Bilder – und sinnvoll von ihnen zu reden

Ein psychologischer Beitrag dazu. Überarbeitete Fassung des Vortrags auf der Tagung der WSG ‚Sinn-Bilder-Sinn‘ am 17. September 2021 an der BSP in Berlin

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Autor:in

Fritz Heubach Nach dem Studium der Psychologie an der Universität Köln wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut II (Lehrstuhl Salber); 1974 Promotion, 1984 Habilitation. 1985-1989 war Friedrich Heubach Professor für Psychologie an der Universität Köln, 1989-1992 an der Hochschule für Bildende Kunst Hamburg; 1992-2008 Lehrstuhl für Psychologie und Pädagogik an der Kunstakademie Düsseldorf. Gründer und Herausgeber der Kunst-Zeitschrift „Interfunktionen“. Zahlreiche Veröffentlichungen hauptsächlich in den Bereichen: Bildende Kunst, Wahrnehmungspsychologie, Bild-Theorie, Pathologie des Alltagslebens.

Kontakt: heubach.fritz@gmail.com

 

Bilder - und sinnvoll von ihnen zu reden

Es ist eine undankbare Rolle, hier jetzt den Abschluss des heutigen Tages zu machen, und es ist – nach der Aufmerksamkeit, die Sie ja bislang aufgebracht haben – auch eine Zumutung, dann auch noch etwas zu Gehör zu bekommen, was vielleicht auch inhaltlich eine Zumutung sein könnte. Und auch gebe ich – da Sie es ja eh bemerken werden – lieber gleich zu, dass ich in meinem psychologischen Denken -was die ‚Psychologische Morphologie‘ betrifft – ziemlich zurückgeblieben bin. Insofern mein Denken noch geprägt ist von dem, was Salber in den Sechziger/Siebziger Jahren als ‚Morphologische Psychologie‘ vertrat. In diesem Terminus schlug sich seine Auffassung nieder, dass Einheit und Entwicklung im Psychismus nicht hinreichend verstanden wären, wenn sie nur etwa  in ‚Motiven‘, ‚Trieben‘ und ähnlichem determiniert erklärt würden, und dass die psychischen Produktionen vielmehr von Qualitäten und Gesetzmäßigkeiten der Form bestimmt seien. – Wobei sein Verständnis von der Form-Bestimmtheit des Psychischen weit über das hinaus ging, was in dieser Hinsicht die Gestalt-Theoretiker schon experimentell erwiesen hatten, auf die er sich ja auch immer wieder berufen hat.

 Nun ist aber inzwischen ja aus der ‚Morphologischen Psychologie‘ eine ‚Psychologische Morphologie‘ geworden, was etwas ganz anderes ist. Etwas, das beansprucht eine allgemeine Formen-Lehre auf psychologischer Grundlage zu sein. Und hier wird dann auf einmal Salbers ursprünglich morphologischen Psychologie zu einer – Zitat – „Kunstlehre des Sinn-Verstehens“ erklärt, der es gegeben sei, „universale Wahrheiten zu offenbaren“. Nun, eine Psychologie, die sich zu solchen Ansprüchen versteigt, ist nicht mehr meine. Ich ziehe es vor, bei jener Psychologie zu bleiben, zu deren Charakterisierung ich Salber mehr als einmal habe das Diktum von William James zustimmend zitieren hören, bei der Psychologie handle es sich um „a nasty little subject“. Dass das Psychologie-Betreiben ein garstiges, ungezogenes, freches und zugestandenermaßen manchmal auch etwas boshaftes Unternehmen ist, scheint mir heute vollständig vergessen zu sein, wenn ich sehe, wie verbreitet es geworden ist, Psychologie als Übung in angewandter Empathie zu verstehen und so etwas wie eine säkularisierte Seelsorge daraus zu machen.

Und diese, meines Erachtens nach problematische Entwicklung, die Salbers Psychologie bei manchen seiner Schüler genommen hat, hängt sehr eng mit dem zusammen, was diese Schüler daraus gemacht haben, dass Salber zur Kennzeichnung der Eigenart psychischer Produktionen den Terminus „kunst-analog“ wählte. Während er damit ja ein Spezifikum des wissenschaftlichen Gegenstandes der Psychologie charakterisieren wollte, machen manche Schüler daraus dann das Wesen der Wissenschaft der Psychologie selbst. So, wenn die Psychologie von ihnen als – Zitat – „Kunst-analoges Unternehmen“ ausgegeben und behauptet wird, „die Morphologie ist eine Kunst“.

