Eine morphologische Bildwirkungsanalyse des Gemäldes, ‚Stillleben mit Masken‘ (1896) von James Ensor, bildet das Herzstück des Artikels. Die Analyse hebt das Gefühl des Unheimlichen als die Grundqualität des Kunstwerkes heraus. Diese Qualität im Bilderleben wird mit der Einordnung des Unheimlichen nach Sigmund Freud (1919) in einen Austausch gebracht. Ergänzend wird danach gefragt, worin das Unheimliche aus morphologischer Sicht besteht – eine Frage, zu der der Prozess des Bilderlebens Anlass gibt.
Der Vergleich zwischen der psychoanalytischen Deutung und der morphologischen Sicht kann abschließend den Blick auf das Unheimliche im seelischen Geschehen schärfen. Auf einer Metaebene zeigt diese Erörterung die Nähe zwischen den beiden verwandten Wissenschaften an; ebenso wie ihre produktiven Differenzen. Das Unheimliche beginnt in diesem Spannungsfeld zu schillern und vertraut, sprich ‚heimelig‘ zu werden.
A morphological image-effect analysis of the painting, ‘Still Life with Masks’ (1896) by James Ensor, forms the core of the article. The analysis emphasizes the feeling of ‘das Unheimliche’ (the uncanny’) as the basic quality of the work of art. This quality in the pictorial experience is brought into an exchange with the classification of ‘das Unheimliche’ according to Sigmund Freud (1919). In addition, the question is asked as to what ‘das Unheimliche’ consists of from a morphological point of view – a question to which the process of the pictorial experience gives rise.
Finally, the comparison between the psychoanalytical interpretation and the morphological view can sharpen the view of ‘das Unheimliche’ in psychological events. On a meta-level, this discussion indicates the proximity between the two related sciences, as well as their productive differences. In this field of tension, ‘das Unheimliche’ begins to shimmer and become familiar, i.e. ‚homely‘.
Johanna Hodde (Dr. phil.) studierte Psychologie an der Universität zu Köln, Freie Kunst an der Kunstakademie Münster und Visuelle Kommunikation an der Hochschule für Bildende Kunst Hamburg. Seit 2015 lehrt sie an der BSP Business & Law School am Campus Hamburg Kultur- und Medienpsychologie und ist als Kunstcoach im Feld der ästhetischen Bildung und psychologischen Beratung tätig. Sie blickt auf eine 10-jährige Tätigkeit als Supervisorin in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie zurück. Ihre Forschung bewegt sich im Spannungsfeld von Kunst und Psychologie und umfasst Diagnosen der Gegenwartskultur, tiefenpsychologische Medienwirkungsforschung – mit einem Schwerpunkt auf morphologischen Wirkungsanalysen von Kunstwerken. Hierzu zählen eine Analyse des Schwarzen Quadrates von Malewitsch und eine kunstwissenschaftlich-morphologische Untersuchung der Narziss-Darstellung von Caravaggio.
James Ensor, ein belgischer Maler des späten 19. Jahrhunderts, gilt in der Kunstwelt als „Maler der Masken“. Er malte zeitlebens die Menschen seiner Umgebung und sich selbst. Bekannt ist er für die teils karikaturistisch wirkenden Porträts einer maskierten Gesellschaft, in denen auch religiöse Symbole eine Rolle spielen. Eines seiner Bilder, „Stillleben mit Masken“ von 1896 hängt in der Kunsthalle Hamburg. Eine Gruppe von Studentinnen im Masterstudiengang der BSP hat sich dieses Gemälde vorgenommen und seine Bildwirkung mittels neun Tiefeninterviews exploriert und im Vier-Versionen-Gang der Morphologie ausgewertet.
Gegenstand dieses Artikels ist der Eindruck des Unheimlichen, der das Bilderleben als seine Grundqualität durchzieht. Was wir von James Ensor über das Unheimliche erfahren, wird die Analyse zeigen. Nur soviel sei vorweggenommen: Das Unheimliche verweist auf ein allgemeines Konstruktionsproblem des Seelischen, das das Gemälde anschaulich und sinnlich erfahrbar macht.[1] Die Kurzzusammenfassung der Bildwirkung wird gerahmt durch einen Exkurs über das Unheimliche bei Sigmund Freud, die dann mit der Bildwirkung in einen Austausch gebracht wird. Den Schluss bildet eine abschließende Reflexion des Unheimlichen in der Morphologie, die wiederum ihren Ausgangspunkt bei der Bildwirkungsanalyse nimmt.
Der berühmte Aufsatz von Sigmund Freud Das Unheimliche aus dem Jahre 1919 beginnt mit einer Begriffsbestimmung des Heimlichen. Bereits das Heimliche, so offenbart es die Begriffsetymologie, weist eine Bandbreite der Bedeutung aus: Heimlich meint zum einen das Heimelige, Nicht-Fremde, das Vertraute, Familiäre und das zum Haus-Gehörige. Zum anderen bedeutet es das Versteckte, Verborgen-Gehaltene, das Geheime. Kurz: Zum Heimlichen gehört all jenes, an dem Fremde keinen Anteil haben sollen. Wie bereits in einem früheren Aufsatz, Über den Gegensatz der Urworte aus dem Jahre 1910, zeigt Freud nun am Erlebenseindruck des Unheimlichen, dass in ihm eine besondere Form der Verkehrung am Werke ist, in der zugleich ein Gegensatz, das Heimliche wie das Unheimliche, aufgehoben ist. Auf eine kurze Formel gebracht: Das Unheimliche ist ein unkenntlich gemachtes Heimliches.
