Der Junge mit der Harfe – Morphologische Untersuchung zu einem Märchen aus Burma

Rosemarie Tüpker

Autor:in

Prof. Dr. phil. Rosemarie Tüpker, Jahrgang 1952, studierte zunächst Musik an der Musikhochschule Köln und anschließend Musikwissenschaft, Psychologie und Philosophie an der Universität zu Köln. Dort lernte sie Wilhelm Salber und seine Morphologie kennen. Fasziniert von der Kunstnähe dieser Psychologie brachte sie die Morphologie in die Musiktherapieausbildung ein, die sie parallel im Mentorenkurs Musiktherapie in Herdecke absolvierte. Mit musiktherapeutischen Kollegen gründete sie die Forschungsgruppe und das Institut zur Morphologie der Musiktherapie, welches die Morphologie in Musik und Therapie erforschte und lehrte. Nach einer Zeit als Musiktherapeutin in einer psychosomatischen Klinik leitete sie ab 1990 an der Universität Münster die Studiengänge Musiktherapie (Diplom, Master, Promotionsstudiengang). Seit ihrer Berentung 2017 besteht nur noch der Promotionsstudiengang. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Schnittfeld von Morphologie, Psychoanalyse, Künstlerischen Therapien, Wissenschaftstheorie und Märchenforschung.

Zusammenfassung:

Kann ein Märchen aus einer „fremden“ Kultur denen, die es unvoreingenommen und ohne Vorinformationen hören, einen emotionalen Zugang zu dieser Kultur ermöglichen? Oder anders gefragt: Kann ein Märchen zum Botschafter seines Herkunftslandes werden und in der Fremde zu einer interkulturellen Auseinandersetzung anregen?

Dieser Frage geht die hier vorgestellte Untersuchung anhand eines Märchens aus Burma nach, welches in kleinen Gruppen vorgelesen und beschrieben wurde. Sie zeigt, wie durch eine solche intensive Auseinandersetzung mit dem Märchen Eigenes und Fremdes in einer neuen Form miteinander in Austausch gebracht werden.

Im Ergebnis wird dabei deutlich, dass es für eine solche interkulturelle Erfahrung keinen archimedischen Punkt geben kann, der das Ganze objektivierbar macht. Nicht eine Deutung des Märchens und seiner gesellschaftlichen Herkunft sind das Ergebnis einer solchen Exploration, sondern es ist der Prozess einer interkulturellen Auseinandersetzung, um den es geht: ein höchst (inter)subjektiver Vorgang, eher eine Kreation als eine rezipierende Nachbildung.

 

Abstract:

Is it possible for a fairy tale from a “foreign” culture to provide emotional access to this culture for those who listen to it without bias and prior information? Or putting it another way: Is it possible for a fairy tale to become an ambassador of its country of origin and to inspire an intercultural debate in foreign places?

The research presented here explores this question using a fairy tale from Burma, which was read to small groups and then described by those. It demonstrates how such an intensive engagement with the fairy tale can bring one’s own and foreign into exchange with each other in a new format.

As a result, it becomes clear that there can´t be an Archimedean point for such an intercultural experience objectifying the whole. It is not an interpretation of the fairy tale and its social origins that is the result of such an exploration, but rather the process of an intercultural engagement what it is about: a highly (inter)subjective process, a creation rather than a receiving recreation.

 

Keywords: Morphological Psychology, Burma, interculturality, qualitative research, fairy tale interpretation

 


1. Märchenforschung in der Morphologischen Psychologie

In der morphologischen Beschäftigung mit Märchen stehen mit den Forschungen von Wilhelm Salber, Gisela Rascher, Frank Grootaers und Wolfram Domke die Märchen der Brüder Grimm im Zentrum der verschiedenen Ausführungen (Salber 1999; Salber/Rauscher 1986; Rascher 2024; Grootaers 2015; Domke 2024, S. 229-306). Methodisch werden die Märchen dabei meist in einen Austausch mit Behandlungsfällen gebracht, bei Domke auch mit Tiefeninterviews, anamnestischen Beobachtungen, Alltagsbeobachtungen oder mit Filmen, wie er dies auch in seinem letzten Seminarzyklus der WSG (Sommer 2024) vorgestellte. Dabei nutzt die Morphologische Psychologie die Grimm’schen Märchen zur Herausarbeitung typischer Grundmuster des Zusammenspiels von Gestalt und Verwandlung und bringt diese vice versa in der Behandlungsform der Intensivberatung praktisch zur Anwendung.

In meinen eigenen morphologischen Märchenforschungen spielen weitere Märchensammlungen eine Rolle, bisher vor allem die aus den europäischen Märchentraditionen, einschließlich der russischen Märchen und denen der Sinti und Roma (Tüpker 2011). Methodisch basieren sie auf morphologischen Erlebensbeschreibungen der vorgelesenen oder gelesenen Märchentexte als einer tiefenhermeneutischen Textanalyse mit unterschiedlichen Fragestellungen. Der Untersuchungsgang folgt dabei, vergleichbar den morphologischen Film- oder Musikanalysen oder Untersuchungen von Alltagsphänomenen den vier Versionen der Morphologie (vgl. Fitzek 2023).

Die im Folgenden vorgestellte Untersuchung, die ursprünglich für eine Veröffentlichung der Warschauer Universität zum Thema „Märchen und Gesellschaft“ ausgearbeitet wurde (Tüpker 2024), überschreitet den Erzählraum der europäischen Märchen und fragt danach, wie sich ein „fremdes“ Märchen im Erleben (meist) deutschsprachiger Hörer:innen darstellt: Was bewirkt es? Wo wird etwas als „fremd“ erlebt, stößt auf Widerstände oder reibt sich am Vertrauten? Wie lässt es sich anverwandeln und in das eigene Erleben integrieren? Gilt auch für ein solches Märchen, was Domke für die Grimm’schen Märchen so zusammenfasst: „Alle Märchen handeln von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten seelischen Entwicklung in einem bestimmten Spannungsfeld der Wirklichkeit“ (Domke 2024, S 249)? Wie ist das, wenn ein anderer kultureller Kontext, Wirklichkeit anders ausdeutet? Und im Kontext der interkulturellen Auseinandersetzung: Können Märchen dazu beitragen, uns dem fremden kulturellen Erleben auf eine emotionale Art und Weise anzunähern und sich mit den Erfahrungen unseres eigenen Lebens verbinden?

2. Das Eigene und das Fremde

Das Eigene und das Fremde stehen in einem dynamischen Verhältnis, wie es sich auch in den Einfällen der Beschreiber:innen zeigt. Der Begriff der fremden Kultur, überhaupt des Fremden, ist vielschichtig und kann nicht einfach so gebraucht werden. Zur Einführung möchte ich daher einige kurze Anregungen zum Nachdenken über die schillernden Begriffe des Fremden und des Eigenen geben, die auch im Kontext des Märchens eine zentrale Rolle spielen. Zur weiteren Beschäftigung verweise ich auf die fundierten Auseinandersetzungen aus der Ethnopsychologie wie denen von Erich Wulff (alias Georg W. Alsheimer) 1980, Mario Erdheim (1992) und Wielant Machleidt (2013) sowie den Sammelband von Ulrich Streeck (Hrsg. 2000), das Buch der Geologin und Soziologin Elke M. Geenen (2002) und die Schriftenreihe des Zentrums für Interkulturelle Studien (ZIS). Den Begriff interkulturell verwende ich hier dementsprechend in einem konstruktivistischen und dynamischen Kulturverständnis, manche Autoren schlagen alternativ den Begriff transkulturell vor (vgl. Welsch 2017).

2.1 Das Fremde

Das Fremde lässt sich nur in der Gegenüberstellung erläutern: Etwas ist fremd gegenüber dem Eigenen, Vertrauten, Gewohnten, dem bereits Bekannten. Fremd ist ein Beziehungsbegriff wie Subjekt und Objekt, das eine setzt das andere voraus: Ein Objekt ist ein Objekt nur für ein Subjekt. Die Zuschreibung fremd zieht immer die Frage nach sich: Fremd für wen? Denn der Fremde, dem ich auf der Straße begegne, ist sich ja nicht selbst ein Fremder. Vielmehr bin ich für ihn eine Fremde, so wie er für mich. Und fremd ist relativ, beweglich, keine feste Größe: Das Fremde kann zum Bekannten werden, der Fremde zum Vertrauten, zum Angehörigen. Umgekehrt kann auch ich mir selbst fremd werden, was hoffentlich nicht lange anhält.

