Einige Aspekte der Morphologischen Medienpsychologie

Überarbeitete Fassung der 4. Vorlesung im Rahmen der Ringvorlesung ‚Was ist Morphologie?‘ an der BSP im Sommersemester 2021 am 19. Mai 2021

 

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zwingmann

Autor:in

Björn Zwingmann studierte Psychologie in Köln und arbeitete nach Studienabschluss zunächst kurzzeitig in der klinischen Forschung an der Universitätsklinik in Düsseldorf und dann zehn Jahre lang als Therapeut in der forensischen Abteilung einer psychiatrischen Klinik, davon in den letzten Jahren als Leitender Psychologe. Er promovierte mit einer Untersuchung zu Goyas Schwarze Bildern im Morphologischen Kunstcoaching und wendet die Morphologische Kunstpsychologie bei Ausstellungs-Führungen und in Selbsterfahrungsgruppen an. Seit 2016 ist er als Psychoanalytiker in Köln niedergelassen und war an der BSP Campus Hamburg als Dozent tätig. Er ist Lehrbeauftragter am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie im Rheinland (IPR) und Supervisor für Mentalisierungsbasierte Psychotherapie (MBT). Seit dem Wintersemester 2018 ist er Professor für Medienpsychologie an der BSP Businessschool Berlin.

Kontakt: bjoern.zwingmann@businessschool-berlin.de

Einige Aspekte der Morphologischen Medienpsychologie

Den Ausdruck ‚Morphologische Medienpsychologie‘ könnte man aus Sicht der Morphologischen Psychologie nach Wilhelm Salber fast als Tautologie verstehen, da das Seelische aus dieser Perspektive ja von vorneherein eine Medienseele ist. Aber fangen wir erst mal bei der ‚üblichen‘ Medienpsychologie an – was ist das überhaupt? Folgt man einer Definition aus einem Lehrbuch der Medienpsychologie, dann ist es so:

„Medienpsychologische Forschung beschäftigt sich mit der Beschreibung, Erklärung und Prognose des Erlebens und Verhaltens, das mit Medien verknüpft ist bzw. das aufgrund oder während der Mediennutzung stattfindet“ (Trepte u. Reineck 2018, S. 15-16).

Anders als etwa die Medientheorie macht sich die Medienpsychologie dabei meistens keine Gedanken darüber, was Medien eigentlich sind. Es wird einfach unser Alltagsverständnis übernommen, also Fernsehen, Kino, Handys, Radio, Internet oder vielleicht auch noch Bücher und Zeitschriften. Also das, was den meisten Menschen spontan bei Medien einfällt. Die Medienpsychologie fragt nun danach, wie Menschen mit diesen Medien umgehen und wie die Medien auf die Menschen wirken. Das genauer zu verstehen, kann für uns alle interessant sein, aber besonders für Unternehmen, die auf Medien angewiesen sind und erst recht für die Produzenten von Medien. Daraus lassen sich verschiedene konkrete Fragen weiterentwickeln: Wie können Medien uns unterhalten? Wie erkennt man Stoffe, die das Potential haben, Menschen ins Kino zu ziehen? Welcher Content interessiert die Menschen online? Wie kann Werbung die Menschen beeinflussen? Aber auch gesellschaftlich umfassendere Fragen: Wie beeinflussen Medien unsere Kultur, unsere Gesellschaft, Politik, unsere Gesundheit oder unsere Fähigkeiten?