Nun hat man das verdaut, kann es einen dann auch nicht mehr entgeistern zu hören „Jeder Morphologe ist ein Künstler“, – wörtlich zitiert. Das mag ja augenzwinkernd gemeint sein, aber das Unglück, dem Salber mit der Vokabel ‚kunst-analog‘ Raum gab, erscheint mir durchaus dem vergleichbar, was Beuys mit seinem „Jeder Mensch ist ein Künstler“ angerichtet hat: Eine Inflation der Selbstentdeckung und Selbstbehauptung von Menschen als ‚Künstler‘, – plötzlich diese Masse überglücklicher Menschen, die sich unverhofft schon durch ihr bloßes, blankes Mensch-Sein in einem Schöpfertum bestätigt sehen, das ein Künstler – im glücklichen Fall – mit seinen Werken, also in einem existenziell riskanten Handeln beweist. Wie weit diese Menschen, die sich da als Künstler entdeckt haben, von einem solchen Handeln entfernt sind, sieht man daran, wie wenig Spuren ihre Konversion zum Künstler in ihrem Alltag gezeitigt haben. Sie tun, denken und meinen dasselbe, was sie immer schon gedacht, gefühlt, getan, gewollt haben, nur sie fühlen sich auf einmal so viel, viel besser dabei. Können sie doch jetzt diese Beliebigkeit ihres Lebens, die sie ja durchaus schonmal bedrücken konnte, als die Leichtigkeit des Seins als Künstler, ihres Seins, feiern. Und das, was sie durchaus auch selber schon mal plagen konnte, die Inkontinenz ihres Denkens und Meinens, darin wähnen sie jetzt plötzlich stolz ein Ereignis ihrer Kreativität. Es ist einfach Inkontinenz, mehr nicht. Und natürlich hätte Beuys dieses Unglück vermeiden können, hätte er das, was er mit diesem Satz meinte, so gesagt, wie er es früher mal gesagt hatte.

 Wenn Sie jetzt bitte das erste Bild bringen. 

 

Das also ist die erste Version von Beuys These – 1968 abgedruckt in der Zeitschrift, die ich damals herausgegeben habe – und die lautete: „Die Ästhetik ist eine Begleiterscheinung jeder menschlichen Tätigkeit.“ Natürlich meinte er da nicht wirklich die Ästhetik, diese Wissenschaft, sondern die Aisthesis – das sinnliche Erfassen bzw. Ordnen der Welt – fände in jedem menschlichen Handeln statt. Der Mensch habe darum in allem, was er tut, zu bedenken, dass darin nicht irgendwelche seiner Bedürfnisse, Vorsätze, Ansichten einfach verwirklicht werden, sondern diese überhaupt erst Form und Ordnung gewinnen, – dass also derart sein Tun immer auch ästhetischen Prinzipien und Kriterien und nicht allein denen rationaler Effizienz zu genügen habe.

Dass sie den Menschen aber gerade eben dieses Bedenken in seinem Handeln ersparte, das machte – wie beschrieben – den verhängnisvollen Charme jener dann populär gewordenen Seins-Version „Jeder Mensch ist ein Künstler“ aus.

Und jetzt kann man fragen: Hätte Salber das Unglück, dieses konkordante Unglück vermeiden können, dem er mit seiner Verwendung des Begriffs ‚kunst-analog‘ Raum gab? Ja, wenn er, als es um das Funktionieren des Psychischen in seiner Eigenart ging, in keiner Weise einen Bezug auf Kunst genommen, sondern einfach davon gesprochen hätte, dass in allen Produktionen des Psychischen – egal wie funktional, zweckorientiert, zielgerichtet es auch immer in ihnen zugehen mag bzw. egal, wie vernünftig man sie erklären kann – immer auch Ordnungen mit im Spiel sind, die insofern als ästhetische anzusprechen sind, als es solche sind, die für die Werke von Dichtungen, Malerei und Musik konstitutiv sind, und weshalb dann – das war ja das Ziel seiner Argumentation – eine Beschäftigung des Psychologen mit deren Zeugnissen durchaus sinnvoll, ja auch unabdingbar sei. Dann wäre klar geblieben, dass Bilder, Mythen, Karikaturen, Märchen usw. für einen Psychologen nicht in ihrer Realität als Kunst relevant werden, sondern allein dadurch und in dem Maße, dass und wie sich in ihnen Zusammenhänge und Bedingungen auf zugespitzte Weise manifestieren, anschaulich erkennbar werden, die in jeglichem menschlichen Verhalten – Freud würde sagen: es überdeterminierend – wirksam sind. – Beim Zähneputzen genauso wie beim Betreiben von Psychologie.

Hätte Salber das so gesagt, dann wäre das zwar in seiner Kompliziertheit wahrscheinlich über den Horizont einiger seiner Hörer hinausgegangen, aber es wäre uns erspart geblieben aus diesem ‚kunst-analogen‘ Moment psychischer Produktionen jetzt den Schluss gezogen zu hören – Zitat – „Psychologie als Wissenschaft ist ein Ding der Unmöglichkeit“, sie sei vielmehr ein „kunst-analoges Unternehmen“, denn „Verstehen geht nur als Kunst, nicht als Wissenschaft“. 