Als das weit Entfernte ist das Fremde nur von geringer affektiver Besetzung, erst wenn es mir näher kommt, fängt es an, etwas auszulösen, indem es das Vertraute irritiert und: Neugier oder Angst hervorruft, Begehren oder Aggression. Auch als Projektionsfläche für nicht integrierte Anteile des Selbst eignet sich das Fremde, dies vor allem dann, wenn es nur medial vermittelt in Erscheinung tritt und die persönliche Erfahrung im Alltag die Projektionen nicht stört, was auch als „Paradoxon der Fremdenfeindlichkeit“ bezeichnet wird.

Die Fremde ist aber auch Sehnsuchtsort, vor allem dann, wenn wir noch nicht aufgebrochen sind: „Sie ist zu träge zu geh’n – zu feige zu bleiben/Zu feige um ein-/Zu träge um auszusteigen/Doch irgendwann wird sie geh’n/Nach Australien“ singt Pe Werner.[1] Das Fremde bricht das Eigene auf, ermöglicht ihm Umwandlungen, Aneignungen und Entwicklungen.

Es ist eines der typischen Merkmale der europäischen Zaubermärchen, dass die Heldinnen und Helden ausziehen, um in der Fremde ihr Glück zu suchen (Hetmann 1999, S. 16–32; Lüthi 2004, S. 25–26). Ganz-Werden setzt Trennung voraus: Das Vertraute muss verlassen werden, damit sich Dynamik und (eine neue) Geschichte entwickeln können.

2.2 Das Eigene

Das Eigene und das Fremde sind aber keine einfachen Antonyme. Das Gegenüber des Eigenen ist zunächst nicht das Fremde, sondern das Andere. Die Entwicklungspsychologie beschreibt, wie sich das Eigene eines Menschen aus einer gemeinsamen Matrix am Anderen herausbildet und entwickelt (vgl. Stern 2020). Das Ich bedarf des Nicht-Ichs, das Selbst des Gegenübers des Anderen. Im Fremdeln des Kindes in der Mitte des ersten Lebensjahres zeigt sich, dass das Kind zu einer weiteren Differenzierung in der Lage ist, indem es zwischen dem vertrauten Anderen und dem (noch nicht) vertrauten Anderen, dem Fremden, unterscheiden kann. In der Adoleszenz kommt dem Fremden wiederum eine neue, herausragende Bedeutung in der Entwicklung zu, indem nur über das Fremde, das außerhalb der Familie liegende, die notwendige Ablösung und Individuation erreicht werden kann. In der Ethnopsychologie werden daher auch die Herausforderungen einer Migration mit denen in der Adoleszenz verglichen (vgl. Machleidt 2013).

Märchen beginnen meist mit einem Mangel im Eigenen, einer Not oder der Verletzung eines Tabus, die zum Anstoß für den Auszug in die Fremde werden (Lüthi 2004, S. 25–26).

2.3 Das Eigene und das Fremde als schöpferisches Verhältnis

Das Verhältnis von Eigenem und Fremden ist ein dynamisches und nur in dieser Dynamik können sich der Einzelne und die Kultur entwickeln. Der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim formuliert es vor dem Hintergrund des Freud’schen Antagonismus von Familie und Kultur so: „Während die Familie Hort bewährter Traditionen und eingeschliffener Rituale ist, die jede Generation auf das Eigene zu fixieren trachten, verdankt sich die Kultur dem Kontakt und der Konfrontation mit dem Fremden“ (Erdheim 1992, S. 730).

In den Märchen führt die Integration dessen, was in der Fremde gefunden und entwickelt wird, zum Glück. Häufig kehrt der Held, die Heldin zurück in die Heimat und gewinnt Thron und Heirat.

3. Zur Methodik

3.1 Methodisches Vorgehen

Methodisch wurde für die Analyse des Märchens mit Hilfe einer morphologischen Erlebensbeschreibung und deren Auswertung durchgeführt, wie ich dies im Kontext von Märchen in früheren Veröffentlichungen ausführlicher dargestellt habe (Tüpker 2011 und 2020). Zur Verdeutlichung sei im Folgenden eine kurze Zusammenfassung des methodischen Vorgehens skizziert, welches sich im Wesentlichen an den vier Versionen orientiert.

Das Märchen wird Gruppen verschiedenen Menschen vorgelesen, die unmittelbar nach dem Hören des Märchens ihr subjektives Erleben beschreiben. Sie verfassen ihre individuellen Erlebensbeschreibungen schriftlich. Die Beschreibungen werden reihum, zur besseren Memorierung direkt zweimal hintereinander, vorgelesen, zunächst ohne weitere Unterbrechungen. Die subjektiven Eindrücke werden dann in der Gruppe auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin verglichen und weiter bewegt. Dazu wird nun auch nachgefragt, wie etwas in den verfassten Texten gemeint war, oder es werden weitere Einfälle ergänzt. Auch das, was im Austausch mit den Texten der anderen auftaucht, wird angesprochen und von der Untersuchungsleiterin notiert. Bisweilen ergeben sich daraus weitere Einfälle, Empfindungen und Gedanken, die ebenfalls festgehalten werden. In einem weiteren Schritt werden dann, vergleichbar einer Traumanalyse und im Sinne der Binnenregulierung, Assoziationen der Beschreibenden zu einzelnen Figuren, Szenen und Symbolen des Märchens von der Untersuchungsleiterin erfragt. Erst nachdem die Erlebensbeschreibungen intersubjektiv vergleichend aufgearbeitet und zusammengefasst wurden, werden in einem weiteren Schritt, von außen verfügbare Informationen über den Märchentext und seinen kulturellen Hintergrund mit den Ergebnissen der Beschreibungen in Austausch gebracht.

3.2 Zum Märchen und den Beschreibenden

Das hier analysierte Märchen Der Junge mit der Harfe wurde von Lorie Karnath aufgezeichnet, von Ursula Bischof ins Deutsche übersetzt und von Jan-Philipp Sendker in der Sammlung Das Geheimnis des alten Mönches. Märchen und Fabeln aus Burma in deutscher Sprache veröffentlicht (vgl. Sendker 2017: 163–167). Weitere Informationen zum Kontext des Märchens sind in der Veröffentlichung nicht angegeben und wurden erst nachträglich recherchiert. Das Märchen stammt aus Burma, die Beschreiber:innen aus dem europäischen Raum. Die Fragestellung der Untersuchung lautete: Wie erleben heutige Menschen aus Europa dieses Märchen aus der alten Kultur Burmas? Die interkulturelle Erkundung ist also eine einseitige, da nicht untersucht wurde, wie Menschen aus Myanmar das Märchen erleben oder wie beide Erlebensweisen in einen wechselseitigen Austausch kommen. Wohl aber wurden die subjektiven Erlebensweisen mit einigen Informationen konfrontiert, die sich aus allgemein zugänglichen Quellen in Erfahrung bringen ließen.

Die Musik nimmt in diesem Märchen, wie in meinen früheren Märchenforschungen, eine bedeutsame Rolle ein. Hier war die Frage, ob die Musik – als eine nicht an die Unterschiedlichkeit der Sprache gebundene Erfahrung – eine vermittelnde Rolle zwischen verschiedenen Kulturen spielen kann.

Um dem Leser, der Leserin Raum für eigene Assoziationen und Empfindungen zu lassen, wird im Folgenden jeweils ein Abschnitt des Märchens präsentiert und dann anhand der Einfälle aus den Beschreibergruppen näher betrachtet. Wer mag, kann vielleicht den hervorgehobenen Märchentext zunächst ganz lesen und seine eigenen Eindrücke schriftlich festhalten. Das ermöglicht einen unvoreingenommenen Eindruck und den Vergleich zwischen dem eigenen Erleben und dem der Beschreiber:innen und somit die Nachvollziehbarkeit.