Freud geht in phänomenologischer Manier der Frage nach, in welchen Momenten wir von dem Gefühl des Unheimlichen ‚heimgesucht‘ werden. Zu der Sammlung zählen der Eindruck der Beseelung vermeintlich lebloser Gegenstände, wie ihn beispielsweise Wachsfiguren oder auch Puppen hervorrufen können. Zugleich verdeutlicht Freud am Beispiel der Erzählung „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann, dass das Gefühl des Unheimlichen nicht auf „intellektuelle Unsicherheiten“ wie der Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion zu reduzieren sei. Vielmehr basiere das Gefühl des Unheimlichen auf einer Erinnerung oder einer Wiederholung von etwas Vertrautem (S. 259). Hierzu zählen nach Freud auch alle Phänomene der Wiederkehr als einer verblüffenden Ähnlichkeit, die sich als das Doppelgänger-Phänomen umschreiben lässt und mit der Erfahrung der Verdopplung, Vertauschung, Ich-Teilung oder Ersetzung einhergeht und eine erstaunliche Nähe zu anderen vermeintlich völlig fremden Personen spürbar macht. Ein Alltagsbeispiel einer solchen unheimlichen Doppelgänger-Erfahrung wäre beispielsweise die Erfahrung der Gedankenübertragung (Telepathie). Zur unheimlichen Wiederholungserfahrung zählen außerdem unbeabsichtigte Koinzidenzen (S. 260-262) – etwa, wenn einer Person an einem Tag wiederholt etwas auffällt oder zustößt, das einen geheimen Zusammenhang zu haben scheint. Hierzu zählen auch Vorhersagen, auf die die Person, die sie machte, tatsächlich keinen Einfluss hat oder zu haben glaubt. Vorhersagen, die nur so dahingesagt sind, welche dann wie von Geisterhand zutreffen und eine Form der Beteiligung auch an großen Ereignissen spürbar machen kann. Der Charakter der unheimlichen Erfahrung ist also der eines geheimen Zusammenhangs, welcher sich indes nicht ganz ergründen oder begründen lässt.
Die (unbeabsichtigte) Wiederkehr bezieht Freud nun darauf, dass das Einzelindividuum in seiner Genese und Entwicklung mit Resten – auch mit phylogenetischen Resten – zu kämpfen hat. Das unheimliche Erleben eines Zusammenhangs und der Beteiligung lässt Freud an den Animismus primitiver Völker denken. Hierzu zählen die Vorstellung der ‚Allmacht der Gedanken‘, die ihm bei seinem Patienten, dem Rattenmann, begegnete oder auch die ‚Angst vor dem bösen Blick‘, der Schädliches bewirken kann. In einer neurotischen Entwicklung des Einzelindividuums zeige dieser Angstaffekt eine Verdrängung an. Die Erfahrung des Unheimlichen sei dadurch gekennzeichnet, dass der Person etwas fremdgemachtes, aber hochvertrautes begegne: […] „denn dies Unheimliche ist wirklich nicht Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.“ (S. 264)
Vor diesem Hintergrund verwundert es nun nicht mehr, dass sich Horrorfilme, die das Gefühl des Unheimlichen beim Zuschauer erzeugen wollen, den Ort des Geschehens an ein Haus, ein Heim knüpfen – also an den vertrautesten Ort der Protagonisten. Die Angst vor Geistern und Gespenstern (in einem solchen Haus, in dem es spukt) hängt mit der Verdrängung dessen zusammen, das uns stets begleitet, umfängt, also das uns sehr heimlich ist: die eigene Sterblichkeit. ‚Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen‘, so heißt es. Zugleich lebt in Geistern und Gespenstern, also in der Wiederkehr der Toten, der Wunsch nach Unsterblichkeit.
Die Herkunftserklärung des Unheimlichen nach Freud lässt auch an ein Märchen denken, bei dem ums Gruseln geht. Es ist ein Märchen aus der Grimm‘schen Sammlung mit dem Titel „Von einem der auszog, das Gruseln zu lernen“. In diesem Märchen macht sich der Protagonist gegen alle Gefühlsregungen kalt und stellt sich freiwillig steigernden gruseligen Erfahrungen mit Quälerei, Folter und Tod. Er bleibt dabei stets unberührt/unbeteiligt und zieht weiter. Schließlich, ganz unerwartet, gruselt er sich plötzlich. Dies geschieht Zuhause, während er mit seiner Frau im Bett liegt. Er wird von ihr dadurch überrascht, dass sie ihn mit einem Trog kalter Fische überschüttet (vermutlich im Märchen ein Hinweis auf eine sexuelle Begegnung). Diese recht unverständliche Wendung am Ende des Märchens wird mit Blick auf die Qualität des Unheimlichen als ein besonders vertrautes und nahes Erleben begreifbar. Nicht das Fremde gruselt, sondern das, was uns immer umgibt und besonders nah ist (wie die Ehefrau im Bett).