Ich meine dagegen, dass es einem Psychologen – mit Verlaub zu sagen – scheißegal sein kann, ob das, was er betreibt, Wissenschaft ist oder Kunst, wenn das, was er praktiziert, ein dezidiert psychologisches Fragen ist. Was ich damit meine? Damit meine ich z.B. im Falle von Sinn-Fragen, von denen hier heute so viel die Rede ist, dass ein dezidiert psychologisch fragender Psychologe, sich nicht dazu versteigt, auf Sinn-Fragen als solchen eine Antwort zu geben. Sondern, dass er schlicht fragt: Wieso fragen die Leute überhaupt nach einem Sinn? Wozu sähen sie sich denn verholfen, wenn sie denn in dem, was ihnen widerfährt oder sie tun, irgendwie ein Sinn erschiene oder sie dem einen geben könnten? Die Frage, ob was sie dann als Sinn vermeinen, wirklich als ein solcher zu gelten hat, das ist, solange wie er psychisch als wie ein solcher wirkt, für einen dezidierten psychologisch fragenden Psychologen eine von diesen müßigen, ebenso hoffnungs- wie zeitlosen Fragen, zu deren Antwort sich Philosophen und Theologen berufen fühlen, er sollte sie denen überlassen und bei seinem „nasty little subject“ bleiben.

 So, jetzt möchte ich aber endlich zum Thema ‚Bild‘ kommen. Aber ich sollte noch nachtragen, dass alles, was ich da bislang von der ‚Psychologischen Morphologie‘ zitiert habe, natürlich nicht von Salber war, sondern von Daniel Salber, seinem Sohn. Alles wörtlich zitiert aus einem Vortrag, den er  in der Salber-Bibliothek gehalten hat.

Gut, worum geht es mir hier jetzt bei dem Thema ‚Bild‘? Nun, gerade weil die psychologischen Morphologen dem Bild eine so große Bedeutung geben – ja nicht nur im Leben des Individuums, sondern vor allem auch in den Manifestationen der Kultur – möchte ich auf einiges Bedenkliche nicht etwa nur in ihrer, sondern überhaupt in der Verwendung des Begriffes ‚Bild‘ hinweisen. Es ist nämlich merkwürdig: Die Vieldeutigkeit dieses Begriffes ‚Bild‘ ist ziemlich genau so groß, wie die Vieldeutigkeit, die dem Bild selbst seit alters her immer von Vertretern der rationalen Erkenntnis vorgeworfen wurde. Dass die Bilder mit der Rede von ihnen eine prekäre Vieldeutigkeit gemeinsam haben, ist aber noch nicht alles. So wie Bilder von ihrem Betrachter oft genug schon für diese Realität genommen werden, die sie doch bloß zeigen – Trompe l’oeils sind die klassischen Beispiele dafür – neigen Betrachter leicht dazu, Bilder von etwas Gutem und Schönem für gute und schöne Bilder zu halten und Bilder, die – wie etwa die Ihnen sicher bekannte Zeichnung Dürers seiner Mutter – etwas Bedrückendes oder Abstoßendes zeigen, für widerliche, schlechte Bilder zu halten. – Gewiss, seine da schon todkranke Mutter – zwei Monate später starb sie – sieht wirklich erbärmlich aus auf der Zeichnung, aber wie es Dürer gelang, ihrem Leiden mit nüchternen Kohle-Strichen diese den Betrachter erschreckende Gegenwärtigkeit zu geben, darin gewinnt sie ihren hohen Rang als Bild. 

Ganz ähnlich, wie viele Betrachter die erlebten Eigenschaften dessen, was ein Bild zeigt, dem Bild als Sache, als Werk zuschreiben, wird denn auch durch die Rede von irgendeiner Gegebenheit als einem ‚Bild‘ eben dieser Sache die bildliche Funktion, etwas zu zeigen, sozusagen seins-mäßig zugesprochen, die ihr aber doch erst die Rede verleiht.

Ein Beispiel dafür: Wenn man in einem Gedicht, das den Pferden, ihrer archaischen Lebenswelt gewidmet ist, auf diesen merkwürdigen Lyrismus „der Huf, das Bild der Steppe“ stößt, dann mag da ja im Leser durchaus die Steppe gegenwärtig werden mit den in ihrer Öde schweifenden Herden von Pferden … das dumpfe Trommeln ihr Hufe, wenn sie plötzlich in Galopp fallen … dann mag er sich womöglich zu Pferde in einer Karawane tage- und wochenlang dahinziehend imaginieren, – aber als Sie und ich, als wir irgendwann zum ersten Mal ein Pferd und diese seine komischen Füße gesehen haben,  die man ‚Hufe‘ nennt, wir sahen da kein Bild, weder Steppe noch Karawane, sondern schlicht Hufe. 