Wenn wir uns im Zusammenhang mit Märchen fragen, was das Vertraute mit dem Fremden macht und wie das Fremde das Vertraute in einem neuen Licht erscheinen lässt, so ist das Vertraute die Märchenform, auf die wir uns beim Zuhören sofort einstellen. Sie ist eine Erwartungsform, die unser Erleben mitbestimmt, so wie dies auch geschieht, wenn im Fernsehprogramm ein Krimi angekündigt wird oder wenn auf einem Buch Roman steht. Was macht diese vertraute literarische Form mit dem in ihr auftauchenden Fremden? Mit Symbolen, die wir nicht kennen und nicht zu deuten wissen? Was geschieht, wenn etwas anders weitergeht, als wir es erwarten?

Wie ist das beim ersten Hören, als spontane emotionale Reaktion? Wie, wenn man sich dann weiter damit auseinandersetzt, das Ganze mehrfach dreht und wendet, erneut hinhorcht oder in sich hineinhorcht und fühlt? Wie eignen wir uns das Fremde an? Wie verändert dann vielleicht auch das Fremde das Vertraute? Und als spezielle Frage: Erweist sich die Musik als ein verbindendes Symbol über kulturelle Unterschiede hinweg?

4. Analyse des Märchens

„Im Flussdelta des Irrawaddy, zwischen den Brackwassergebieten und dem Marschland, lebte ein Junge namens Maung Shin. Sein Vater gehörte zu den Bauern im Delta, die viel von Ackerbau und Viehzucht verstanden, und die Familie genoss das Privileg eines bescheidenen Wohlstands. Maung Shin war noch ein Knabe, als der Vater unerwartet starb. Und so brach das Unglück herein. Maung Shins Mutter tat ihr Bestes, um die Familie über Wasser zu halten und so lange wie möglich vom Ersparten zu zehren, doch trotz der bescheidenen Lebensführung war das vorhandene Geld bald aufgebraucht“ (Sendker 2017, S. 63).

Auch wenn wir gleich zu Beginn erfahren, dass dieses Märchen in einer – von uns aus betrachtet – fernen Gegend spielt, beginnt es so, wie die Beschreibenden es von den europäischen Zaubermärchen her gewohnt sind, mit einer Not, einem Mangel, der hier durch ein unverschuldetes Unglück entstanden ist.[2] Damit werden die Hörer:innen in eine ihnen vertraute Gestaltbildung geführt – trotz der fremden Gegend und eines fremd klingenden Namens. Es ist diese vertraute Märchengestalt, die in ihnen unmittelbar bestimmte Erwartungen weckt, ohne dass sie sich dessen zu diesem Zeitpunkt bewusst sind.

Dass der Protagonist einen Namen hat und die Erzählung in einer bestimmten Gegend verortet ist, lässt etwas Legendenhaftes anklingen. Dennoch überwiegt im Erleben das Überall und Nirgends, das, was alle Menschen betrifft, wie es von den Zaubermärchen erwartet wird. Die Protagonisten sind gewöhnliche Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen. Die Schilderung lässt die Beschreibenden emotional mitgehen. Dabei steht zunächst die Mutter im Fokus und die Figuration von gut, fleißig, bescheiden, das Beste geben. Es entsteht Mitgefühl mit der Mutter und Traurigkeit, ja Melancholie als erste emotionale Antwort. Vertraut ist dabei auch, dass die Not dadurch entsteht, dass der Ernährer stirbt.[3]

In der weiteren Auseinandersetzung der Beschreibenden entstehen dadurch sogleich Verbindungen zu Erfahrungen aus dem eigenen Kulturkreis: Die Väter, die im Zweiten Weltkrieg fielen, die Mütter, die zurückblieben und sich mühen mussten, die Familie über Wasser zu halten und die Kinder, die da mit hineingezogen wurden und deren Kindheit durch die fehlenden Väter und die äußere Not einen anderen Verlauf nahm.

Die Behebung der Not wird im Märchen nun zunächst in der Verwandtschaft gesucht:

„Maung Shins Mutter hatte eine Schwester, die ganz in der Nähe lebte und sich einige Zeit vor dem tragischen Todesfall Geld von ihr geliehen hatte. Um die Not zu lindern, suchte Maung Shins Mutter ihre Schwester auf und bat um Rückzahlung der Summe. Doch zu ihrer Bestürzung wurde sie nur mit Hohn und erniedrigenden Worten abgespeist. Ihre Schwester lachte über die Forderung und behauptete, sie habe kein Geld, um ihre Schulden zu begleichen. Die arme Witwe, die ums Überleben ihrer Familie kämpfte, war zutiefst erschüttert, zumal sie wusste, dass die Schwester ein sorgloses Leben führte, über beträchtliche Mittel verfügte und mühelos imstande gewesen wäre, die Schulden zu tilgen. Und so entschied sie sich, die Familienbande zu kappen, ihr Dorf in der Nähe von Bago zu verlassen und mit ihrem Sohn an einem anderen Ort einen Neuanfang zu wagen“ (Sendker 2017, S. 163–164).

Auch hier begegnen die Beschreibenden einer vertrauten Figuration. Es kommt zu einer Polarisierung, die typisch für die Erzählform auch der europäischen Märchen ist: Zwei Schwestern, von denen die eine gut, die andere böse ist. Das kennen wir von Aschenputtel und ihren Stiefschwestern, von der Goldmarie und der Pechmarie und vielen anderen Märchen; und natürlich könnten das auch zwei Brüder sein. Es ist ein Beispiel dafür, wie das, was wir kennen, Erwartungen weckt: Denn hier entsteht in uns die Erwartung, dass die gute Schwester obsiegt und belohnt wird und die böse bestraft, was ja in den Märchen oft auf eine grausame und endgültige Art geschieht. Denjenigen, die in den Märchen das Laufen über glühende Kohlen oder das Ertränken mit dem Mühlstein um den Hals zu drastisch finden, sagt die Märchenforschung, dass so etwas ja nicht wörtlich zu nehmen sei, sondern dass es um die Überwindung des Bösen an sich gehe und nicht um die Vernichtung realer Personen, wird hier zur Beruhigung erwähnt.

Ferner wir vermerkt, dass es das Interessante an dieser Polarisierung ist, dass eine Verankerung im Gemeinsamen geschieht: Denn diese auseinandergefalteten Gegensätze gründen in der Geschwisterlichkeit, sie stammen also nicht aus zwei ganz unterschiedlichen Welten, sondern aus der gemeinsamen Herkunft. Es ist nicht der von außen kommende Fremde, der böse ist, sondern das Böse ist mitten unter uns, in der eigenen Familie und somit in uns.

So sind wir im Hintergrund daran gemahnt, dass wir als Menschen beides sind: die gute und die böse Schwester, auch wenn im Vordergrund der Gegensatz, die Unterschiedlichkeit und Trennung betont wird. Dieses aus der morphologischen Märchenforschung bekannte Zugleich, der Gegensinn polarer Figurationen, ist einer der psychologischen Tricks der Märchen, die uns damit dabei helfen, unsere Gefühle zu sortieren.

In den Beschreibungen verstärkt sich hier das Mitgefühl für die Mutter, die Erniedrigung und Hohn ertragen muss. Die entstehenden negativen Affekte hingegen lassen sich an der bösen Schwester festmachen. Man ist empört, verärgert oder wütend. Auch hier können die Hörer:innen anknüpfen, denn so etwas kennt man natürlich: Leute, die nur an sich denken, nicht hilfsbereit sind, Geliehenes nicht zurückzahlen wollen. Leute, denen man früher geholfen hat und die sich nun, da man selbst einmal Hilfe bräuchte, abwenden. (Man selbst ist natürlich nicht so.)

Die Figuration im ersten Abschnitt des Märchens ist schwer erträglich: Glück und Unglück sind da ohne eigenes Zutun, man ist ihnen einfach nur unterworfen. In diesem zweiten Abschnitt kommt das Ganze nun durch die Gegenüberstellung von Gut und Böse in Bewegung. Oder anders formuliert: Das Gefühl findet einen Schuldigen für das Unglück, was erleichtert. In der Realität sind solche Zuschreibungen nicht sonderlich zielführend und gesellschaftlich brisant. Beim Hören oder Lesen eines Märchens hingegen können wir uns dem gefahrlos hingeben, ohne jemandem zu schaden oder falsche Entscheidungen zu treffen.

