerstandserfahrung greift das Fußballspiel zugleich eine Erfahrung des Handelns des Einzelnen im Alltag auf und erzeugt darin eine Möglichkeit, sich selbst darin zu erfahren. Handeln wird im Fußballspiel als Handeln mit und gegen Widerstand erlebbar. Damit etwas gelingt, muss ständig angegangen, angelaufen werden, muss sich gegen Widerständiges gekonnt, mit Raffinesse, Können und Entschiedenheit durchgesetzt werden. Ein erfolgreiches Durchkommen und Abschließen gelingt eher selten. Mit dem Fußball erleben wir damit das ständige Herausbilden von Gestalten. Zudem ermöglicht das Fußballspiel das Aufgehen in etwas Größerem, in einer Einheit, die sich in und durch das Spielen entfaltet. Auch in diesem dritten Gestaltungsfaktor stellt der Fußball ein wirksames Angebot zur Entlastung aus dem Individuellen. Mitgetragen von einer größeren Einheit bieten die 90 Minuten Spiel ein Aufgehen in einer Gemeinschaft.

Mit der Anordnung mehrerer Spieler auf einem ausgeweiteten Spielfeld kommt nun vierter Gestaltfaktor hinzu, der die Attraktivität und Wirksamkeit des Fußballspiels noch weiter steigert und tieft. Unter einer psychologischen Perspektive wird über die Anordnung der Spieler auf dem Spielfeld und ihrer Funktionszuschreibung als Verteidiger, Stürmer, Mittelfeldspieler oder Torwart eine Architektur sichtbar, die stark an die Konstruktion und den Bauplan des „Seelischen Apparates“ nach Freud (1923) und in Weiterführung ‚des Seelischen‘ in der Morphologischen Psychologie (vgl. Salber 1986, 1991) erinnert. Das mit voller Entschiedenheit und Wucht Andrängende des Sturms steht in einem spannungsvollen Verhältnis zum Konservierenden und Kontrollierenden des Verteidigens. Diese spannungsvolle Polarität verlangt nach einer Vermittlung, damit überhaupt Gestaltung werden kann und aus der heraus sich eine Gestalt bildet. Aus der Vermittlung im weiträumigen Mittelfeld entsteht das Spiel. Freud findet für dieses spannungsvolle Verhältnis und seiner Vermittlung die psychischen Instanzen Es (Andrängendes, Ungehemmtes), ÜberIch (Kontrollierendes, Bewahrendes) und Ich (Vermittelndes).

Ähnlich wie im seelischen Apparat kommt auch im Fußball der Vermittlung, der Übergangsstelle zwischen Verteidigen und Stürmen, die größte Bedeutung zu. Dabei hat jeder Pol, jeder Faktor, jede Funktion auch seinen Gegenzug und damit ein Doppeltes zu bewerkstelligen. In der Perspektive der Morphologischen Psychologie ist eine solche Doppelheit in einem nicht ungewöhnlich, sondern vielmehr Grundbedingung seelischer Faktoren. Das Hauptbild des Stürmers ist andrängen und abschließen, im Nebenbild ist er aber auch Verteidiger. In seiner Hauptfunktion ist der Verteidiger ein Bewahrer und Zerstörer. Im Nebenbild zugleich ein Stürmender. In den Positionen des Mittelfeldspielers dynamisiert sich das Verteidigen und Angreifen. Das Zugleich von Verteidigen und Angreifen ist dort besonders zugespitzt. Die Kunst der Vermittlung besteht in einem Zugleich und Indem von beidem. Die Fußballsprache hat hierfür den Begriff ‚Umschalten‘ kreiert. Spieler müssen besonders schnell umschalten können zwischen den Grundfunktionen des Angreifens und Verteidigens und umgekehrt. Das wird von den Mittelfeldspielern als Kernqualität ihres Könnens verlangt. Vom Stürmer und Verteidiger weniger stark. Je besser sie es allerdings hinbekommen, umso wertvoller sind sie dem Trainer.