Ein anderes, näherliegendes Beispiel dieser Rede von Bildern in übertragenem Sinn: So sieht etwa Dirk Blothner, Aussagen Salbers aufgreifend, „die westlichen Gesellschaften durch ein kollektives Auskuppeln aus vereinheitlichenden Lebensbildern gekennzeichnet“. Natürlich kann man das Leben als ein Bild verstehen und in dieser Analogie erscheint das Leben – etwas vielfältig Bewegtes, sich in der Zeit Wandelndes – dem Denken auf einmal genauso statisch und stabil zum Gegenstand und fassbar, wie dem Betrachter ein Bild fassbar wird, das er vor seinen Augen hat. Aber dadurch wird das Leben ja noch lange nicht selber ein Bild. Auf jeden Fall ist dem, der in ihm steht, von seinem Leben vergleichbar so wenig Anschauung gegeben, wie einem Pinsel die Anschauung gegeben ist von dem, was er durch seine Bewegung als Bild entstehen lässt. Und nur, wenn man sieht, dass sich ein Leben selbst nicht in dieser Sinn-fälligen Einheit eines Bildes zugänglich ist, wird verständlich, wieso Menschen so um ein Bild von ihrem Leben verlegen sind. 

Aber auch wenn man der Verwendung  des Begriffes ‚Bild‘ im seinem übertragenen Sinn, etwa dem Reden von einem ‚Lebens-Bild‘, einem ‚Sitten-Bild‘ oder ‚Charakter-Bild‘  durchaus vorhalten kann, dass es damit dem, wovon es handelt – dem Leben, den Sitten wie dem Charakter  – die statische Gegebenheit eines Bildes verleiht und dabei ihr Zustandekommen, ihre Geschichte, sprich: die Bedingung ihrer Entwicklung ausblendet, so ist dieser Rede andererseits der heuristische Gewinn zugutezuhalten, dass dabei immerhin deren Komposition, ihre Ordnung in den Blick kommt, – das, wofür der wissenschaftliche Begriff ‚Struktur‘ steht. Das Problem ist aber nur, dass nur zu leicht das, was an einer Sache, sie als wie ein Bild verstehend, beschreibbar wird, am Ende für eine Eigenschaft der Sache selber gilt.

Es wäre schön, wenn das Reden von ‚Bildern‘ nur dieses Problem kennen würde, aber es birgt noch weitaus größere und diese sind genau die, die das Bild schon als ein ganz einfaches, schlichtes Ereignis in der visuellen Wahrnehmung aufwirft. Um‘s kurz zu machen: Wenn man von Bildern redet, kann das nur sinnvoll und ihnen angemessen sein, wenn man dabei der schwierigen Verhältnisse eingedenk ist, wie sie sich eben in der Wahrnehmung eines Bildes, egal ob Foto oder Gemälde, psychologisch auftun. 

Frage also: Worin bestehen diese psychologisch schwierigen Verhältnisse in der Wahrnehmung von Bildern? Nehmen wir an, wir nehmen ein Bild wahr und auf diesem einen Apfel. Den Apfel nehmen wir zwar wahr, allerdings nehmen wir ihn nicht für wirklich, während wir zugleich das Bild, das ihn zeigt, wahrnehmen und für wirklich gegeben halten. In dem Wahrnehmen dieses Bildes eines Apfels  ereignet sich also eine Differenz, ein Sprung, ein Hiatus, wie immer man das auch nennen will: Eine Differenz zwischen dem Gegeben-Sein von Etwas nur in seiner Wahrnehmung und dem Gegeben-Sein von Etwas auch in der materiellen Welt. Bedenkt man nun, dass und in welchem Ausmaß wir in unserem alltäglichen Wahrnehmen der Welt davon ausgehen, dass das, was wir vor Augen haben, auch in der materiellen Welt gegeben ist, dann wird das Wahrnehmen von Etwas als Bild als eine komplizierte, anspruchsvolle, dem Wahrnehmen die Unmittelbarkeit raubende Übung kenntlich. Sieht man diese darin bestehend, dass der Betrachter eines Bildes, das ihm da sinnlich Gegebene und Gewisse nicht gleich schon als ein auch in der Welt materialiter Gegebenes realisiert, dann hat man übrigens damit die zentrale Bedingung jenes Numinosums erfasst, von dem heute als ‚Bild-Kompetenz‘ die Rede geht.

Aber damit noch nicht genug der Komplikationen: Denn selbst wenn wir das, was da auf dem Bild zu sehen ist, als einen – wenngleich nicht materialiter, sondern nur der Wahrnehmung nach gegebenen – Apfel realisiert haben, kann es sein, dass er uns doch etwas befremdet mit diesen Pünktchen und braunen Flecken da auf ihm. Wir wissen zwar, dass das bei Äpfeln nicht so selten ist, aber irgendwie stören die uns doch so, dass wir uns misstrauisch fragen: Ja, sollen das jetzt wirklich dunkle Stellen auf dem Apfel, auf seiner Schale sein, oder ist das vielleicht bloß Schmutz auf dem Bild? – Oder hat da der Apfel womöglich nur etwas von dieser braunen Farbe abbekommen, als der Maler damit etwas zu schwungvoll den Tisch ausmalte, auf dem der Apfel liegt. Kurz, da stellt sich die Frage: Haben wir es bei diesen Flecken mit einer Eigenschaft der Sache, des Apfels zu tun, oder mit einer Eigenschaft des Bildes von ihm, der Malerei? Dass Fragen, Verhältnisse solcher zweifelhaften Art nicht so abwegig bzw. kunstfern banal sind, wie Sie vielleicht glauben könnten, kann dieses Bild von Sigmar Polke zeigen: 