In der akademischen Medienpsychologie werden diese vorwissenschaftlichen Fragen meist als Fragen nach Ursache-Wirkungszusammenhängen weitergeführt. Aber auch tiefenpsychologische Ansätze haben immer wieder versucht, solche ‚Täter in Form von Trieben oder unbewussten Motiven‘ zu fassen. Im Rahmen des – nicht unbedingt tiefenpsychologischen – Uses- und Gratifications-Ansatz wurden z.B. folgende Motive herausgearbeitet: Informationsmotiv, Unterhaltungsmotiv, ein Motiv zur sozialen Anteilnahme und eins zur Identifizierung und Selbstreflexion (McQuail 1994, S.72). Das sind erst einmal nachvollziehbare Ansätze, denen viele Menschen zustimmen können. Mal wollen wir uns unterhalten lassen, mal wollen wir uns informieren. Aber dabei stehen zu bleiben ist problematisch. Müssen wir uns beim Informieren jetzt eine andere Psychologie überlegen als bei der Unterhaltung? Und wie ist es bei der Werbung? Oder wenn wir auf Social Media Plattformen unterwegs sind? Befriedigen wir mal das eine, mal das andere Motiv? Und wo kommen die Motive eigentlich her? Aus Sicht des „Züricher Modells der sozialen Motivation“ nach Bischof, das im Neuromarketing verwendet wird, können Medien wie zum Beispiel Werbemittel entweder ein Sicherheits- oder ein Autonomie- oder ein Erregungsmotiv ansprechen (vgl. Scheier u. Held 2018). Für jedes dieser Motive wird dabei ein anderes neurobiologischen System im Hintergrund angenommen.

Aus Sicht der Morphologie fehlt bei solchen Ansätzen allerdings etwas, das die unterschiedlichen Formen – und die gibt es ja tatsächlich – zusammenhängend erklärt und als Variationen eines Systems verstehbar macht. Und zwar ohne, dass wir dabei die Psychologie selbst verlassen und uns auf andere Gegenstandbildungen wie die Biologie beziehen müssen.

Auf dem Gebiet der Medien stoßen wir also auf Schwierigkeiten, wenn wir Psychologie betreiben wollen: Die Vielfalt der Gegenstände, Umgangsweisen oder Motive scheint sich mit der Vielfalt der theoretischen Ansätze fast zu multipliziere. Sollen wir für jede Fragestellung, die mit Medien zu tun hat, eine ganz neue Theorie entwickeln? Das ist für eine Wissenschaft natürlich unbefriedigend, denn sie drängt ja auf eine vereinheitlichende Theorie, ein vereinheitlichendes System. Um zu einer Lösung zu kommen, bleiben wir noch ein Weilchen bei diesem scheinbaren Hindernis. Damit beginnt zugleich schon die morphologische Herangehensweise, nämlich mit dem Aushalten und Dabeibleiben. Wir haben es also im Feld der Medien mit einer unüberschaubaren Vielfalt von Gegenständen zu tun, und gleichzeitig mit einer unüberschaubaren Vielfalt von Ansätzen und Theorien, so dass es schwer fällt, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.

Medienmorphologie

Für Morphologen ist all dies nun nicht nur ein Ärgernis, sondern ein erster Hinweis auf den Gegenstand, mit dem wir es zu tun haben: Nämlich, dass Medien einerseits ganz konkrete und vielfältig gestaltete Dinge sind, zu denen sich sogar jeweils ganze Wissenschaften ausbilden (Buchwissenschaft, Literaturwissenschaft, Bildwissenschaft, Musikwissenschaft etc.) und zugleich haben diese Einzeldinge gemeinsame Qualitäten: denn in oder durch diese Medien erscheinen uns wahrnehmbare Gestalten, die etwas anderes sind als die Medien selbst.

Und diese Medialität ist aus Sicht der Morphologischen Psychologie zugleich ein Kennzeichen von Psyche überhaupt. Wilhelm Salber verstand das so: Medien gibt es, weil Menschen selbst Medien sind, genauer: Weil das Seelische eine Medienseele ist. Was meinte er damit? Einerseits, dass das Seelische nie ‚an sich‘ existiert, sondern nur in der Wirklichkeit, die wir erleben, beschreiben und häufig sogar anfassen können. Das Seelische lebt im Medium dieser Wirklichkeit. Und zugleich kommt diese Wirklichkeit im Seelischen erst zu sich und behandelt sich dabei selbst.