Diese Einstimmung in die Hintergründe des Unheimlichen kann den Blick auf ein Gemälde von James Ensor schärfen, das den Titel trägt „Stillleben mit Masken“. Wie auch im Gesamtwerk von Ensor sehen wir Bilder einer maskierten Gesellschaft, die in ihrer Darstellung Vorgänge von Maskierungen als Aufdeckungen sichtbar machen bzw. ‚hinter‘ oder ‚in‘ die Maske schauen lassen. In der morphologischen Untersuchung des Gemäldes wurde jedoch nicht interpretativ vorgegangen, sondern möglichst erkenntnisoffen nach seiner Bildwirkung im Rahmen einer ausgedehnten Betrachtung des Bildes gefragt. Die Auswertung erfolgte auf der Grundlage von neun zweistündigen Tiefeninterviews mit heterogener Stichprobe. Die Interviews wurden vor dem Original in der Kunsthalle Hamburg durchgeführt.
Als eine die Tiefeninterviews übergreifende Erlebensqualität wurde der Eindruck des Unheimlichen als Grundqualität festgehalten. Dem Betrachter begegnet ein lustig-verwirrendes Durcheinander, das in seinem bunten Farbenspiel an Zirkus oder Karneval denken lässt. Die Masken schweben wie bunte Luftballons in der Luft. Plötzlich fühlt sich der Betrachter von etwas angesprungen, an- oder auch ausgelacht. Wie „Jack in the Box“ saust eine Figur aus dem Kasten heraus. Überall kommt noch eine weitere Maske hervor, die auf den ersten Blick noch gar nicht sichtbar war. In diesem Wirrwarr Ordnung herzustellen, fällt schwer. Es ist nicht nur zuviel auf einmal, sondern viele Details sind nicht dingfest zu machen – so als seien es bloße Farbflächen. Die fehlende Ordnung und Undefinierbarkeit wirken störend. Da geht eins ins andere über – beispielsweise die Farben auf der Palette. Die Gesichtsausdrücke der Figuren sind in sich widersprüchlich: lachend und weinend, lieb und böse, fröhlich und leidend zugleich. Sie wirken skurril und fremdartig und zugleich zutiefst menschlich. Verblüfft müssen auch die Probanden immer wieder über das Befremden, aber auch ihre Beschreibungen, die das Zwiespältige aufnehmen, lachen: „Halber Hahn“, „Maske mit Erdbeertorte“ oder „Wolke“ auf dem Kopf. Da ist eine affenartige „Hexe“. Jede Maske erhält einen Namen, der ihre Skurrilität mitaufnimmt.
Bald stellt sich die Frage nach der Beziehung der Figuren zueinander. Sie scheinen eine Art „Gruselkabinett“ zu bilden. Auf der Suche nach einem Zusammenhang begegnen dem Betrachter gesellschaftliche Ordnungen, die wie in einem „Horrorfilm“ Bitterböses zum Vorschein bringen. Da schaut einer hämisch auf den anderen herab, einer versucht hinter seinem erstarrten Lachen seine Trauer zu verbergen, aber seine Augen sind gerötet. Einem anderen, ebenfalls Traurigen, läuft die Nase – so als würde er weinen? Ein anderer tritt als Bewertungsinstanz auf, wirkt aber selbst wie gefangen. Die affenartige oder hexenartige Maske schaut in zwei gegensätzliche Richtungen und führt Böses im Schilde. Der sehr blassen, unscheinbaren Maske ganz links rutscht vor Scham die Maske beinahe herunter. Eine kleine schreiende Maske wirkt wie ein Tunnel, in den man hinabstürzen kann. Altes, schrumpeliges und sehr Böses stehen an der Seite von noch ganz Unentwickeltem, aber Organischem wie einem „Fleischklops“, auch „Halben Hahn“ genannt.
Die Geschichten handeln davon, wie sich Menschen gegenseitig etwas Böses angetan haben, für ihre Taten bestraft, verdammt und eingeschlossen werden. Ihre Protagonisten haben mit Schuld- und Schamgefühlen und mit den unbeabsichtigten schweren Folgen des eigenen Tuns zu kämpfen. Die Geschichten erzählen von der Einmischung, die die Gesellschaft auf die eigene Entwicklung nimmt. In dieser Wendung handelt es sich um Masken, die für Personen stehen oder innere Stimmen anderer, die Einfluss nehmen wollen und den Maler von seinem Werk abbringen wollen. In diesen Geschichten mit Opfern und Tätern geht es u. a. um die Folgen, die Offenheit mit sich bringen kann. Sie macht verletzlich, bedeutet aber auch Stärke, Menschlichkeit und Authentizität. Auf der anderen Seite werden Schutzverstecke und schützende Personen benannt: Darunter die gelben Haare, in die sich eine sehr neugierige Maske mit langer Nase immer wieder wie in einen Wattebausch zurückziehen kann. Sie bewegt sich nur hervor, wenn es ihr im gelben Haarpuschel zu langweilig wird.