 

Einerseits ist da so etwas wie ein landschaftlicher Raum wahrzunehmen, eine Allee von Bäumen, die zu Hügeln im Hintergrund führt; andererseits sieht man dahinter statt eines Himmels und Wolken ein planes Rautenmuster und über alles verteilt schwarze Flecken und kleine Punkte, die zu viele sind, als dass man sie sich als Vögel denken könnte – die aber häufiger auch in so schwungvolle Reihen auftreten, als wären sie Pinselspritzer … und auch ist da rechts so eine Hin-und-Her-Wischspur, die einerseits so aussieht, als habe da der Maler bloß die Farbe im Pinsel ausmalen wollen und zugleich aber auch so, als stünde da etwas sich ganz schnell Drehendes, so wie man sowas in Comics dargestellt kennt. Auch dann ist da auch noch drumherum dieser gemalte Rahmen. Ist der nun um das Bild der Landschaft herum oder genauso wie diese auf dem Bild, in diesem Fall hätten wir da also weniger das Bild einer imaginären Landschaft vor Augen, sondern das Bild eines Bildes einer imaginären Landschaft? Kurz: Es fällt einem schwer, in all dem, was man sieht, bestimmt zu befinden, was es denn ist … haben wir mit diesem Bild einen Raum oder eine Oberfläche vor uns, sehen wir das Einzelne auf dem Bild als eine malerische Spur, als ein Ereignis des Bildes oder als ein Ereignis in der von ihm abgebildeten, erzählbaren Welt? Es kann das dem Betrachter so zusetzen, dass er dieses Entweder-Oder irgendwann aufgibt und sich ihm eröffnet, dass das, was auf der Ebene der von ihm wahrgenommen ‚Landschaft mit Allee‘ keinen oder wenig Sinn macht – diese Pünktchen und Spritzer und dieser Drehwirbel –, zugleich aber auf der Bild-Ebene unserem Wahrnehmen eine bewegte Zerstreuung, eine Dynamik besorgen, die kontrapunktisch zu der starren Diagonale der ‚Allee‘ und dem regelmäßigen Rautenmuster des ‚Himmels‘ dem Gesamten, dem Malwerk etwas Musikalisches verleihen. – Und es ihm so gesehen, doch gelungen erscheint. 

Manch einer unter Ihnen wird aber sicher in diesem Malwerk nur wieder eine dieser mehr von Extravaganz als von Können zeugenden Spinnereien erkennen, die er als typisch für die Moderne Kunst ansieht. –  Aber was ist denn mit diesem Bild von Adolph Menzel, dessen malerisches Können in der Kunstwelt nun wirklich unbestritten ist?                                                              

Ist der Anstrich der Wand dahinten fehlerhaft (bzw. nicht gerade sehr gekonnt von einem Anstreicher ausgebessert worden), oder ist Menzel mit dem Malen der Wand nicht fertig geworden, – hat er es daran fehlen lassen, das Bild zu Ende zu malen? – Sprich: ist die Wand selbst fehlerhaft und unschön fleckig, oder ist das Bild unfertig? Unter Kunsthistoriker ist das bis heute strittig. Aber lassen Sie es sich von mir sagen: Das kann einem egal sein, denn in der Wirkung als Bild ist dieses Werk mit all seinem Ungefähren im Gegenständlichen von eben jener vollendeten Flüchtigkeit, die den Impressionismus auszeichnet, dem es mehr um atmosphärische Präzision ging als um Gegenstandstreue.

Dafür, dass die Verhältnisse, die ein Bild in dem eröffnet, was es anschaulich gegeben sein lässt, seinem Betrachter  noch weit Komplizierteres abverlangen können als es diese beiden Gezeigten taten, mag der Hinweis auf den Ihnen bekannten, sogenannten „Rubin’schen Becher“ genügen: Der mutet dem Betrachter zu, in etwas, das vor seinen Augen ein-und-dasselbe ist, zweierlei und sehr, sehr Verschiedenes als gegeben zu erkennen, einen Becher und zwei Gesichter, ohne doch je beides zugleich wahrnehmen zu können.

Aber warum hier diese ganze Reihung der Kompliziertheiten des Wahrnehmens von Etwas als Bild? Um deutlich zu machen, erstens, um welch‘ eine diffizile Leistung es sich bei der Bild-Wahrnehmung, dem Wahrnehmen von irgendeinem Etwas als ‚Bild‘ handelt – diese Leistung, die man früher als dem Menschen angeborenes und einzig ihm gegebenes ‚Bild-Vermögen‘ ansprach und die man heute, von ihr als ‚Bild-Kompetenz‘ sprechend, eher für eine erworbene Fähigkeit ansieht – und um, zweitens, die Grundlage zu schaffen für eine im Weiteren anzustellende Spekulation zur Frage ihres Erwerbs.  In ontogenetischer Hinsicht scheint die Antwort naheliegend und zu lauten: Bild-Kompetenz entwickelt der Mensch im Umgang mit den vielen Bildern, denen er in seinem Alltag begegnet. Am Anfang war da das Bilderbuch, war da ein Spiegel, dann kam das Fernsehen und…und…und … und spätestens – ich mach‘s kurz, als das Kleinkind – beispielsweise – mal vor dem Fernseher sitzend, vergeblich nach dieser schönen Schokolade vor seinen Augen gegriffen hatte, für die da gerade geworben wurde, hat es zu begreifen, dass das Gegebensein von Etwas in seiner Wahrnehmung nicht notwendig auch dessen Gegebensein in der Welt bedeutet – in diesem Moment ist für dieses Kind der Fall des Bildes denkbar geworden.