Dahinter steckt eine völlig andere Wissenschafts- und Psychologieauffassung als die in der akademischen Psychologie übliche. Und das bedeutet für die Morphologische Medienpsychologie, dass sie nicht von einer fertigen, immer gleichen ‚Psyche‘ ausgeht, zu der dann noch Medien hinzukommen. Andersherum geht die Morphologische Psychologie davon aus, dass sich gerade in den Medien das zeigt, was die Menschen ausmacht. Durch seine Medien entwirft sich das Seelische immer wieder neu und anders. Korrespondierend mit diesem Seelenkonzept ist die Morphologie ist mit der wissenschaftstheoretischen Auffassung verbunden, dass wir nicht schon fertigte Gegenstände in der Welt haben, die sich die Wissenschaften dann aufteilen, sondern dass jede Wissenschaft Ihre Gegenstände selbst hervorbringt (Gegenstandbildung). Gegenstände der morphologischen Psychologie sind darum auch nicht Einheiten wie Denken, Fühlen oder Wollen, wie die Psychologie der Aufklärung sie entworfen hat. Die Einheiten der Psychologie sind Handlungs- und Wirkungseinheiten, die sich nur in Geschichten und Bildern begreifen lassen. Das Seelische hängt in sich zusammen, so wie Geschichten und Bilder in sich zusammenhängen. Seelisches ist von vorneherein ‚medial‘.

Wilhelm Salber war der Meinung, dass das Seelische psych-ästhetisch oder kunstanalog sei. Seelische ist ein Bild, das ein Bild malt. Seelisches ist Wirklichkeitsbehandlung und die ist bereits ganz alltäglich ästhetisch und kunstanalog. Wir versuchen unser Erleben in Geschichten zu fassen, auch unser eigenes Leben – auch ohne, dass wir diese Geschichten aufschreiben oder aufführen. Wir versuchen uns ein Bild zu machen von anderen Menschen, von uns selbst und von der Welt. Das tun wir immer schon, auch ohne Leinwand, Pinsel und Farbpalette. Wir spielen eine Rolle, auch wenn wir nicht auf einer Theaterbühne stehen, wie der Soziologe Erving Goffman meint.

Wenn wir dann im engeren Sinne ein Bild malen, eine Geschichte erzählen oder aufschreiben oder ein Theaterstück oder einen Film produzieren, dann stellen wir letztlich etwas her, in dem diese grundlegende Psychästhetik des Seelischen noch einmal als eigens hergestellter Gegenstand beschaubar und handhabbar wird. Deswegen kann man sagen, dass das Seelische in den Medien (im engeren Sinne) zu sich selbst kommt. In den Bildern, in der Literatur und in den Filmen haben wir das, was wir – ohne es zu merken – wie selbstverständlich ohnehin schon herstellen. Aber jetzt als ein überschaubares und verstehbares Werk. In diesen Werken sehen wir dann auch, dass das ganze konstruiert ist und umkonstruiert werden könnte, dass es Regeln folgt, begrenzt ist und sich verändern kann.

Dabei wirkt mehreres zusammen:

  • In den Medien haben wir ein Stück Wirklichkeit, das sich realisiert als Bild, Wort, Geschichte. Nehmen wir das Gemälde „La Trahision des Images“ von René Magritte, in dessen Mitte eine Pfeife realisiert ist. Man könnte auch sagen, das Bild bildet eine Pfeife ab. Hier haben wir uns durch das Medium Bild ein Stück Wirklichkeit angeeignet.
  • Das ist eine entschiedene, einmalige Gestalt und gleichzeitig etwas Gemachtes, Hergestelltes: Es ist durch Eingriff und Entscheidung zu Stande gekommen, durch Auswahl und Behandlung. Dies Pfeife verweist also zugleich auf eine Entscheidung – man hätte schließlich auch etwas ganz anderes malen können.
  • Die so entstandene Gestalt muss jedoch auch bestimmten Regeln folgen: Jede Geschichte, muss z.B. dem Regelwerk der Sprache folgen. Es muss sich einordnen in Typen und Gattungen, Genres, Fiktionale oder nicht, es muss sich in einen bestimmten Kontext stellen und durch diesen Kontext bestimmen lassen. Magrittes Pfeife gehört der Ordnung des Bildlichen an – nur hier kann sie erscheinen und muss dabei dem ‚Pfeifen-Design‘ folgen. Und sie erscheint im spezifischen Kontext dieses Bildes, das – auch durch die darunter stehende Schrift – wie ein Beschriftete Abbildung wirkt.
  • Die Einwirkungsmöglichkeiten des medialen Werks lässt zugleich auch Steigerungsformen gegenüber der Wirklichkeit zu: Medien, egal ob Bilder, Geschichten oder Filme erscheinen gegenüber dem alltäglichen gesteigert, weil sie etwas deutlicher, schärfer, intensiver, genauer oder verstehbarer machen, mal durch Verlangsamung, mal durch Zusammenraffung oder durch andere medienspezifische Techniken. Das erleben wir gegenüber dem Alltag als Zugewinn, weshalb uns die Medien ja meist faszinieren. Dirk Blothner hat beschrieben, wie beim Film bestimmte Fesselungstechniken eingesetzt werden, um das Erleben so zu intensivieren, dass sich das Seelische als klüger, witziger und lebendiger erlebt als im normalen Alltag (vgl. Blothner 1999). Man könnte auch in Magrittes Pfeife eine Art von Idealisierung erkennen, die diesen visuellen Gegenstand sogar noch klarer macht.
  • Auf der anderen Seite zahlen wir für die diese Steigerung, die wir in den medialen Werken erfahren, immer einen Preis. Bezogen auf die Kinofilme ist der Preis der Fesselung – wie Dirk Blothner das beschreibt – der Fesselungsvertrag. Um das intensive Kinoerlebnis zu haben, geben wir etwas von der Freiheit auf, die wir in unserem Alltag haben. Wir lassen uns Stilllegen im dunklen Kinosaal auf dem Kinosessel, ähnlich wie unser Körper im Schlaf festgelegt ist. Bei Nachrichtenmedien ist der Preis, der dafür gezahlt werden muss, die ‚den Tag in 20 Minuten‘ zu erfahren, beziehungsweise, ‚uns die ganze Welt in unser Wohnzimmer zu holen‘, dass sie eine besonders starre, immer gleiche Verfassung herstellen, die die jeweiligen News begrenzt und eindämmt. Magrittes Pfeife ist ebenso beschränkt: Als Öl auf Leinwand in einem Rahmen kann man diese Pfeife natürlich nicht rauchen.
  • Die Medialen Gestalten sind bereits immer Umbildungen von Wirklichkeit und wir können auch etwas mit Umbildungen machen, sie behandeln. Darum vielleicht haben wir den Eindruck, dass es so hoch individuell ist, was wir beim Betrachten von Bildern erleben. Wir können die Bilder, ebenso wie die Geschichten, die wir Lesen, in Richtung unserer eigenen Geschichten auslegen, weiterführen, umgestalten. Die Pfeife auf Magrittes Bild ist einerseits wie eine mögliche Wiederholung von Wirklichkeit, aber sie auch etwas ganz anders: Und das hebt Magritte mit dem Satz „Ceci n’est pas une pipe“ (‚Dies ist keine Pfeife‘), den er darunter malt, nun noch hervor. Und damit macht er sein Bild wirklich zu etwas ganz anderem, zu einem Kunstwerk, das einen Reflexionsprozess in Gang setzen kann.

Medien stehen also in einem Spannungsfeld aus einem wiederholbaren, immer gleichen Ding und variierbarer Gestalt – wie man es auch und noch anders sehen könnte. Das Ganze macht den Wirkungsraum aus.

Medien sind einerseits konkrete Gegenstände: Ein Buch im Sinne von bedrucktem und gebundenem Papier, ein Bild im Sinne von Leinwand und Farbe, Sprache und Musik als geformte Klänge – durch unsere Körper oder Instrumente oder durch Lautsprecher. In diesem Sinne sind Medien wie andere Dinge: Wie Tische, Stühle oder Autos. An solchen immer gleichen Dingen erfährt das Seelische sich meistens als identisch.