Die Gestalt des Fußballspiels setzt strukturell also ein Spannungsgefüge aus Angreifen und Verteidigen ins Werk, aus dem heraus sich ein dynamisches Vorwärtsdrängen bzw. Zurückgedrängtwerden aller Teile zugleich ergibt. In der Vermittlungsbewegung zwischen diesen Verhältnissen entsteht das Spiel – quasi aus sich selbst heraus. Dieser Figur des ständigen Wandels von Angreifen und Verteidigen folgen wir als Zuschauer. Wir betrachten das situative Werden von Gestaltungsversuchen, die sich durchzusetzen trachten und sich durch den unmittelbaren Widerstand dem Risiko des Verhindert- oder Zerstörtwerdens aussetzen. So gesehen werden ständig Zwischengestalten gebildet, die Werden und Vergehen, sich bilden und umbilden und im Sich-Herstellen ständig wandeln. Mit Figurationen nach Elias oder dynamischen Gestalten nach Salber können diese beweglichen Gebilde psychologisch in ihrer Phänomenologie gefasst werden. Spieler bilden in Abhängigkeit zueinander und zum Gegner ständig sich ändernde Figurationen. „Denn dieses Bewegen und Neugruppieren gegenseitig voneinander abhängiger Spieler in steter Reaktion aufeinander ist das Spiel“ (vgl. ebda. 108). Spieler und Gegenspieler bilden dynamische Figurationen oder „Gestalten im Übergang“ (vgl. Salber, 1986), die über ihren prozessualen Verlauf oder in der Stundenwelt des Spiels von 90 Minuten als Morphologie erfahrbar werden. „Morphologie bedeutet…, daß sich zwischen Bewegung und Gegenbewegung, in Ausformungen und Metamorphosen eine Gestalt ausbildet“ (Salber 1986, 10). Die Spieler selbst als Individuen verändern ihre Individualität und Vereinzelung unter dem Einfluss der Spielgestalt. Die Spielgestalt verwebt die Spieler in ihrem Tun in einem Gebilde zu einer Einheit, die als größere Ganzheit handelt.

Dabei unterliegen – ganz gestaltpsychologisch – „Elemente“ oder „Teile“ der immanenten Wirkungslogik dieses größeren Ganzen. Die Teile der Gestaltbildung werden durch die Dynamik des Zusammenwirkens als Ganzes bestimmt. Diese Erfahrung wird auch in den Beschreibungen der Trainer sichtbar, wenn sie bei Pressekonferenzen nach Spielen von der Mannschaft und ihrem Produkt – dem Spiel – sprechen. Sie nehmen wie selbstverständlich die sich herausgebildete Einheit des Spiels in den Blick und sprechen über diese Spielgestalt aus ihrer jeweiligen Perspektive. Sie betreiben darüber eine Art natürliche Gegenstandsbildung, wenn sie das Spiel als Gestaltbildung in den Blick nehmen und diese Stundenwelt beschreiben. Man muss nur den Beschreibungen der beiden Trainer zum Spiel zuhören, um eine erste Ahnung von der im Spiel wirksam gewordenen Psychologie zu bekommen, auf die Trainer wie selbstverständlich abheben. Es sind in der Regel nicht Motivationen oder andere Funktionsbereiche des Seelischen. Was für Trainer höchste Relevanz besitzt ist die Spielgestalt selbst, also die Herstellungs- und Gestaltungsformen des Spiels. Es sind seine Bildungen und Umbildungen, Formungen und Umformungen, Drehungen und Wendungen. Dabei spüren Trainer sehr genau, wie ein Teil oder Teile das Ganze bestimmen und umgekehrt, wie das Ganze das Wirken der einzelnen Teile bestimmt (vgl. Baßler 1988). Das erklärt sehr gut die Schicksale, die Mannschaften in ihren Spielen oft widerfahren. Wenn ‚David‘ als in allem deutlich Unterlegener gegen ‚Goliath‘ in Pokalspielen gewinnt oder unerwartete Wendungen geschehen, die man nie für möglich gehalten hätte. Im Fußball als Gestaltung und Umgestaltung ist eben alles möglich.

Der entscheidende Unterschied zu vielen anderen Sportarten liegt im Fußball in der Dehnung des Mittelfeldgeschehens. In der Überbrückung des Feldes aus dem Verteidigen heraus erleben wir im ausgedehnten Mittelfeld Gestaltung und situative Gestaltwerdung unter Widerstandserfahrungen. Im Fußballspiel erleben wir anschaulich das ständige Werden und Vergehen von Gestalten. Das geht nur, weil das Mittelfeld so groß ist und in seiner Ausdehnung erfahrbar wird. Dort dehnt und entfaltet sich der seelische Gestaltungsprozess und als Zuschauer erlebt man unmittelbar in voller Lebendigkeit und Dramatik die Tätigkeit seelischer Gestaltproduktion.