So kann man sich das vorstellen und so stellt sich denn vielen, auch Wissenschaftlern, der Erwerb der famosen Bild-Kompetenz dar. 

Aber wie war das denn phylogenetisch? Damals in der Höhle gabs doch noch keine Bilder, da war nichts ‚Bild‘ … wie konnte da der Mensch darauf verfallen, sowas wie Bilder an die Wände zu bringen? Nicht gleich diese wunderbaren Tierzeichnungen, sondern diese Abdrücke von Händen, in denen man allgemein den frühesten Fall eines Bildes erkennt. Der Mensch damals hatte doch nie so etwas wie ein Bild vor Augen gehabt … wie konnte es kommen, dass er da was mit seiner Hand an der Wand macht und dann nimmt er sie weg und die Hand ist doch noch irgendwie da an der Wand – als Bild.

Dass er also ein solches hat machen und wollen können, obwohl er nie eines vor Augen gehabt hatte – wie kann es dazu so plötzlich gekommen sein? Nun, sollte man da nicht wohl anzunehmen haben, dass dieser Mensch vorher schon mal irgendwas vor Augen gehabt haben muss, an dem ihm diese schwierigen Verhältnisse zugänglich geworden sein müssen – dass da etwas in seiner Wahrnehmung gegeben ist, aber doch nicht wirklich ‚da‘ ist – bevor er dann selbst ein solches Verhältnis aktiv herzustellen imstande war. Sprich: Es muss also gewissermaßen Vor-Bilder für die Bilder gegeben haben; und welche könnte dieser Mensch gehabt haben?

Als solche Vor-Bilder will ich hier nur drei und das auch nur sehr schematisch ansprechen: Spuren, Schatten und Kadaver.

In dem Moment, als damals jemand die Spur eines Wildes sieht und ihr folgt, womöglich schon den Bogen spannt und einen Pfeil einlegt, beweist er, dass ihm etwas mentaliter gegenwärtig sein kann, obwohl ihm das nicht vor Augen ist – dass er die Spur als wie ein Bild realisiert.

In dem Moment, als damals jemand irgendwann diese dunkle Figur, die ihn begleitet, seinen von der Sonne geworfenen Schatten sieht und nach anfänglichem Schrecken neugierig beginnt, sich drehend und wendend, in dieser Figur, die er da abgibt, wechselnde Ansichten von sich zu entwerfen, beweist er nicht nur die Fähigkeit zu bildhaftem Wahrnehmen, sondern sogar ein bildnerisches Handeln.

Und in dem Moment, als damals jemand die Erfahrung macht, dass ein ihm naher Mensch, mit dem er über Jahre gemeinsam lebte, eines Tages plötzlich regungslos vor ihm liegt, der zwar noch genauso aussieht, wie er ihn kannte, und der doch jetzt so unheimlich, unfassbar anders ist, nämlich tot – wird da nicht für diesen Menschen angesichts des vor ihm liegenden Kadavers die Einsicht unabdingbar, wie unmittelbar ebenbildlich ihm etwas erscheinen kann und auf welch‘ zutiefst verstörende, rätselhafte Weise dieses doch nicht dasselbe ist?

Aber damit genug der Spekulation zur Phylogenese der Bild-Wahrnehmung und über mögliche vor-bildliche Erfahrungen der Höhlenmenschen. Mit ihr wollte ich nicht mehr, als Zweifel daran wecken, dass die ontogenetische Entwicklung der Bild-Kompetenz in ihren Bedingungen wirklich angemessen verstanden ist, wenn man sie für eine erst im Umgang mit gegebenen Bildwerken erworbene Fähigkeit hält; und zur Frage stellen, ob nicht vielleicht auch in der Ontogenese der Bild-Wahrnehmung solche Vor-Bilder für die Bilder wirksam sind, lange bevor das Kleinkind solchen im Bilderbuch begegnet. Was könnten solche Ereignisse bzw. Handlungen im Leben des sich entwickelnden Kindes sein, in denen auf noch vor-bildhafte Weise etwas von dem ins Spiel kommt, was für das Wahrnehmen einer Sache als Bild, für die Fähigkeit des Bild-Wahrnehmens konstitutiv ist? 

Ich will nur zwei Beispiele geben.