Medien sind demgegenüber insofern besondere Dinge, als dass sie wandelbarer sind und so wiederum andere Formen hervorbringen – und diese Formen führen unser Erleben, wenn wir uns auf die Medien einlassen. Dadurch kann das Seelische sich zugleich als wandelbar erleben. Da können wir erleben, dass wir die Wirklichkeit auch beeinflussen können, dass Sie sich verrücken lässt. Mehr noch: Wir können gar nicht Gestalten bilden, ohne zu verrücken und einzugreifen. Medien sind Dinge, an denen wir auch gerade diese Beeinflussungsseite der Wirklichkeit erfahren können: Unsere Stimme, Lehm, Farbe, bis hin zu der wandelbaren Oberfläche von Filmen. Medien überführen Festes in Wandelbares und Wandelbares in Festes. Medien – im engeren Sinne – sind daher Verwandlungs-Dinge. Und diese Verwandlungs-Dinge können wir, wenn wir sie einmal entwickelt haben, in den Dienst unterschiedlicher Unternehmungen stellen. Wir können sie mehr in den Dienst der Verwandlung stellen, in denen wir ausprobieren, wie es mal anders gehen könnte. Dann sind geht es in Richtung der Unterhaltungsmedien oder noch weiter getrieben auch der Kunst. Aber natürlich ist z.B. ein Film auch nicht ‚nur‘ Verwandlung. Darin steckt auch Belebung und Wiederholung von eigenem, das dann in Verwandlung gebracht wird. Oder wir können die gleichen Medien mehr in den Dienst der Wiederholung stellen, der Abbildung, des Festhaltens. Egal ob wir Tagebuch schreiben, etwas fotografieren oder abmalen. Die Nachrichten, die Fernsehnachrichten, die Zeitungen, die Online-Nachrichten, das sind alles schon auch Medien im Dienste der Wiederholung, aber nicht nur. Sie greifen auch etwas Neues auf, und sie versuchen, dieses Neue dann in etwas Verstehbareres zu überführen, indem sie es einordnen. Man kann die gleichen Medien aber auch in den Dienst eines Werks stellen, das beeinflussen soll, das in eine bestimmte Richtung wirken soll: Z.B. etwas Bestimmtes zu kaufen. Dann geht es darum, ob bereits bestehende Muster, Regeln und Ordnungen in diesen Medien aufgegriffen und weitergeführt werden können und dadurch zu einer Entscheidung hin drängen.

Medien können aber auch in den Dienst der Erweiterung unserer Möglichkeiten gestellt werde, z.B. wenn wir digital kommunizieren und dabei Distanzen überbrücken. Gleichzeitig müssen wir uns dafür aber auch ganz auf die technische ‚Ausrüstung‘, verlassen, die uns buchstäblich vieles abnimmt. Das verspüren wir je nachdem als Abhängigkeit, Gebunden-Sein oder auch als schmerzhafte Einschränkung, besonders natürlich, wenn ein technisches Problem auftritt.

So, dass wäre der Versuch, Medien aus morphologischer Sicht als wandelbare Dinge zu verstehen, durch die Gestalten erscheinen, die unser Erleben verändern. Vor dem Hintergrund will ich nun noch an einem kleinen Beispiel aus der Werbung zeigen, was man davon haben kann, Medien morphologische zu untersuchen.

Morphologische Analyse von Werbewirkung

Im Sommer 2019 hatte eine Gruppe Studierender im Masterstudiengang Medienpsychologie sich selbst die Aufgabe gestellt, das Erleben eines Werbespots der Supermarkt-Kette Penny zu untersuchen: „Penny – natürlich für alle“.

Sie können den Spot hier selber anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=gyeDE5sbMSk

Dieser Werbespot war 2019 Teil einer Kampagne, mit der Penny ihre Bio-Eigenmarke „Naturgut“ bewerben wollte und dabei die Sängerin Nena nach eigenem Bekunden als Botschafterin dieser Marke auserkoren hatten. Nach Eigendarstellung des Unternehmens, sollte der Spot vor allem den Grundgedanken der Marke ausdrücken, biologische Produkte zu fairen und günstigen Preisen erwerben zu können, um somit eine glückliche, friedliche und gleichberechtigte Gesellschaft zu ermöglichen.