Ein weiteres vertrautes Märchenmotiv in diesem Abschnitt ist das In-die-Welt-Ziehen. Hier kappt die Mutter die Familienbande, verlässt die Heimat und wagt „an einem anderen Ort“ einen Neuanfang. In diesem Neuanfang nun kommt der Sohn ins Spiel und mit ihm die Musik:

„Nun hatte Maung Shin schon in frühester Kindheit einzigartige Fähigkeiten als Bogenharfenspieler erkennen lassen. Die Klänge, die er den Saiten entlockte, waren so rein und überwältigend, dass sie auch ein Herz aus Stein erweicht hätten. Dazu kam, dass er ein begnadeter Sänger war, dessen klare Stimme eine edle Gesinnung und seine lauteren Absichten widerspiegelte. Seine Melodien, von einer sanften Brise davongetragen, tönten unvorstellbar schön. Da das Ersparte der Familie dahinschmolz und keine anderen verlässlichen Einnahmen in Sicht waren, begann Maung Shin, für die Einheimischen und die Pilger, die durch sein neues Heimatdorf kamen, Harfe zu spielen und zu singen. Mutter und Sohn lebten vornehmlich von den symbolischen Spenden, die sie in Anerkennung der vielgerühmten Talente des Jungen erhielten“ (Sendker 2017, S. 164).

Abb. 1: Bogenharfenspieler aus Burma (1904)

Mit diesem Abschnitt wird das Märchen zu einem Musikmärchen in dem Sinne, dass der Musik eine entscheidende Rolle zukommt und sie die Bedeutung eines Zaubermittels bekommt.

Außerdem finden wir in diesem Abschnitt zunächst einen weiteren Ausbau der hilfreichen Polarisierung, die in den Beschreibungsgruppen aus dem Text oder mit eigenen Worten hervorgehoben werden: Herz aus Stein, Vermögen schmilzt dahin, keine verlässlichen Einnahmen, die Härte der diesseitigen Welt, Selbstsucht, der Junge trägt eine schwere Last, die Härte der Armut versus Klänge, rein und schön, begnadet, edel, lauter, sanft, unvorstellbar schön, überirdisch, das erste Anklingen einer jenseitigen Welt oder Anderswelt. Diese Polarisierungen werden auch als Gegensätze zwischen dem Irdischen und dem Überirdischen bezeichnet, die den gesamten weiteren Verlauf prägen. Die Musik steht dabei für das Überirdische, das Zauberhafte, und man erwartet und hofft, dass sie die Erlösung bringen wird.

Diese Erwartung wird aber sogleich enttäuscht. Vielmehr überwiegt die harte Seite des täglichen Überlebenskampfes, der sich nicht mit der Musik überwinden lässt.[4]

Die Beschreiber:innen finden es seltsam, dass dabei, zunächst fast unbemerkt, der Überlebenskampf von der Mutter auf den Sohn übergeht:

„Maung Shin war zutiefst unglücklich über den Lauf der Ereignisse und die finanzielle Notlage, in der sich die Familie befand. Er konnte es kaum ertragen, den täglichen Überlebenskampf seiner Mutter mit anzusehen, und verspürte den dringenden Wunsch, mehr zu tun, um ihr die Bürde zu erleichtern und die Lebensumstände zu verbessern. Der karge Lohn, den er mit seiner Musik verdiente, reichte kaum aus, um auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse zu erfüllen. Maung Shin gelangte zu dem Schluss, dass er eine zusätzliche Arbeit annehmen musste, wenn er das Los der Familie verbessern wollte. Doch da der junge Mann über das Harfespielen und Singen hinaus nur wenige Fähigkeiten besaß, die sich in klingende Münze umwandeln ließen, hoffte er, sich irgendwo als Hilfskraft verdingen zu können. Schließlich begegnete er einer Waldarbeiterbrigade, die den Auftrag hatte, die gelben Sandelholzbäume in der Region zu fällen, und bereit war, ihn in ihre Dienste zu nehmen. Das Sandelholz war als Baumaterial und wegen seines einmaligen ätherischen Öls ein begehrtes Handelsgut. Die Holzfäller befanden sich auf dem Weg zu den dicht bewaldeten und oft von Krokodilen heimgesuchten, Inseln im Irrawaddy-Delta“ (Sendker 2017, S. 164–165).

Neben den harten Seiten des Lebens werden in den aufgeschriebenen Texten besonders der Sandelholzbaum und das Sandelholzöl reflektiert. Erinnerungen werden wach an den süßlich-holzigen Duft von Räucherstäbchen der Sorte Sandelholz und damit auch an die Hippiezeit, an den Konsum von Haschisch und Rauscherfahrungen. Damit mischen sich bereits vorhandene interkulturelle Erfahrungen der Beschreibenden in das Erleben des Märchens ein, mögen sie noch so klischeehaft sein.

Im Erleben scheut unser Seelisches das Klischee durchaus nicht. Wie die Polarisierung hilft das Klischee uns, Fremdes und Beängstigendes zu ordnen und schützt uns vor Überforderung durch ein Zuviel an Neuem. Im Zusammenhang mit Literatur, Film oder Musik hilft es uns, dabei zu bleiben. Denn wird die Zumutung zu groß, so klinken wir uns aus, schalten ab, gehen nicht mehr mit. Wir schreiben dann beim Gucken eines Films oder dem Musikhören im Konzert in Gedanken einfach schon mal den Einkaufszettel oder denken daran, dass wir noch das Auto waschen wollten. Ein solches Aussteigen, wie es von vergleichbaren tiefenhermeneutischen Erlebensbeschreibungen her bekannt ist, geschieht hier aber nicht. Die Märchenerzählung kann die Hörer:innen weiter an sich binden. Die Assoziationen zum Sandelholz, seinen imaginierten Farben und Gerüchen verbinden sich mit der aufgebauten Konfiguration der Harfenmusik, der erhofften Rettung und dem Transzendenten.

Ein Hörer beschreibt dies als imaginiertes Farbenspiel: „Schnell gelingt ein Hineingleiten in die Geschichte des jungen Harfenspielers. Es entsteht ein farbiges Bild. Zunächst erdiges Orange und Ockertöne. Beim Schreiben der Farbtöne kommt sogleich die Assoziation zu den Tönen und Klängen des Musikers. Im Verlauf ändern sich die Farben. Übergang sind die gelben Sandelholzbäume mit ihren ätherischen Ölen. Dann wird es dunkler, grün, braun, blau, archaischer, rauer. Der Wunsch, nicht nur der Geschichte, sondern auch tatsächlichen Tönen lauschen zu können, wird größer. Am liebsten würde ich selbst eine Musik zu der Geschichte machen!“

Zugleich drängt sich aber allmählich etwas Befremdliches ins Erleben. Es liegt weniger an einzelnen Symbolen wie dem Sandelholz oder der sozialistisch anmutenden Holzarbeiterbrigade, sondern vielmehr an kleinen Verschiebungen, die der Erwartung zuwiderzulaufen beginnen. Befremden löst etwa der hier beginnende und dann nicht mehr zurückgenommene Protagonistenwechsel aus. Das zeigt sich in Gefühlen von Verwunderungen, Irritationen, Erstaunen, die sich zu Ärger und Widerstand ausbauen: „Was ist eigentlich mit der Mutter?“ wird mehrfach ziemlich verärgert gefragt.

Der nächste Abschnitt bewirkt demgegenüber zunächst so etwas wie eine Erholung im Erleben der Hörer:innen.

„Weil aber Maung Shin nur wenig Geschick beim Fällen der Bäume bewies, entschieden die Waldarbeiter, dass er als Schiffskoch von größerem Nutzen wäre, eine Aufgabe, die der junge Mann mit großem Eifer übernahm. Wenn er sich nicht in der Kombüse aufhielt und das Essen für die gesamte Mannschaft zubereitete, sammelte er allerlei Proviant in der Natur, um den Männern am Ende eines langen, harten Arbeitstages frische und schmackhafte Mahlzeiten vorsetzen zu können. Wenn sich Maung Shin auf der Suche nach Essbarem an Land aufhielt, legte er hin und wieder eine Pause ein, spielte auf seiner Bogenharfe und sang dazu. Die lieblichen Töne waren nicht nur in seinem Heimatdorf auf Begeisterung gestoßen, sondern zogen auch die Bewohner der idyllischen Delta-Inseln in ihren Bann. Doch hier erregte seine himmlische Musik nicht nur die Aufmerksamkeit der diesseitigen Welt. Auf diesen Inseln lebten nämlich auch einige Schatzgöttinnen, die sich bald von Maung Shins verzaubernden Klängen gefangen nehmen ließen. Es dauerte nicht lange, bis sie den jungen Mann regelmäßig aufsuchten und sich fast jeden Tag zu ihm auf das Boot gesellten, um zu singen und zu tanzen, wenn er Harfe spielte“ (Sendker 2017, S. 165).