Das erste: Das Kleinkind ist es gewohnt, nächtlich gestillt zu werden … immer kommt die Mutter ins Kinderzimmer, macht Licht an, gibt dem Kind die Brust, macht das Licht wieder aus und geht. Irgendwann betritt die Mutter das Kinderzimmer, hat das Licht angemacht und sucht was in einem Schrank – da beginnt das Kind zu brüllen. Warum? – Es vermisst die Brust. Es war doch immer so,
dass wenn da Licht wurde, gab es Brust, Sättigung. Es hat sich da bei ihm offensichtlich so etwas wie eine sinnliche Gleichung organisiert, ungefähr so irrational wie: ‚Licht stillt – Brust leuchtet‘, und indem hier das Licht für etwas stehen kann, was es selbst nicht ist, hat das Licht die Realität eines anschaulichen Zeichens, sowas wie eine bildhafte Funktion gewonnen.

Ein zweites Beispiel für ein frühes Ereignis von Bildhaftem im Leben des Kleinkindes: das Daumen-Lutschen. Während das erste Beispiel für das Bildhafte als ein Ereignis im Wahrnehmen stand, steht das kindliche Daumen-Lutschen dagegen schon für Bildhaftes als ein Ereignis im Handeln, lässt doch das Kleinkind im Lutschen an seinem Daumen die mütterliche Brust sinnlich gegenwärtig werden, bildet es diese gewissermaßen nach.

Als ich mal Beuys, in dessen Weltanschauung der Begriff der Plastik eine so zentrale Rolle einnahm und der ja selbst die Gesellschaft, den Staat als eine „soziale Plastik“ des Menschen und dessen Denken als einen „plastischen Prozess“ verstanden wissen wollte, nicht ganz ernst gemeint vorschlug, diesen Akt – in dem Lutschen des Kleinkinds an seinem Daumen  – als frühestes plastisches Handeln, als die erste Kreation einer Skulptur zu verstehen, hat er mich zuerst schief angesehen, aber dann sardonisch lachend gemeint, da sähe man ja doch, wie recht er damit habe, in allem menschlichen Handeln ein ‚plastisches Prinzip‘ wesentlich wirksam zu sehen.

Na ja, dahingestellt, ob man darin, dass ein Kleinkind an seinem Daumen lutscht, dieses „plastische Prinzip“ wirksam erkennt. Aber sieht man darin, dass es dabei der realiter abwesenden mütterlichen Brust ein sinnliche Gegenwärtigkeit gibt, einen frühen Fall von bildnerischem Handeln, welches ihm seine Frustration aushaltbar macht, dann wird da im Bildnerischen die Logik einer Ersatzbildung kenntlich. Und zwar sogar einer sozusagen überlegenen Ersatzbildung, denn wenn auch der Daumen keine Milch gibt, so ist mit ihm ist die Erfahrung warmer Maulfülle steter, allzeitiger zu machen als an der Mutterbrust. – Diese Überlegenheit des Ersatzes teilt der Daumen im Übrigen mit all dem anderen, was das Kind dann später  als Übergangsobjekt kürt, – ein jedes bewahrt steter und allzeitiger vor der Erfahrung des Verlassen- und Alleinseins als das eine Mutter vermag.

Um es auf den Punkt zu bringen: Von diesen Vor-Bildern der Bilder her wird also mit ihrer Dynamik der Ersatzbildung auch die grundlegende Dialektik von Bildern kenntlich: In ihnen erfährt sich ein Bedürfnis im doppelten Sinn des Wortes aufgehoben, indem sie es scheinhaft – anschaulich – erfüllt   zeigen, bezeugen sie dieses Bedürfnis doch zugleich auch in seiner Wirksamkeit, seinem realen (Weiter-) Bestehen.

Mit dieser Dialektik wie sie schon in dieser primitiven bildnerischen Übung des Daumen-Lutschens 

zutage tritt, ist – überflüssig zu sagen – ein jedes bildnerische Handeln, ja sind alle ästhetischen, also den Menschen in der Ordnung der Sinne ansprechenden, Produktionen geschlagen. Von eben ihr handelt Walter Benjamin, wenn er in seiner Kritik an der „Ästhetisierung der Politik“ einerseits in den Inszenierungen der faschistischen Massenveranstaltungen und Festivitäten die Strategie wirksam sieht, „die Massen zu ihrem Ausdruck, beileibe nicht zu ihrem Recht kommen zu lassen“ – er aber andererseits dem ästhetischen Handeln in der Kunst die Funktion zuschreibt, „eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist“.

Angesichts der Dialektik, die den Bildern als diesen ästhetischen Gebilden eigen ist, hätte also eine Rede von Bildern im Zusammenhang eines individuellen Lebens oder eines kulturellen oder gesellschaftlichen Zusammenhangs immer zu bedenken: Inwieweit diese Bilder von ihrer Wirkung her das, wovon sie handeln, jeweils stilllegen oder wachhalten. – Ob ein Bild, in dem es irgendeinem Etwas eine sinnliche Gegenwärtigkeit verleiht, es also gewissermaßen dem Anschein nach gegeben sein lässt, damit dessen reales Abwesen kompensiert und damit auch das Begehren danach stilllegt. – Oder ob ein Bild, indem es einem materialiter Abwesenden sinnliche Gegenwärtigkeit verleiht, es sozusagen zum Vorschein bringt und es darin dem ihm geltenden Begehren fassbar bleiben lässt, sein Persistieren ermöglicht.