Der Spot lief im Fernsehen und im Internet. Allerdings nicht sehr lange und Nena war auch nicht besonders lange ‚Botschafterin‘ der Marke. Ich weiß es zwar nicht, aber ich wage zu vermuten, dass dies auch mit der Wirkung dieses Werbespots zusammenhing. Denn diese Wirkung war – auch für die Studierenden erst einmal überraschend – ziemlich negativ. Und wie diese negative Wirkung zu Stande kam, wollten wir psychologisch verstehen.

Wie haben wir das gemacht? Die Studierenden haben zunächst einmal Beschreibungen über das eigene Erleben des Spots angefertigt, den Sie auch in einer bestimmten Art – nämlich sowohl in Gänze als auch in kleine Einheiten aufgeteilt – angeschaut hatten. Außerdem hatten Sie den Spot in der gleichen Weise ihren insgesamt sieben Interviewpartnern präsentiert, mit denen sie Tiefeninterviews durchgeführt hatten, die sie dann ebenfalls beschrieben hatten. Wir hatten also sieben Erlebensprotokolle und sieben Interviewbeschreibungen.

Bei diesen Beschreibungen geht es darum, das Erleben als eine Gestaltentwicklung zu verstehen und sie dann Schritt für Schritt in den morphologischen Versionengang überführen (vgl. Fitzek 2010):

  1. Durch welche Gestaltqualität oder man könnte auch sagen durch welche Bildlogik lässt sich das Erleben des Spots umfassend beschreiben?
  2. Welche spannungsvollen, einander ergänzende und herausfordernde Wirkungsrichtungen stecken in dieser Bildlogik?
  3. Welches Verwandlungsmuster steckt wiederum in diesem spannungsvollen Wirkungsraum? Die Morphologie ist der Meinung, dass es immer wieder eine begrenzte Zahl gleicher Muster sind, die das Seelische beschäftigen und die wir in all unseren Werken – auch den Medialen – zu behandeln suchen. Diese Muster versucht die Morphologie nun wiederum durch Kunstwerke – nämlich durch die Grimmschen Märchen, darzustellen und aufzuschlüsseln. Kann man also auch das Muster dieses Spots durch ein Märchen verdeutlichen? Und – was wir in unserer kleinen Untersuchung nicht mehr getan haben: Können wir auch verschiedene typische Umgangsformen beim Erleben des Spots unterscheiden? (Das wäre dann eine vierte Version).
Abbildung 2: Nena im Werbespot: „Penny – natürlich für alle“

Zur ersten Version: Die Bildlogik, die das Erleben des Werbespots ausmachte, hatte erstaunlich viel mit biblischen Geschichten zu tun. Da ging es einerseits um paradiesisches und dabei zugleich aber auch um apokalyptisches. Das schöne, harmonische und natürliche Gefühl, das der Spot ja nach Angaben des Unternehmens auch transportieren sollte, wurde zwar erkannt, aber es zeigte sich in einem Zusammenhang mit Untergangsvisionen, postapokalyptischem, Endzeitlichem. Eine letztlich beunruhigende Bildlogik also, also wäre diese Utopie nur um den Preis von Zerstörung zu haben: Die Studierenden nannten die Gestaltlogik von daher den ‚paradiesischen Untergang‘. In den Interviews wurden die Probanden auch häufig ärgerlich, und das hatte überhaupt nichts damit zu tun, dass es ihnen an ökologischem Bewusstsein gefehlt hätte. Viele Interviewpartner erzählten durchaus davon, dass sie sich gerne umweltbewusst verhalten und konsumieren möchten und auch bereit sind, dafür etwas in Kauf zu nehmen. Aber gerade für dieser Wunsch bekam in der Bildlogik dieses Spots keine Anhaltspunkte.