Auch die Maskierung als solche kann schützend wirken, aber auch eine besondere Form von Feindlichkeit und/oder Schwäche anzeigen. Familiäre Verhältnisse treten in ihrer Ambivalenz zum Vorschein. Die Skulptur auf dem Tisch wird u. a. als Mutterfigur gesehen, die ihre beiden Kinder schützt, aber nur eines von beiden zu retten vermag, da sie die falschen Prioritäten setzte und nur auf die Masken um sich herum konzentriert war. Die besonders menschlich wirkenden Figuren in der Box sind Mutter oder Großmutter und Sohn, die Opfer von den Masken wurden. Ihnen wurden die Körper abgerissen, sodass sie seither körperlos in der Vase stehen – wie Blumen. Auch hier beschützt die Mutter den Sohn. Eine besondere Stärke liegt dabei in ihrer Offenheit. Die Mutterfigur ist zwar ihres Körpers beraubt, sich aber treu (unmaskiert) geblieben. Zu den familiär-kulturellen Schutzräumen zählt auch die Identifizierung bekannter Erinnerungsstücke auf dem Tisch, auf die sich der Betrachter berufen kann, die ihn nostalgisch werden lassen. In dem Buch sind wichtige Gedanken, der Sinn des Ganzen festgehalten. Der Betrachter kann darauf vertrauen, dass dort alle Fragen, die sich stellen, beantwortet und für immer festgehalten sind. Die Probanden fühlen sich an Reisen in ferne Länder erinnert, aber auch ganz grundsätzlich an den Reichtum von Kultur, der sich in den Objekten vergegenständlicht. Diese haltgebende Verortung und Geschichtlichkeit, die den Dingen anhaftet, kontrastiert hier jeweils den Eindruck, dass die Figuren voneinander getrennt und isoliert sind.
In immer neuen Runden werden Masken, ebenso wie Gegenstände zu Protagonisten einer Geschichte. Es werden Zusammenhänge geknüpft mit dem Ziel, möglichst alle Details des Bildes in die jeweilige Geschichte mitaufzunehmen und somit zu bestimmen. Ordnungen lassen sich erkennen: die Ruhe auf dem Tisch (als Stillleben im engeren Sinne) und die Bewegtheit oben (als Maskentanz); Schutzräume werden links verortet und offene Austragungen rechts. Aber wie auch schon bei der Bestimmung der Masken sind die haltgebenden Kulturgegenstände oder Erinnerungsstücke auf dem Tisch stark in Mitleidenschaft gezogen – sie sind durch ihr Alter und auch mutwillige Zerstörung gezeichnet.
Der Versuch dem Bild eine konsistente Geschichte abzuringen, scheitert jeweils daran, dass nicht alles in die Geschichte passt – was zu einer neuen Runde einlädt: wie bei einer weiteren Fahrt durch die „Geisterbahn“. Die Nebenfiguration des Gruselkabinetts ist durch eine endlose Wiederholung geprägt. Und zum anderen erhalten die Betrachter den unheimlichen Eindruck, dass sich die Gesichtsausdrücke, aber auch die Gegenstände auf dem Bild, sowie die undefinierbaren Farbflächen zu verändern beginnen. In diesem endlosen Wiederholen und Verändern macht der Betrachter eine morphologische Erfahrung im engeren Sinne. Während die Geschichte z. B. eine weitere Maske als Protagonisten miteinbezieht, hat sich die Bestimmung einer anderen Figur oder eines Gegenstandes in der Geschichte unterdessen bereits wieder verändert. In dieser Morphologie werden Kultivierungen wie Entkultivierungen vollzogen. Aus einem undefinierbaren „Fleischklops“, auch „Halber Hahn“ oder „Muschel“ genannt, wird ein Gesicht; das Gesicht wird zum Hauptprotagonisten einer Geschichte, der sich nach dieser Menschwerdung dann aus der einengenden Gesellschaft, sprich aus dem Bild heraus bewegen kann. Und auch das Stillleben, der Tisch und seine auf ihm platzierten Gegenstände sind nur vermeintlich still und feststehend. Neben der starken Unordnung auf dem Tisch, dem Alterungsprozess und den fortschreitenden Folgen der Abnutzung der Gegenstände sind Details undefinierbar und mysteriös. Ein künstlicher „blauer Bauschaum“ unterhalb der Teekanne, der anfangs – weil völlig unpassend zum Rest – störte, ändert seine Konsistenz und beginnt wie Wasser zu fließen. Die Farben mischen sich. Das Bild gibt den Eindruck, als ob es sich im selben Moment selbst malen würde, als ob es sich noch im Prozess befindet.
Zerstörungen treten in den Blick. Der Skulptur auf dem Tisch fehlt ein Arm. Diesen hat sie im Kampf mit den Masken verloren, als sie ihre Kinder schützen wollte. In dieser Wendung wird die Skulptur, erst zur Person, dann schließlich zu einer „Frau“. Während die Geschichten der Probanden von der Fremdartigkeit der gruseligen Gestalten und ihren Verhältnissen handeln, rücken sie nun stetig näher. Die klare Trennung in Opfer und Täter ist nicht länger haltbar – denn das jeweilige Opfer hatte eine Beteiligung am Geschehen oder dieses sogar initiiert. Unter dem Stichwort ‚Die Geister, die ich rief‘ sind die Täter und Bösartigen nun keine fremdartigen Gestalten mehr. Die Skulptur, zunächst als Opfer der Übergriffe gesehen, ist es nun, die das Bild malte, das sich dann offenbar verselbstständigte. Den Probanden fällt es einerseits nicht leicht sich zu lösen, denn ein Ende in dieser permanenten Transformation ist nicht in Sicht. Relativ abrupt muss dem jeweils ein (künstliches) Ende gesetzt werden. Es ist gut von dem Bild wegzutreten – sprich aus seiner (!) Sichtweite zu treten.