In der Fürsorge für die Mannschaft werden nun weitere gute Eigenschaften des Jungen erlebt, die auf Belohnung und ein gutes Ende des Märchens hoffen lassen. Maung Shin wächst den Hörer:innen ans Herz als ein sympathischer und angenehmer junger Mann mit ihn vervollständigenden weiblichen Anteilen, wie sie sowohl im Singen zur Harfe gesehen werden als auch in der sorgsamen Nahrungsmittelsuche und Zubereitung des Essens, als seien die Aspekte der nicht mehr auftauchenden Mutter auf ihn übergegangen. Die Schatzgöttinnen werden trotz des ungewohnten Namens zunächst als eine Art Feen angesehen, die sich für die gute Unterhaltung mit Geschenken oder guten Gaben bedanken werden, wie dies aus der Kenntnis europäischer Feenmärchen erwartet wird (vgl. Tüpker 2019). Dann aber kommt es ganz anders:

„Als das Boot schließlich mit Nutzholz voll beladen war, machte der Bootsführer es für den Heimweg bereit. Doch als es seinen Liegeplatz verlassen wollte, verkeilte sich der Anker und ließ sich selbst unter Aufbietung aller Kräfte nicht lichten. Der Bootsführer und seine Mannschaft überprüften ihn, konnten aber keinen Grund dafür entdecken, warum er feststeckte. Nachdem sämtliche Möglichkeiten erschöpft waren, ihn von der Stelle zu bewegen, war klar, dass die Notlage auf irgendeine Freveltat während des Aufenthalts auf der Insel zurückzuführen war, begangen von einem Mitglied der Holzfällerbrigade. Jemand hatte den Zorn der Götter erregt. Da sich niemand dazu bekannte, beschloss die Gruppe, das Los entscheiden zu lassen. Aus einer Anzahl von Papierröllchen, von denen ein einziges mit einem roten Punkt gekennzeichnet war, musste jeder eines nehmen: Wer den roten Punkt zog, war als der Schuldige anzusehen“ (Sendker 2017, S. 166).

Hier nun sträubt sich das moderne europäische Seelische: Auch wenn es sich „nur um ein Märchen handelt“, kommt den Beschreibenden diese Wendung völlig verquer vor. So etwas ist doch ungerecht, wahllos, so kann man doch keine Entscheidungen treffen. Und man befürchtet schon, dass es den inzwischen so sympathischen und guten Jungen treffen wird. Und so kommt es auch:

„Als die Lose gezogen und auseinandergerollt waren, zeigte sich der rote Punkt auf Maung Shins Los. Der Vorarbeiter der Holzfällerbrigade wusste, dass Maung Shin nichts Unrechtes getan und seine Tage auf der Insel damit verbracht hatte, Nahrungsmittel für die täglichen Mahlzeiten zu sammeln und zu musizieren. Tätigkeiten, die wohl kaum die Götter erzürnt haben konnten. Deshalb gelangte er zu dem Schluss, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse, und die Lose wurden eingesammelt und neu gemischt“ (Sendker 2017, S. 166).

Man entspannt sich, so fremd ist es also doch nicht: Das Märchen gibt unserem Befremden recht. Auch in anderen Kulturen also zeigt sich ein gleiches Wertesystem: Kochen, gut für andere sorgen und schön musizieren, sind unschuldige, ja zum Guten gehörende Tätigkeiten, die von den höheren Mächten belohnt werden müssen. Und so können wir leicht weiter folgen, wenn es heißt:

„Als Maung Shin abermals das Papierröllchen mit dem roten Punkt in den Händen hielt, entschieden der Kapitän und die Mannschaft aufgrund ihrer Zweifel erneut zu seinen Gunsten“ (Sendker 2017, S. 166).

Dann aber trennen sich die Erwartung und der Verlauf des Märchens abrupt.

„Erst als der rote Punkt zum dritten Mal auf Maung Shins Los auftauchte, war die Botschaft unmissverständlich. Er war es, der den Zorn der Götter erregt hatte. Um sie zu besänftigen, ließ der Bootsführer ihn ohne viel Federlesens vom Boot in das schlammige Wasser werfen, in dem die Krokodile lauerten. Maung Shin ertrank elendig.

Falls jemanden Schuldgefühle plagten, so waren diese schnell verflogen. Mit dem Tod von Maung Shin waren die Götter offenbar versöhnt, denn nun konnte das Boot ablegen und ohne weitere Zwischenfälle den Heimweg antreten“ (Sendker 2017, S. 166–167).

Mit dieser dramatischen und noch dazu so plötzlichen Wendung kommt es im ersten Erleben der Hörer:innen zu einem radikalen Bruch mit dem Märchen. Diese schockierende Weiterführung ruft Ärger und Wut hervor über die Schicksalsgläubigkeit der Holzfäller und deren Bereitschaft, den Knaben so scheinbar „leichtfertig“ zu opfern. Entsetzen breitet sich über seinen grausamen Tod aus und darüber, dass die Brigade ihn sogleich aufgeben kann. Das machen wir sozusagen nicht mehr mit. Wir sind empört, das ist ungerecht, das passt nicht in ein Märchen, wird entschieden konstatiert. Die Unschuld des Jungen wird in den Dreck gezogen. Von einem Märchen darf man doch wohl erwarten, dass das Gute siegt und das Böse bestraft wird. Wo ist denn da „die Moral von der Geschicht‘?“ So etwas kann man doch Kindern nicht vorlesen.

Im nächsten Abschnitt und Schluss des Märchens erfahren wir, woher unser Denkfehler kommt: Die Götter sind in dieser Kultur wohl weder gut noch gerecht, sondern selbstsüchtig und grausam.

„Die Mannschaft wusste nicht, dass die Schatzgöttinnen das Schiff am Auslaufen gehindert hatten, damit ihnen der Urheber der wundervollen Musik auf den Inseln erhalten blieb. Sie hatten dafür gesorgt, dass bei jeder Ziehung das Los mit dem roten Punkt Maung Shin zufiel. Die Schatzgöttinnen waren hocherfreut, dass es ihnen gelungen war, seine Abreise zu vereiteln; sie sammelten seine sterblichen Überreste vom Meeresgrund ein, und Maung Shin wurde in einen Nat verwandelt, ein Geistwesen, das den Namen U Shin Gyi erhielt. Noch heute bringen diejenigen, die sich auf das Wasser hinauswagen, gleich ob Fluss, See oder offenes Meer, dem jungen Harfenspieler, der keinerlei Schuld auf sich geladen hatte und nur durch das ungerechte Wirken der Göttinnen einen gewaltsamen Tod fand, kleine Opfergaben dar. Wenn man aufmerksam lauscht, heißt es, kann man inmitten der anbrandenden Wellen noch heute überirdische Klänge vernehmen, die von den seidenen Harfensaiten des Musikers ausgehen“ (Sendker 2017, S. 167).

Mit diesem Schluss des Märchens steigern sich einerseits Ärger, Empörung und Abwehr, da gerade die angenehme und anziehende Wirkung der Musik dem Harfenspieler zum Verhängnis wird. Man ist wütend über die Selbstsucht der Schatzgöttinnen, die in eine Linie mit der selbstsüchtigen Schwester gesetzt werden. Und man ist auch darüber verärgert, dass der Junge seine Begabung nicht voll verwirklichen kann, sondern sich zunächst einen anderen Broterwerb suchen musste, und dann auch noch bestraft wird. Zynisch kommt man auf die Idee: Vielleicht wird er ja dafür bestraft, dass er nicht seinen eigenen Weg gegangen ist. Ein Beschreiber verfasste eine zynisch bittere Ode an die Götter:

„Oh, ihr Götter! Welch ein durchtriebenes Spiel, das Ihr betreibt!
Fangt den unschuldigen Jüngling, seid zu keiner Mildtätigkeit bereit.
Hört Ihr nicht der Mutter Klagen, die ihren Mann und Sohn verlor?
Führt die Menschen in die Irre, sät Missgunst und Zwietracht, habt den Jüngling, wohlbegnadet, um seinen rechten Lohn gebracht?!
Jetzt sitzt er als Geist zu Eurer Rechten, beliebt es Euch weiter, ihn zu knechten?
Ach – dies Alles sind nur Gedanken menschlicher Vernunft.
Om. Amen. Aus.