Während in anderen Spielsportarten das Mittelfeld aufgrund seiner Spielfläche räumlich klein gehalten ist und dessen Überbrückung etwa durch Zeitregeln beschleunigt und damit als Mittefeld nur in rudimentärer, verkümmerter Form vorkommt, setzt der Fußball das Mittelfeld und das Vermittlungsgeschehen als entscheidenden Spiel- und Aktionsraum in Szene. Dort erleben wir das Werden und den Wandel, das Ringen um das Vorwärtskommen und Durchsetzen der situativen Gestalten. Dort geschieht die Vermittlung zwischen den Spannungspolen aus Verteidigen und Angreifen. Mit dem ausgedehnten Mittelfeld macht Fußball das Funktionieren des Seelenbetriebs in seiner Ausgedehntheit anschaulich. Er sorgt für ein unmittelbares Erfahren der Seelenkonstruktion, ohne darin zu erkennen. Die Unmittelbarkeit dieser Selbstbeschau des eigenen Funktionierens wirkt aufgrund seiner Erkenntnisfreiheit und Nähe besonders attraktiv (vgl. Marlovits 2000).

Das Fußballspiel erscheint vor dem Hintergrund dieser psychologischen Analyse nahezu als Prototyp von dem, was in der Morphologischen Psychologie als Erklärungs-Letztheit für Wirklichkeit gesetzt ist. Nämlich von Gestalt, verstanden als eine bildende, in sich strukturierte und sich strukturierende Einheit im ständigen Wandel. „Gestalten binden Seelisches als Übergang, als Gegensatzeinheit, als ein Gefüge, das sich dreht und wendet“ (Salber 1986, 9). Die Ausgedehntheit des Geschehens im Fußballspiel, sicht- und erlebbar in der Weite des Spielfeldes, erscheint wie die Spielwiese seelischer Konstruktion. Am ausgedehnten Spielfeld wird die Komplexität eines kompletten Werkes und funktionierenden Produktionsbetriebes sichtbar. Teile, die in ihren Funktionen doppelt und zugleich aufeinander bezogen sind und im Zusammenwirken zu einer größeren Einheit verschmelzen. Gegensatzeinheiten, aus denen heraus sich ständig Gestalten im Übergang entwickeln und mit dem Schlusspfiff dann einen Abschluss erfahren und sich als Spielgestalt umfassen und begreifen lassen. Wir erleben am Spielfeld ein sich bildendes Gefüge, das sich innerhalb einer Stundenwelt dreht und wendet, ständig verwandelt und unterschiedlichste Ausdrucksformen innerhalb des gesetzten Zeitrahmens finden kann. „Psyche ist ausgedehnt und weiß nichts davon“ (Freud 1941, 151). Vielleicht wird diese Konstruktionsbeschreibung des Seelischen durch Freud im Fußballspiel als Gestalt besonders erfahrbar und erzeugt als unmittelbare Selbsterfahrung vom eigenen Seelischen und seinem Funktionieren die besondere Wirkung dieser Sportart für so viele Menschen.

Literatur

Baßler, W. (1988). Ganzheit und Element. Göttingen: Hogrefe.

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Wertheimer, M. (1925). Über Gestalttheorie. Vortrag vor der Kant-Gesellschaft, Berlin am 17. Dezember 1924. Erlangen: Verlag der Philosophischen Akademie.

In Zwischenschritte von Andreas M. Marlovits bereits erschienen

(mit K. Mai): Formel 1 – Wenn Seelisches auf Touren kommt (2/98)

Tag – Sport – Traum

Kunstvoll einfach bewegt (2001)

Der Sportschuh als Alltagsgegenstand (2002)

Snowboarding als Beispiel eines Bewegungstrends der Jugendkultur (2003)

marlovitz

Autor:in

Prof. Dr. Andreas Marlovits hat Psychologie an der Universität zu Köln sowie Sportwissenschaften und Theologie an der Universität Graz studiert. An der Business and Law School Berlin bekleidet er eine Professur für Sportpsychologie, verantwortet dort die Ausbildung im Masterprogramm ‚Sportpsychologie‘ und ist seit Kurzem auch Gründungsdekan der neu eingerichteten Fakultät „Applied Sport Sciences & Personality“. Als praktisch tätiger Sportpsychologe arbeitet er seit vielen Jahren im professionellen Fußball und Tennis.

Kontakt: marlovits@eludo.net

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