Inwiefern lässt sich in der Bildwirkung des Gemäldes „Stillleben mit Masken“ die komplexe Bestimmung des Unheimlichen durch Sigmund Freud wiederfinden? Da wären zum einen die Beseelung unbelebter Gegenstände, die sich in der Phänomen-Sammlung gängiger Erfahrungen des Unheimlichen durch Freud finden. Die Beseelung offenbart sich als ein durchgängiger Zug im Bilderleben in der Erfahrung des Menschlich-Werdens sowohl der Masken, als auch der Gegenstände auf dem Tisch – so die Puppen in der Box, die zu Kindern werden und die Skulptur, die sich in eine Frau/Mutter wandelt. Die unbeabsichtigte Koinzidenz als unheimliche Erfahrung, die Freud nennt, die auf einen geheimen Plan/Zusammenhang im Hintergrund verweist, scheint sich auf den ersten Blick nicht im Bilderleben wiederzufinden. Vielmehr ringen die Probanden um eine durchgängige Geschichte, in der alles seinen geordneten Platz erhält und stellen diesen Zusammenhang erst mühsam her. Allerdings findet sich die Erfahrung, plötzlich von einem bislang übersehenen Detail im Bild überrascht zu werden, der dem Gesamten einen jeweils neuen Sinn verleiht. Die Unsicherheit bzgl. der Einordnung, ob es sich um einen Traum und oder um Wirklichkeit handelt, als eine Charakteristik des Unheimlichen, tritt dagegen sehr deutlich zutage: ob an der Künstlichkeit bestimmter Gegenstände, der Gekünsteltheit des Ausdrucks bestimmter Masken oder in der Frage, ob es sich bei den Masken um ein Gedankengespinst des Malers handelt. Auch die Thematik des Lebens nach dem Tod in der Bestimmung der Masken als Geister, die keine Ruhe finden und bestraft wurden, fügt sich in das Vokabular des Unheimlichen nach Freud. Danach sind es die berühmten Reste, die im Leben (oder im Alltag) nicht unterkommen, aber zum Ausdruck kommen wollen, um daraufhin in Form einer Entstellung ein Eigenleben zu führen. Dies leitet über zu der Bestimmung des Unheimlichen nach Freud, welche alle diese Einzelphänomene zu fassen vermag: Das Unheimliche sei etwas Vertrautes (‚Heimisches‘), das verdrängt und unkenntlich gemacht wurde und in der unheimlichen Erfahrung zunächst fremdartig wirkt. Die ersten, spontanen Erlebenseindrücke der Bildbetrachter sind durch diese Charakteristik des Skurrilen und Fremdartigen gekennzeichnet und zugleich durch die Erfahrung, sich nicht entziehen zu können, sondern geradezu von den Masken, die von überall her auftauchen, „angesprungen“ oder auch „ausgelacht“ zu werden. Mit anderen Worten: Es handelt sich hierbei um das Überrascht-Werden durch Eigenes, das aber als solches (noch) nicht erkannt wird. Im Laufe der Bildbetrachtung verlieren zunächst die Masken, aber auch Gegenstände ihre Fremdartigkeit. Die Betrachter beginnen die ambivalenten Ausdrücke der Masken zu verstehen, Mitleid zu empfinden und ihnen eine Geschichtlichkeit zu geben. Das Einbinden in Geschichten hat dabei zwei Richtungen: Es geht darum, was davor war und wie es weitergeht. Die Grundpolarität von eigen und fremd dreht sich immer stärker in Richtung des Bildes als ein selbstgeschaffenes, eigenes Werk. In der Aussage als Benennung, des Bildes, ‚Die Geister, die ich rief‘ oder in der Wendung, es handle sich um ein „selbstgemaltes Bild“, eine Innenwelt des Malers wird dieser Eigenanteil immer spürbarer. Schließlich bemerken die Probanden, dass sie über sich selbst sprechen. Inhaltlich geht es dabei etwa um die Frage des gesellschaftlichen/familiären Einflusses auf das eigene Leben oder um die Fragen, wie sehr man hier selbst Einfluss zu nehmen vermag und ob die Folgen der eigenen Taten kontrollierbar sind, wo man im Leben Fehler gemacht hat, die man nun bereut. Eine starke Beteiligung und zugleich die Erfahrung mit Gegebenheiten des Lebens zu kämpfen, zentrieren alle Geschichten der Probanden. Dass es keine idealen Verläufe gibt, veranschaulichen Masken, wie Gegenstände, die alle auf ihre besondere Weise in Mitleidenschaft gezogen sind. Der Schmutz, die Alterungsspuren der Kulturgegenstände, die Unordnung und Vermischung von Farben, die Reste nach einem Kampf, den es gegeben haben muss, lassen dies die Betrachter deutlich spüren. Hierzu gehört auch das jeweils spezifische Leiden der Masken, das die Masken immer weniger verdecken, als zum Ausdruck bringen. Von hier aus setzt eine Auseinandersetzung mit den spürbaren Eigenanteilen ein: z. B. eine (schmerzliche) Konfrontation mit dem eigenen übertriebenen Ordnungswahn und – subtiler – mit dem Versuch, Menschen zu manipulieren.