Und damit kommen wir dann auch zur zweiten Version: In welchen Wirkungsraum aus unterschiedlichen Bildprogrammen lässt sich die Grundgestalt zerlegen? Hierbei haben wir uns nicht an die häufig in der Morphologie genutzte Sechs-Faktoren-Logik gehalten, sondern etwas freier eine Hauptfiguration von einer Nebenfiguration unterschieden. Vordergründig drängte sich im Erleben hier ein Ideal auf: Paradiesisch, natürlich, friedlich, harmonisch und so weiter. Doch dieses Ideal erschien den Probanden zugleich ‚zu gut, um wahr zu sein‘. Dazu gehört das fantastisch-trickhafte der gesamten Inszenierung, daran hatte aber auch die irgendwie entrückt und unirdisch wirkende Nena einen großen Anteil. An ihr als ‚Botschafterin‘ der natürlichen Utopie fanden die Probanden keine Übersetzungsmöglichkeiten für ihr eigenes Leben. Sie wirkte vielmehr wie eine entrückte Märchen-Gestalt.

Dagegen wurden die ‚Wünsche nach echter Veränderung‘ des Konsums und der Lebensgestaltung quasi in den Hintergrund gerückt und bildeten so eine eher düstere Nebenfiguration: die Probanden sperrten sich gegen das ihnen verkaufte Ideal, weil sie spürten: Das funktioniert so nicht. Echte Umstellung ist kleinschrittiger, mühsamer, banaler, vielleicht sogar schmerzhafter. Diese Strebungen nach einer echten Veränderung fanden jedoch nur Halt in den unheimlich apokalyptischen Aspekten des ganzen Szenarios. Dem Werbespot gelang es nicht, Haupt- und Nebenfigurationszüge zu vermitteln und in einen dialektischen Ausgleich zu bringen, einen Mittelweg zwischen Idealwunsch und pragmatischen Zweifeln einzuschlagen, wie ein guter Werbespot es manchmal schaffen kann.

Und warum das hier so schwierig war, wird vielleicht noch etwas deutlicher, wenn man einen Schritt weiter geht zur dritten Version: Welches Verwandlungsmuster ist hier eigentlich am Werk? Man kann sagen, der Werbespot zeigt uns eine Welt, die in gewisser Weise auf den Kopf gestellt ist. So eine Drehung ist immer riskant, gerade wenn damit ein hohes Ideal erreicht werden soll, landet man schnell genau im Gegenteil, in der Verkehrung. Apokalypse statt Idylle.

Und ja, hierzu gibt es auch ein Märchen, das davon handelt, was gut gehen kann und was schief gehen kann, wenn man einmal die ganze Welt auf den Kopf stellen will: Es ist das Märchen von Frau Holle. Hier ist es jetzt wieder wichtig zu verstehen, dass die Morphologie solche Märchen nicht versteht als Geschichten, die in ihrem Nacheinander Punkt für Punkt oder Figur für Figur übersetzt werden.  Es geht um den psychologischen Kern der Märchen und der hat nach Wilhelm Salbers Analyse bei Frau Holle mit dem „Ganzen und seiner Inversion“, oder anders gesagt mit der Verkehrbarkeit oder Drehbarkeit des Ganzen zu tun (vgl. Salber 1999). Der Sprung in den Brunnen und das Landen in einer Alternativ-Welt kann sich in zwei Richtungen drehen: Einmal gerät ein verzweifeltes Mädchen aus einem Todeswunsch heraus in eine Welt, in der Ihre Arbeit plötzlich anerkannt und belohnt wird und sie wird mit Gold behangen. Ein anderes Mal wagt ein Mädchen aus Gier auf genau dieses Gold den Sprung, verweigert sich aber der Arbeit, die zu tun und erhält dafür Pech statt Gold. Goldmarie und Pechmarie sollte man nicht als verschiedene Personen verstehen, sondern als verschiedene Schicksale, die bei ein und dem gleichen Problem herauskommen können, je nachdem, wie man daran heran geht. Die Wirklichkeit erweist sich als drehbar und es kann immer genau anders kommen, als man es sich vorgestellt hat. Bezogen auf unseren Spot heißt das: Die Zuschauer wittern hinter dem Idyll der Hauptfiguration den Schicksalsweg der Pechmarie: So einfach kann die Utopie nicht zu haben sein! Aber für ein echtes Erarbeiten der Veränderung, wie es dem Schicksal der Goldmarie entspräche, fehlen in diesem Bild die Anhaltspunkte. Dabei hätte dies auch viel eher zur Marke Penny gepasst, denn auch das wurde in den Interviews deutlich: Penny wird eben nicht als eine abgehobene Ideal-Marke erlebt, sondern als eine bodenständige Selbstbelohnungsmarke. Die Werbung will den Zuschauern ein Ideal verkaufen, das auf Sie wirkt wie die sprichwörtliche Taube auf dem Dach: Nicht zu erreichen. Von Penny erwartet man hingegen eher den ganz konkreten ‚Spatz in der Hand‘.