Die emotionale Kritik an dem Märchen steigert sich. Es fällt jetzt auf, dass der Protagonistenwechsel endgültig ist: Was ist denn nun mit der Mutter? Die wird ja gar nicht mehr erwähnt. Gerade mit ihr hatte man sich zu Beginn des Märchens mitfühlend verbunden. Nun erfährt man gar nicht, was aus ihr wird. Neben dem Mann hat sie nun auch den Sohn verloren. Gerade durch den Bruch und die Empörung wühlt das Märchen aber auch so auf, dass man sich weiter damit beschäftigt. Die Kluft zwingt uns quasi zur weiteren Auseinandersetzung: mit dem Märchen wie mit unseren eigenen Erwartungen und Erfahrungen.

Dabei hilft es dann, erst einmal ein wenig Abstand von den Emotionen zu nehmen. Das gelingt durch das Aufsuchen einer Wissensebene. Was sind eigentlich Schatzgöttinnen, was ist ein U Shin Gyi? Ist Burma nicht vom Buddhismus geprägt und wird dort über den Tod vielleicht anders gedacht? Wird das Sterben durch den Glauben an die Wiedergeburt vielleicht als weniger endgültig empfunden? Und ist Schicksalsergebenheit vielleicht ein Teil dieser Kultur? Könnte man das Schicksal des Jungen auch als freiwilliges Opfer verstehen, wie man es ja auch aus jüdisch-christlichem Kontext kennt?

Durch dieses Sich-Distanzieren von den eigenen Gefühlen dreht sich der Zugang zum Märchen dann ein weiteres Mal. Einige wissen aus ihren allgemeinen Kenntnissen etwas über Burma zu berichten, andere haben die Romane von Jan Philipp Sendker gelesen, in denen aus einer tiefen Kenntnis heraus, die Gewalttätigkeit in den alltäglichen Erfahrungen der Menschen geschildert wird, das Ausgesetzt-Sein gegenüber Willkür und Grausamkeit der jeweils Herrschenden, welches historisch tief verwurzelt scheint. Es entsteht zunächst der Gedanke, dass auch solche Erfahrungen einer Kultur sich in deren Märchen widerspiegeln. Und dann nimmt das Ganze noch einmal eine weitere Wendung zur eigenen Kultur und zu den eigenen Erfahrungen.

Die Beschreibenden beschäftigen sich mit der schweren Last, die der Junge hier zu tragen hat: So ergeht es doch gerade auch vielen Kindern, deren Eltern auf der Flucht sind. Das raubt ihnen nicht nur die Kindheit, sondern auch die Möglichkeit, ihre Träume (hier repräsentiert in der Musik) zu verwirklichen. Sterben sie nicht auch innerlich, angesichts all der Willkür und Ungerechtigkeit, der sie ausgesetzt sind?

Auch eine musikgeragogische Perspektive kommt ins Spiel: In diesem Arbeitsbereich könnte man das Märchen gut vorlesen, weil die Kriegsgeneration auch solche Erfahrungen hat: Die Väter blieben im Krieg und die Kinder mussten viel zu früh Rollen der Überlebenssicherung und der Verantwortung übernehmen und Eigenes zurückstellen. Aus diesem Grund kommt die Idee auf, dass Menschen, die so etwas erlebt haben, sich von dem Märchen durchaus verstanden fühlen würden.

Auch entgegen der ersten Einschätzung, dass man dieses Märchen Kindern lieber nicht vorlesen würde, kommt nun Gegenteiliges in den Sinn: Berichtet wird von einer 11-jährigen Patientin, die so stark sein müsse für die Eltern und so vieles leisten, wie man es von einem Kind eigentlich nicht erwarten möchte. Dadurch habe sie viel zu wenig Raum für Eigenes, und so etwas gebe es ja leider durchaus häufiger. Man ist sich einig: Solchen Kindern würde man das Märchen vielleicht doch gut vorlesen können. Auch sie könnten sich darin vielleicht spiegeln und verstanden fühlen.

Und haben die Schatzgöttinnen den Jungen nicht vielleicht auch von seiner schweren Arbeit erlöst und seiner eigentlichen Bestimmung als Musiker zugeführt? ist eine neue Idee, die nun aufkommt.

So entfaltet sich in den Beschreibungsgruppen eine interkulturelle Auseinandersetzung, die vom Einholen von Informationen bis hin zur Entdeckung der eigenen Erfahrung im Fremden reicht. Im zunächst Fremden schimmert nun zugleich Bekanntes, Vertrautes auf, welches bisher noch nicht bedacht wurde. Das wird als eine unverhoffte Bereicherung erlebt.

5. Außenperspektive

Mit dem Einholen von Informationen über den kulturellen Kontext des Märchens soll nun die Perspektive des Erlebens der europäischen Hörer:innen ergänzt werden. Dieser methodische Schritt fand nicht mehr in den Beschreibungsgruppen, sondern nachträglich statt, auch wenn einige der Fragestellungen innerhalb der Beschreibungsgruppen entstanden.

5.1 Von Schatzgöttinnen und Nats

Was sind Schatzgöttinnen? Und was ist ein U Shin Gyi? Vom Aufzeichner des Märchens erfahren wir darüber nichts. Über weitere Quellen aber lässt sich recherchieren: Es gibt in der mythologischen Legendenwelt Burmas eine ganze Reihe von geistigen Wesen, Dämonen und Nats mit jeweils unterschiedlichen Eigenschaften, hierarchischen Positionen und Kräften. Zu ihnen gehören auch die, die Sendker als Schatzgöttinnen bezeichnet, wobei der von Sendker in der Übersetzung gewählte Begriff Götter eher unüblich zu sein scheint. Sie kommen am nächsten dem, was in der Liste der Nats als Ottsa-Saunk oder Thaik nan shin bezeichnet wird. Erstere sind aufgrund ihrer starken Bindung an Gegenstände oder Orte dazu verflucht, die Erde zu durchstreifen, letztere aufgrund ihrer Gier nach Schätzen in ihrem früheren menschlichen Dasein mit der Bewachung der Schätze Buddhas beauftragt (vgl. Aung 1958).

Auch Maung Shin wird in einen Nat verwandelt. Nats sind übernatürliche Wesen. Viele von ihnen wandelten einst als Menschen auf der Erde und sind Opfer einer ungerechten Herrschaft oder sie waren der Willkür eines Königs ausgeliefert, mit tödlichem Ausgang. Hinter vielen Nats stehen ergreifende Geschichten von Liebe oder Leid. Einmal zum Nat geworden können diese Zwischenwesen die Menschen sowohl beschützen als ihnen auch Unheil bringen (vgl. Informationen der Botschaft Myanmars).

Nats sind im Leben der Burman:innen[5] deutlich präsenter, wirklichkeitsnäher als es die Feen, Elfen oder Trolle für uns sind (vgl. Sadan 2005). Sie mischen sich durchgängig in das Leben der Menschen ein. Man befragt sie, opfert ihnen und stimmt sie milde, um ein gutes Leben zu haben. Man widmet ihnen kleine Altäre im eigenen Zuhause, es gibt sie als kunstvoll gestaltete Figuren und es gibt Festivals und kleine intime Bräuche, bei denen man sie darstellt.

Der Junge mit der Harfe wird, so das Märchen, zu einem Nat, dessen Name U Shin Gyi ist, das heißt übersetzt: Herrscher des Meeres. Hier nun wird deutlich, dass das, was sich für uns als Märchen lesen und verstehen lässt, in Burma durchaus auch eine Legende mit einer konkreten Gestalt ist. U Shin Gyi wird im Irrywaddy-Delta als wohlwollender Schutzgeist der Wasserwege verehrt. In Darstellungen hat er seine Harfe in der Hand. Neben ihm findet sich häufig als Zeichen seiner Macht ein Tiger und ein Krokodil.