Zusammengefasst: Das psychoanalytische Verständnis des Unheimlichen als ein Abkömmling der Verdrängung, als ein besonders schwer im Bewusstsein zu tragender Eigenanteil, der – entfremdet – ein Eigenleben führt und immer mal wieder auftaucht, den (Selbst-)Betrachter wie aus dem Nichts anspringt, findet sich als ein durchgängiger Zug im Bilderleben.
Da es sich nicht um eine psychoanalytische Bildinterpretation, sondern um eine morphologische Bildwirkungsanalyse handelt, stellt sich die Frage: Worin liegen die Unterschiede dieser durchaus miteinander verwandten Gegenstandsbildungen in Bezug auf seelisches Geschehen? Und vor allem: Zu welchem Verständnis des Unheimlichen gelangen wir morphologisch auf der Grundlage der Bildwirkungsanalyse ‚Stillleben mit Masken‘? Um mit dem zweiten anzufangen: Eine wichtige Qualität, die die unheimliche Bildwirkung bestimmt, ist die Metamorphose als solche. Das Unheimliche ist nicht nur im Verhältnis ‚eigen und fremd‘ oder ‚künstlich versus echt‘ anzusiedeln, sondern in seinen jeweiligen Übergängen und Mischformen als Erfahrung eines stetigen Wandels. Hierzu zählt die Entdeckung des Eigenen im Fremden und des Fremden/Andersartigen im Eigenen, ebenso wie die Echtheit des Künstlichen des Maskierten als einer gesellschaftlichen Überlagerung oder Kultivierungsform.
Der Versuch, die Menschen-Masken, wie auch die Dinge und Flächen zu ‚verorten‘ wird im Bilderleben selbst zwiespältig. So treten zunächst Festigkeiten gegenüber Luftigkeiten in einen Gegensatz. Diese Einteilung erweist sich allerdings als nicht haltbar, denn schon beginnt es auch an dem ‚Ort der Festigkeiten‘, dem Tisch, auf dem alles steht und seinen festen Platz hat, zu fließen (blaues Wasser). Die Masken als Imaginationen z. B. des Malers, als Geister, die keine Ruhe finden, sind zwar „Lufterscheinungen“, aber festgesetzt in einem Raum, aus dem sie nicht hinaus können. So sind die in der Luft schwebenden Masken durchaus nicht frei. Sie haben außerdem das Problem, dass sie keinen Körper haben und jederzeit zerplatzen können. Ihnen fehlt die Gegenständlichkeit, was sie ebenso unfrei macht, wie die alt-‚bekannten‘ Dinge auf dem Tisch. Auf der einen Seite werden Ruhe, Stille und kulturell-familiäre Schutzräume entdeckt. Aber sie erweisen sich als anfällig für Verfall und Zerstörung. Sie schützen nicht nur, sondern können ihrerseits beherrschen, Entwicklung stören, Individuelles kleinhalten. Diese Kehrseite des ‚Still-Lebens‘ macht sich nicht nur an den stehenden Gegenständen fest, sondern auch an den Masken. Sie stehen unter anderem für die einschränkenden Haltungen von Gesellschaft, die ein freies Ausleben hindert, maskiert oder ganz verhindert. Das Bild des Eingesperrt-Seins in einem geschlossenen Raum/Gefängnis als Strafe für die verbotene Taten bringt dies am prägnantesten auf den Punkt. In der Idee, die Masken wären in einem Raum eingesperrt und wollten hinaus, zeigt sich diese Kehrseite von festlegenden Ordnungen, die durch das gesamte Bilderleben rotiert. Die Geschichten handeln entsprechend von Fluchtversuchen und Befreiungen. Dieses Herauskommen aus zunächst schützenden, dann aber einschnürenden Festlegungen erfordert jeweils eine Transformation. Dass sich solche Transformationen im Bilderleben wie von selbst herstellen, verstärkt das Gefühl des Unheimlichen. Dabei vollzieht sich diese Befreiung in zwei Richtungen: Mal erhält ein undifferenzierter Gegenstand ein Gesicht, das ihm dann zur Flucht verhilft. Mal ist es ein verhärteter Gegenstand, der seine Gestalt und Funktion verliert und den Aggregatzustand von fest zu flüssig wechselt. Das morphologische Konstruktionsproblem liegt im Gegensatz von Ruhe und Beweglichkeit und führt in der einen Richtung in das Extrem von Stillstand, Starre und Hermetik und in der anderen in das der Auflösung, Haltlosigkeit und Verletzlichkeit. Schutz und Freiheit bilden auf den jeweiligen Polen die Wunschziele, die jedoch aufgrund der starken Transformations- und Verkehrungslogik wieder in die Kehrseiten kippen können. Als Frage formuliert geht es hier darum, wie sich eine Gestalt bilden und erhalten kann, ohne dabei die Spielräume von Entwicklung zu verlieren?