Dies sollte nur einen kleinen Eindruck davon vermitteln, wie man durch morphologische Beschreibung und durch Rekonstruktion der seelischen Bildlogik eines Werkes dessen Probleme aufdecken kann und so auch Ansatzpunkte finden kann für eine Verbesserung der Wirkung. Morphologische Medienanalysen beschränken sich dabei nicht auf Werbewirkung, sondern sie versuchen auch die Wirkung von Unterhaltungsmedien zu verstehen, die unbewussten Kultivierungsmuster von Social Media-Plattformen oder auch von auf den ersten Blick ‚realistischen‘ Geschichten, wie sie z.B. durch Nachrichtenmedien erzählte werden.

Zusammenfassung

  • Ich habe versucht anzudeuten, dass man mit dem Konzept einer Medienseele, wie die Morphologie es hat, zu einer ganz anderen Medienpsychologie kommen kann, als dies sonst in der Psychologie üblich ist.
  • Ich habe versucht, ein paar Vorteile dieses Konzepts deutlich machen können, nämlich dass es sich um eine Theorie seelischer Wirklichkeit handelt, die sich auf die verschiedensten Gegenstände anwenden lässt.
  • Medien sind aus Sicht der Morphologie Dinge, die durch Ihre Wandelbarkeit immer neue Gestalten bilden und festhalten können und damit dem Seelischen selbst ähneln.
  • Darum lassen sich diese Medien auch in den Dienst unterschiedlichster Unternehmungen stellen, wie etwa Unterhaltung, Information oder Werbung.
  • Und schließlich: Morphologische Untersuchungen können helfen, an die verdeckte Logik dieser Medien-Werke heranzukommen und so z.B. Probleme besser zu verstehen und andere Lösungen zu entwickeln.

 

Literatur

Blothner, D. (1999): Erlebniswelt Kino – Über die unbewusste Wirkung des Films. Bergisch Gladbach.

Fitzek, H. (2010): Morphologische Beschreibung. In: G. Mey und K. Mruck (Hrsg): Handbuch der Qualitativen Forschung in der Psychologie. 629-706. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

McQuail, D. (1994): Mass communication theory. An introduction (3rd ed.). London: Sage.

Salber, W. (1999): Märchenanalyse. 2. erw. Aufl. Bonn: Bouvier Verlag.

Scheier C. u. Held D. (2018): Wie Werbung wirkt. Erkenntnisse aus dem Neuromarketing. Haufe-Lexware, Freiburg.

 

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Björn Zwingmann studierte Psychologie in Köln und arbeitete nach Studienabschluss zunächst kurzzeitig in der klinischen Forschung an der Universitätsklinik in Düsseldorf und dann zehn Jahre lang als Therapeut in der forensischen Abteilung einer psychiatrischen Klinik, davon in den letzten Jahren als Leitender Psychologe. Er promovierte mit einer Untersuchung zu Goyas Schwarze Bildern im Morphologischen Kunstcoaching und wendet die Morphologische Kunstpsychologie bei Ausstellungs-Führungen und in Selbsterfahrungsgruppen an. Seit 2016 ist er als Psychoanalytiker in Köln niedergelassen und war an der BSP Campus Hamburg als Dozent tätig. Er ist Lehrbeauftragter am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie im Rheinland (IPR) und Supervisor für Mentalisierungsbasierte Psychotherapie (MBT). Seit dem Wintersemester 2018 ist er Professor für Medienpsychologie an der BSP Businessschool Berlin.

Kontakt: bjoern.zwingmann@businessschool-berlin.de

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