Abb. 2: Hintha: Statue von U Shin Gyi in der Kyauktan-Yele-Pagode

Als Legende gibt es weitere Versionen der Geschichte: In einer ist U Shin Gyi eher der Handelnde als das Opfer, denn dort heißt es, dass er es erlaubte zu ertrinken, um die Geister zu erfreuen und um im Gegenzug zu einem Nat zu werden.[6] (Eine auch in einer Beschreibergruppe aufgekommene Variante im jüdisch-christlichen Kontext.) Ihm zu Ehren wird jedes Jahr im März ein Nat-Festival abgehalten und es scheint weitere Bräuche zu geben. Ein eindrucksvolles Youtube-Video zeigt, wie der Brauch um U Shin Gyi im Alltag gelebt wird.[7]

5.2 Sandelholz

Gefragt wurde in den Gruppen auch nach der Bedeutung der gelben Sandelholzbäume. Wofür stehen sie? Haben sie für uns und für das Land, aus dem das Märchen kommt, eine vergleichbare Bedeutung?

Bei der Recherche zu dieser Frage stoßen wir auf ein Phänomen, welches deutlich macht, wie schwierig manchmal die interkulturellen Übersetzungen sind. Das fängt hier schon auf der sprachlichen Ebene an. Der Sandelholzbaum (bot. Santalum album) liefert zwar Nutzholz und Sandelholzöl. Die olfaktorischen Assoziationen der Beschreibenden passen also dazu. Santalum album wächst aber gar nicht in Burma. Und auch, wenn wir der größeren Gruppe der Sandelholzartigen nachgehen, stoßen wir auf keine Baumart, die in Burma die im Märchen erwähnte Rolle verstehbar macht.

Das, was – fälschlicherweise – als Sandelholz bezeichnet wird und was hingegen eine hohe Bedeutung in Burma hat, ist der sogenannte indische Holzapfel (bot. Limonia acidissima), auch Elefantenapfel genannt, ein kleiner Baum aus der Familie der Rautengewächse, dessen Früchte essbar sind und dessen verriebene Borke als Thanaka eine hohe Bedeutung hat: Thanaka ist ein gelblich-weiße Paste, die in der Kosmetik Verwendung findet: Sie schützt vor zu starker Sonneneinstrahlung, somit auch vor Hautalterung, eignet sich aber ebenso zu kunstvoller Gesichtsbemalung. Sie ist im Alltag der Burman:innen allgegenwärtig und wird von Frauen, Männern und Kindern genutzt. Die Rinde des kleinen Baumes wird gerieben und angefeuchtet, direkt auf die Haut aufgetragen oder zu Puder oder Paste verarbeitet. Man kann Thanaka selbst herstellen und findet alles, was man dazu braucht auf den kleinen und großen Märkten Myanmars. Nicht zuletzt durch die globalen Märkte ist daraus inzwischen auch eine kleine Industrie entstanden, deren Produkte mittlerweile auch im Westen als Anti-Aging angeboten werden.

Abb. 3: Thanakaverkauf auf einem Markt

 

 

Abb. 4: Mutter und Kind mit Thanaka

 

Abb. 5: Thanaka, Vermarktung für den Westen

 

5.3 Harfenspiel und Gesang

Das Singen zur Harfe ist ein Motiv, welches in der emotionalen Rezeption des Märchens eine bedeutsame Rolle spielt. Mit der Harfe ist eine Ebene des Archetypischen berührt, durch die ein interkultureller Zugang erleichtert wird. Die Harfe ist ein sehr altes Instrument, welches es auf allen Kontinenten gab und gibt. Ihren Klang imaginiert man unmittelbar beim Hören oder Lesen des Märchens und erinnert sich an Harfenmusik, die man kennt und früher gehört hat. Ins Spiel kommen aber auch – ohne dass man dies immer explizit weiß – die in der eigenen Kultur vermittelten symbolischen Bedeutungen der Harfe, die wie ein Halo wirken, ein Schein, ein Bedeutungshorizont, der die Harfe umgibt und der bis in unsere Träume hinein wirksam ist. Zum Halo gehören in den Beschreibungsgruppen zur Harfe assoziierten Begriffe: Zauber, heilend, Feen, Elben, träumen, himmlisch, Engel, Entspannung, Meditation, sanft, entspannend, beruhigend, musikalische Auszeit, märchenhaft, überirdisch und sinnlich, weiblich, und zwar engelhaft und sexy zugleich. Verbunden werden mit der Harfe Geschichten wie die vom König David, von Orpheus oder dem irischen Helden Dagda. Harfner und Harfnerinnen übernahmen im Alten Ägypten eine wichtige religiöse Funktion und standen in Verbindung zum Königskult. Auch im Mittelalter galt die Harfe als königliches Instrument und wurde typischerweise als Begleitinstrument zum Gesang verwendet.

Zum sachlichen Hintergrund gehört, dass Harfen bereits um etwa 3000 v. Chr. in Mesopotamien und Ägypten nachweisbar sind. Sie entstanden aber auch an anderen Orten der Erde, so in Asien und Afrika. Dabei können Harfen sehr unterschiedliche Formen haben und es gibt sie in verschiedenen Stimmungen, pentatonisch, diatonisch, chromatisch, in verschiedenen Größen und in sehr einfachen bis hin zu technisch hoch aufwendigen Instrumenten. Gemeinsam ist allen Harfen, dass alle Saiten als leere Saiten frei schwingen und dass sie nicht über dem Resonanzkörper angebracht sind, wie dies für die Leiern und Zithern kennzeichnend ist.

Bei der historisch in Burma verwendeten Harfe handelt es sich um eine sogenannte Bogenharfe. Auch diese Form stammt aus der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr., wenn sich auch nicht genau rekonstruieren lässt, seit wann sie in Südostasien bekannt war. Die in burmesischer Sprache Saung gauk oder auch kurz Saung genannte Form der Bogenharfe kam vermutlich aus Indien und gilt bis heute als burmesisches Nationalinstrument. Die Saiten sind an der Bogenseite mit roten Kordeln befestigt und über diese auch stimmbar. Die Grundstimmung ist pentatonisch. Die Anzahl der Saiten variierte zwischen fünf und sieben Saiten, moderne Formen haben 16 Saiten. Das Instrument wurde sowohl in der Volksmusik als auch in der höfischen Musik gespielt und ist auch in der aktuellen Musikkultur des Landes sehr präsent.

Gesang und Harfe als ein Zusammengehöriges zeugt von einer Zeit, in der Dichtkunst und Musik fast identisch waren. Diese ungetrennte Figuration von Musik und Sprache finden wir auch in den vielen europäischen Musikmärchen, in denen die Harfe zugleich eines der wenigen Instrumente ist, welches häufiger auch von Frauen gespielt wird. Die Harfe steht für das Über-den-Alltag-hinaus-Gehende, die Möglichkeit der Erfahrung von Transzendenz und für die Transzendenz unserer Erfahrung, wie sie im Märchen selbst ganz konkret dargestellt wird, indem der Junge zu einem Nat wird. In vielen europäischen Märchen ist sie ein Instrument, welches den Feen, Elfen oder auch Trollen zugehört oder von ihnen verschenkt wird und eine Verbindung zur Anderswelt schafft. Es ist ein Instrument, welches Sehnsucht auslöst und auf den Weg führt oder für ewige Treue steht.

Abb. 6: Engel mit Harfe in der Marienkirche Weingarten

In vielen Bildern, von der Kunst bis zum Kitsch, erscheint die Harfe als ein Instrument der Engel. Sie gehört zur Metapher der himmlischen Musik und steht vor allem in der romantischen Lyrik stellvertretend für die Seele. „Innewohnend in zarten Saiten / Sind die eignen Geistertöne“ beginnt ein Gedicht von Ludwig Tieck zur Harfe.

In Bezug auf die Analyse des Märchens hilft die Harfe wesentlich bei der Aneignung: Gemeinsam ist die Verzauberung, die von den frei schwingenden Saiten, von der Vermischung der Klänge im Nachhall und von der Zartheit durch die Tätigkeit des Zupfens ausgeht. Gemeinsam ist auch die Verbindung von Gesang und Harfe und der Hinweis dieses Symbols auf die Anders-Welt, zum Göttlichen, zur Transzendenz.