Inwiefern ergänzt diese morphologische Beschreibung der Bildwirkung die Kenntnis über das Unheimliche? Während die psychoanalytische Deutung das Empfinden des Unheimlichen aus der Dynamik einer Verdrängung heraus erklärt, ist es in der morphologischen Erklärung die Wandlung, die an der Gestalt geleugnet wird – und dies, obwohl der Wandel überall sichtbar ist. Das Bemerken der Wandlung ist insofern unheimlich, da es sowohl ungewöhnliche Zusammenhänge stiftet und hervorbringt, als auch diese Zusammenhänge wieder aufzulösen vermag. Das Bild ‚Stillleben mit Masken‘ führt uns dies in Form einer permanent sich vollziehenden Kultivierung und Entkultivierung vor.
Bei genauerem Hinsehen stehen Wandlung und Verdrängung in einem geheimen Zusammenhang zueinander. Denn der Verdrängung liegen nach Freud zwei Grundprinzipien zugrunde: das der Erhaltung aller seelischen Tendenzen (Freud, 1930) und das der Verschiebung dieser Tendenzen in alle möglichen Formen, wie es Freud auch in seinem Text „Triebe und Triebschicksale“ (Freud, 1915) an der jeweils unterschiedlichen Entwicklung des Einzelindividuums ausdifferenziert. Die Wandlungsfähigkeit der Triebenergie liegt in psychoanalytischem Verständnis dem Symptom als Triebabkömmling des Verdrängten zugrunde. Verdrängung ist damit eine spezifische Verwandlungssorte.
Während jede Sorte des Wandels fest in das Triebkonzept von Freud eingebunden ist – Verdrängung also als Ergebnis eines unbewussten Konflikts, in dem verschiedene Tendenzen im Seelischen miteinander ringen – findet sich in der Morphologie eine vom Triebkonzept unabhängige Erklärung dafür, was seelisches Geschehen motiviert. In der Morphologie liegt das Augenmerk auf den allgemeinen Herausforderungen von Gestaltbildungen, die eine entschiedene Gestalt stets im Verwandlungstotal mit all ihren Ausschlüssen konfrontiert und als grundsätzlich unhaltbar einzuordnen ist. Dieses Grundparadoxon jeder Gestaltbildung wird – in Fortsetzung der Morphologie Goethes – Versalitätsproblem genannt (Fitzek, 1994).
Wie sich Gestalten bilden, Prägnanzen entwickeln bis ihnen eine Geschichtlichkeit anhaftet und sie ins Leiden, in Ausschluss oder auch nur zum Stehen kommen, lässt das Bildgeschehen als eine Art Genese nachempfinden. Probanden sprechen hier auch von dem Eindruck, dass sie bei einem „Geburtsvorgang“ zuschauen und unabsehbar ist, wie diese Verwandlung voranschreitet und wie viele Masken noch hervorkommen. Dass sich dieses Geschehen zwangsläufig auch in umgekehrter Richtung, der der Gestaltauflösung, dem Freiwerden von Bestimmungen, das manchmal auch Zerstörung bedeutet, bewegen muss, komplettiert diese morphologische Erfahrung.
Das Bild, so die Probanden, erscheint nicht nur als ein selbstgemaltes Bild der Skulptur (Frau) mit dem Pinsel in der Hand, der im Bild abgebildeten und sehr benutzten Malutensilien, sondern es handelt sich um ein sich selbst malenden Bild! Mit anderen Worten: Es wird selbst als eine Morphologie gesehen. Die permanente Transformation des Bildes, die dann jeweils auch zu einer neuen Runde Geschichten-Erzählen einlädt, erinnert ein wenig an die Geschichte von Dorian Grey und seinem Bildnis, das die Zeichen der Zeit trägt und das die stetige Veränderung, der alle organischen Lebewesen unterliegen, übernimmt, während sich der Schönling Dorian Grey seine Schönheit und Jugend erhalten kann. Eine solche – im Falle von Dorian Grey monströse – Morphologie ist umso ungewöhnlicher, da es sich um ein Bild handelt. Sind es nicht Bilder, die den Fluss des Lebens unterbrechen, indem sie einen Momentausschnitt festhalten? Der Eindruck des Unheimlichen rührt im Bilderleben ‚Stillleben mit Masken‘ zum einen von der im Alltag oft ausgeblendeten Seite von Gestalten zusammen: ihrem permanenten Wandel.[2] Zum anderen kommt er daher, dass dies in einem Bild nicht zu erwarten war. Dass es gerade ein Bild ist, das den Betrachter im Betrachtungsprozess beinahe verrückt werden lässt, da er nie ein Ende findet, weil in der Betrachtung immer wieder etwas auftaucht, verschiebt, verändert, vertauscht, verkehrt, ist der Kern dieser unheimlichen Bilderfahrung. Die Transformation bewegt sich hier jeweils zwischen den Aggregatzuständen fest, flüssig, gasförmig, emotional zwischen Freude und Trauer, Wut und Angst, Scham und Schuld und auf Gesellschaft bezogen zwischen Kultivierung und Entkultivierung. Der Wandel ergreift Gegenstände gleichermaßen wie Personen.
Damit lässt die morphologische Erfahrung an dem Bild ‚Stillleben mit Masken‘ den Betrachter tief in die Mechanismen von Gestaltbildung allgemein blicken. Wilhelm Salber hat derartige Erfahrungen im Betrachten von Kunstwerken Konstruktionserfahrung genannt. Er zählt sie zu einer von fünf weiteren Kunstcharakteristika, durch die sich Kunsterfahrung von anderen Erfahrungsgegenständen abhebt. (Salber, 1986). Die Konstruktionserfahrung am Bild ‚Stillleben mit Masken‘ besteht darin, dass sich alles verändern muss, um sich zu erhalten und Veränderung sich nur auf der Grundlage dessen, was schon geworden ist, vollziehen kann.
Dem Betrachter begegnen Menschen und Gegenstände, die Spuren tragen und die (noch) nicht ganz fertig sind, die (in sich) eingeschlossen und hinaus wollen. Daher auch die Geschichten von Schuld und Sühne, vom Eingesperrt-sein als Strafe und Flüchten-Wollen, von Kampf und „Ruhe nach dem Sturm“, von Geborgenheit und Ausgeliefertsein als zwei Seiten einer ambivalenten Erfahrung im Prozess der Kultivierung, die immer auch ein ‚eigenes Werk‘ ist, ein selbst gemaltes Bild, wie auch ein sich selbst malendes Bild.
[1] Ähnlich wie im Verhältnis der Märchen zu Lebensgeschichten von Personen, von dem Wilhelm Salber sagte, das es sich um ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis handelt, sich also die Märchen nur vor dem Hintergrund konkreter Lebensprobleme und Lebensaufgabe von Menschen (in Behandlung) verstehen lassen (Salber, 1999), schärft auch jede Bildwirkungsanalyse den Blick auf die allgemeinen Konstruktionsprobleme des Seelischen, die ihrerseits darauf drängen (wie in einem Gemälde) konkret, anschaulich und sinnlich erfahrbar zu werden.
[2] Wenn das Unheimliche ein jeweils Verdecktes sichtbar macht, so ist es die Erfahrung, dass sich Gestalten allgemein stetig wandeln. Diese Seite von Gestalt ist so versteckt und ausgeblendet im Alltagsleben, dass ihn sogar die beiden frühen gestaltpsychologischen Schulen erfolgreich ausblenden konnten. Dies geschah unter dem Einfluss eines mächtigen Gestaltgesetzes, nämlich dem der ‚guten Gestalt‘ (Wertheimer), der – ob bei Wahrnehmungsgegenständen oder Handlung jeweils das Rundwerden und Vervollkommnen der Gestalt – den Wandel der Gestalt unberücksichtigt ließ. Selbst in Experimenten zur Aktualgenese, einem Vorgang der bereits die Entwicklung der Gestalt als Erlebensentwicklung zum Gegenstand hat, sprachen die Autoren von „gefrorenen Endgestalten“ (Fitzek, Salber, 1996)
Fitzek, Herbert: Der Fall Morphologie. Biographie einer Wissenschaft. Bouvier-Verlag, Bonn, 1994
Fitzek, Herbert, Salber, Wilhelm: Gestaltpsychologie. Geschichte und Praxis. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt, 1996
Freud, Sigmund: Das Unheimliche (1919) In Studienausgabe. Psychologische Schriften. Band IV. Fischer-Verlag. Frankfurt a.M., 1970. S. 241-274
Freud, Sigmund: Über den Gegensinn der Urworte (1910). In Studienausgabe. Psychologische Schriften. Band IV. Fischer-Verlag. Frankfurt a.M., 1970. S.227-234
Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur (1930). In Studienausgabe. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Band IX. Fischer-Verlag. Frankfurt a.M., 1970. S. 191-270
Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale (1915). In Studienausgabe. Psychologie des Unbewussten. Band III. Fischer-Verlag. Frankfurt a.M., 1970. S. 75-102
Salber, Wilhelm: Märchenanalyse. Bouvier-Verlag, Bonn, 1999
Salber, Wilhelm: Kunst-Psychologie-Behandlung, Bouvier-Verlag, Bonn, 1986
Märchensammlung Gebrüder-Grimm: Von einem der auszog das Fürchten zu lernen.
Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Grey (1891)
Abbildung, gemeinfrei nach
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:James_Ensor_-_Still_Life_with_Masks.jpg
Johanna Hodde (Dr. phil.) studierte Psychologie an der Universität zu Köln, Freie Kunst an der Kunstakademie Münster und Visuelle Kommunikation an der Hochschule für Bildende Kunst Hamburg. Seit 2015 lehrt sie an der BSP Business & Law School am Campus Hamburg Kultur- und Medienpsychologie und ist als Kunstcoach im Feld der ästhetischen Bildung und psychologischen Beratung tätig. Sie blickt auf eine 10-jährige Tätigkeit als Supervisorin in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie zurück. Ihre Forschung bewegt sich im Spannungsfeld von Kunst und Psychologie und umfasst Diagnosen der Gegenwartskultur, tiefenpsychologische Medienwirkungsforschung – mit einem Schwerpunkt auf morphologischen Wirkungsanalysen von Kunstwerken. Hierzu zählen eine Analyse des Schwarzen Quadrates von Malewitsch und eine kunstwissenschaftlich-morphologische Untersuchung der Narziss-Darstellung von Caravaggio.