Was man beim unbefangenen Hören des Märchens hingegen nicht ahnt, ist die besondere Bedeutung, die die Saung gauk für die burmesische Kultur spielt. Sie gilt als das Nationalinstrument des Landes. Die Stimmung der Saung gauck orientiert sich an verschiedenen Modi der Pentatonik, wie sie im Musiksystem der burmesischen Musik tradiert ist. Ausgehend von der für das Musikstück vorgenommenen Stimmung kann die Tonhöhe durch Manipulation der jeweils gespielten Seite verändert werden. Die Veränderungsvarianten des Tones durch Ziehen an der Saite erinnern an die indischen Shrutis. Die tatsächlich klingende Musik ist den meisten europäischen Hörer:innen daher vermutlich fremder als die durch das Märchen in uns anklingenden Assoziationen.[8]

6. Ergebnisse und Reflexionen

6.1 Vertrautes und Fremdes

Im interkulturellen Erleben des Märchens stoßen wir auf gemeinsame menschliche Erfahrungen von Not und Armut, Geiz und Geschwisterneid, Mut, Fleiß, Mitgefühl sowie auf überraschende Begabungen und die Faszination der Musik.

Das macht es unserem Seelischen leicht, einen Zugang zu finden und auch dabei zu bleiben, wenn dann einiges Befremdliches kommt, wie der Wechsel des Protagonisten, dass Göttliches böse ist, die schicksalsergebenen Mitmenschen und vor allem der überraschende Tod des Protagonisten anstelle des erwarteten Happy Ends. Weil zuvor ausreichend Vertrautes da ist und eine Haltung der Neugier besteht, kommt es nicht zu einer Abwendung, sondern nach der ersten Abwehr zu einer intensivierten Zuwendung. Durch weiteres Drehen und Wenden kommt es zu einer Aneignung des Fremden in das Eigene und damit zu einer kleinen Umbildung des eigenen Weltbildes.

Als Zwischenstücke eignen sich dazu zum einen das Einholen von Wissen über die Kultur, aus der das Märchen stammt, zum anderen das Infragestellen eigener Vorstellungen. Dadurch kommt es unverhofft zu einer weiteren Drehung, mit der in dem Fremden dann wiederum auch Bekanntes entdeckt wird. Dazu werden eigene Erfahrungen aktiviert, berufliche und private, die erst einmal nicht im Zentrum stehen, aber durchaus auch zum eigenen Erfahrungskreis zählen und diesen neu ausleuchten.

6.2 Musik

Die Musik erweist sich dabei durchaus als ein verbindendes Element. Bemerkenswert ist hierbei, dass dies über den Umweg der Harfe als Symbol geschieht. Die Verbindung entsteht über die imaginierte Musik, dem mit ihr verbunden Halo, welches sich neben der Erzählung selbst aus anderen Märchen speist, aus kulturell vermittelten oder auch archetypischen Bildern. Das scheint in diesem Fall durch das Märchen besser zu gelingen als durch das direkte Anhören der Musik, die meist eher zu unvertraut ist, um spontan mitschwingen zu können. [9]

6.3 Polarität

Man kann Märchen als Geschichten lesen, in denen sich die Geschehnisse im zeitlichen Nach-und-Nach entwickeln. Man kann sie aber – daneben – auch in einer Art Tableau zu einem Bild zusammenstellen und dann einmal auf die grundsätzlichen Verhältnisse achten, die das Märchen auffächert, so wie das in der Morphologischen Psychologie üblich ist. Das kann gelingen, wenn man quer zum zeitlichen Verlauf, auf die im Märchen berührten Gegensätze und Polaritäten, Paradoxien und Wendepunkte achtet. Auf einer solchen strukturellen Ebene kommt man bei diesem Märchen zu der Polarität eines Feststeckenden gegenüber einem frei Schwingenden.

Im Märchen selbst kann man das Feststecken in mehreren Variationen auffinden, von dem Feststecken in der Armut bis hin zum verkeilten Anker, durch den das Schiff sich nicht mehr von der Stelle bewegen lässt. In den Einfällen ist es expliziert in Begriffen wie: kein Ausweg, keine Rückkehr, im Schlamm stecken, zurückgesteckt, stecken bleiben, verurteilt, Ohnmacht, Notlage, schwere Last, Ausweglosigkeit.

Das frei Schwingende beginnt mit dem sich Losreißen vom Dorf und gewinnt seine Form über den zentralen Wendepunkt des Mitgefühls zu den frei schwingenden Saiten der Harfe, deren Klingen durch die Luft über die Wasser getragen wird. In den Einfällen finden wir es expliziert in Begriffen wie: verzaubert, unfester Boden, ätherisches Öl, Trauer, Mitgefühl, Klänge, die mit dem Wind über die Insel getragen werden, sinnlich und harmonisch, berührt sein, Energie, Pilger, eine andere Welt, wegdämmern, lauschen, Ozean, schwebend, himmlische Klänge, Menschenherzen erweichen, die Götter erreichen, Jenseits, Transzendenz, überirdisch.

6.4 Paradoxie

Paradox ist dabei, dass die sterblichen Überreste als das, was vom irdischen Dasein bleibt, eingesammelt und zu einer neuen Gestalt verbunden werden müssen, damit das frei Schwingende bleiben kann. Und ist es nicht dadurch, dass es im Delta des Irrawaddy bleibt, zugleich wieder gebunden? Aber es steckt nicht mehr fest, es klingt über die Wasser, für jeden hörbar, der bereit ist zu lauschen. Das ist der Gewinn! Das Happy End.

Der zentrale Wendepunkt für dieses Happy-End ist das Mitgefühl. So gesehen kann man auch auf die Idee kommen, dass es darin doch ein zutiefst buddhistisches Märchen ist. Und auch, dass es dem Märchen gelingt, dieses Empfinden als die zentrale Botschaft des Buddhismus in den westlichen Hörer:innen auszulösen.

 


[1] https://genius.com/Pe-werner-australien-lyrics; Abgerufen: 5.12.2024.

[2] In den Grimm’schen Märchen her kennen wir beides: die unverschuldete und die selbst verschuldete Not.

[3] Alle konkreten, interpretierenden Formulierungen in diesem Abschnitt 3 stammen aus den schriftlichen und mündlichen Beschreibungen der Hörer:innen. Um einen flüssig lesbaren Text zu schaffen, werden sie nicht gesondert mit Zitatzeichen gekennzeichnet, noch in den Konjunktiv gesetzt und häufiger im erzählerischen Wir formuliert, um die Lesenden in ihrem Erleben einzuschließen.

[4] Das ist in den meisten europäischen Musikmärchen auch so, sie singen ein Lied davon, dass die Musik allein meist nicht zur Lösung der Ausgangssituation reicht und Musiker:innen materiell meist arm sind (vgl. Tüpker 2011, S. 175–177).

[5] Die Burman:innen sind mit etwa 32 Millionen Menschen, knapp 70 % der Bevölkerung, die größte Ethnie im heutigen Myanmar. Sie praktizieren die ursprüngliche Form des Theravada-Buddhismus, der viele animistische Elementen enthält.

[6] The Spirit Worship in Myanmar, 2010: https://web.archive.org/web/20110724123430/http://www.waiyanphone.net/2010/04/37-nats-of-myanmar.html. Abgerufen am 6.12.2024

[7] https://www.youtube.com/watch?v=45Y8ENuUwtg. Abgerufen am 6.12.2024

[8] Burmese Folk and Traditional music. Recorded in Burma. Folkways Records / Ethnic Folkways Library (FE 4436), 1956 Online verfügbar unter https://archive.org/details/lp_burmese-folk-and-traditional-music_various; Abgerufen am 8.12.2024.

[9] Aktuelles Musikbeispiel bei Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=EZyWgda2Vws. Abgerufen am 8.12.2024

 


Literatur

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Botschaft Myanmar, Die geisterhaften Geschichten der Nats – die Schutzheiligen Myanmars. https://www.botschaft-myanmar.de/mount-popa-die-mystische-heimat-der-myanmar-geister.html; Abgerufen am 8.12.2024.

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Bildnachweise

Abb. 1: CC BY 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0>, via Wikimedia Commons

Abb. 2: Hintha, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, viaWikimedia Commons

Abb. 3: Gerd Eichmann, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Abb. 4: Garonzi Stefania, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Abb. 5: Kathrinatina23, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Abb. 6: Andreas Praefcke, CC BY 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/3.0>, via Wikimedia Commons

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