Wie schwer darüber eindeutig zu befinden ist, wird am schon am Daumen-Lutschen kenntlich: Hat man es als erfinderischen Behelf in großer Not zu würdigen oder als bloße kompensatorische Flucht aus ihr zu verurteilen? Auf jeden Fall hat man hier – nebenbei gesagt – in dieser den Bildern in ihrem Funktionieren als Ersatzbildung eigenen Dialektik mal etwas konkreter vor Augen, wovon ebenso oft wie nebulös als ‚Bild-Logik‘ die Rede geht.

Und da ist noch etwas, das für ein Bild – für das visuelle Wahrnehmen von etwas als Bild – konstitutiv und unabdingbar ist und woraus sich ein weiteres Bedenken – das soll aber dann das letzte sein, das ich hier erhebe – gegen diese nicht nur unter Psychologen verbreitete metaphorischen Verwendung des Begriffes ‚Bild‘, wenn es um die Erklärung individuellen Verhaltens oder gesellschaftlicher Wirkungszusammenhänge geht.

Dafür muss ich noch einmal eingehen auf die spezifischen Bedingungen des Wahrnehmens von etwas als Bild im Unterschied zur Wahrnehmung von etwas als realiter gegeben:

Irgendein Etwas als ‚Bild‘ wahrnehmen ist gleichbedeutend damit, dieses Etwas aus dem Total dessen, was mir aktuell als Welt vor Augen ist – so wie eine Figur aus dem Grund – herauszuheben, sprich: ein gleichzeitiges Eingrenzen wie Ausgrenzen. Wenn Ihnen das zu abstrakt ist, dann vergegenwärtigen Sie sich nur einmal, was Sie tun, wenn Sie ein Vexierbild vor Augen haben, etwa die Zeichnung eines Walds, und Sie nach dem Jäger suchen, der sich in ihm versteckt haben soll. In diesem Suchen nach einem Bild in einem Bild machen Sie nicht anderes, als – laufend irgendwelche Grenzen in dem homogenen graphischen Geäst der Bäume ziehend – immer wieder neue Einheiten in dem zu bilden, was Sie vor Augen haben, bis Sie endlich eine entdeckt, konturiert haben, in deren Umriss Ihnen der Jäger bildhaft gegeben vor Augen tritt.

Während wir in unserem normalen Wahrnehmen der Welt seiner kaum je als diese grenz-zieherischen Übung gegenwärtig sind – wir nehmen ja normalerweise nicht einmal die unser Sehfeld begrenzende Nase und Augenbrauen wahr, obwohl diese allemal auf unserer Retina gegeben sind, aber sozusagen ‚rausgerechnet‘ werden –, und wir die Verschiedenheit der Dinge, die wir sehen, durchweg als in ihrer objektiven, materialen Verschiedenheit begründet annehmen, ist dagegen diese Verschiedenheit, in der wir den Jäger im Geäst der Bäume wahrnehmen, genauso eine einzig im Wahrnehmen reale, wie ja das Gegebensein des Jägers und der Bäume überhaupt, denn realiter ist da ja nur eine schwärzliche graphische Struktur auf weißem Papier.

Während wir uns dieser grenz-zieherischen Übung – darin bestehend, die Totale des Wahrnehmens der Welt in die Wahrnehmung eines Bildes von ihr zu transformieren – nur seltenst bewusst werden, ist sie schon früh den Malern und heute allemal den Filmern – bestens als die Leistung des ‚Kadrierens‘, der ‚Cadrage‘ oder des ‚Framing‘ bekannt. Und sie wissen nur zu gut um die eminente Bedeutung dieser Leistung für die Wirksamkeit von Bildern – für das, was sie mit ihrem Bild als Wirklichkeit erfahrbar machen wollen. Um dieses ‚Rahmen der Sicht‘, das diese Begriffe bezeichnen, geht es übrigens bei diesem kleinen fernrohr-haften Gerät, das Sie sicher schon mal um den Hals irgendeines Filmregisseurs haben hängen sehen: Wenn er dadurch blickt, sieht er die Welt genau in demselben Format, in dem die Kamera die Welt aufnimmt, und so kann er, ohne mit der schweren Kamera hin- und herlaufen zu müssen, schon prüfen, aus welcher Position die Kamera ehestens das Bild von der Welt einfangen wird, das er von ihr geben will.

Diese Leistung des Kadrierens ist allerdings ebenso elementar wie dem gewöhnlichen Betrachter von Bildern bzw. Filmen kaum je Thema, dass ich – es mir und Ihnen leichter machend – versuchen werde, das, was es mit diese Kadrieren im Bild-Wahrnehmen auf sich hat, und das Bedenken, das sich daraus prinzipiell für die Rede von Bildern ergibt, anhand von zwei Fotos zu veranschaulichen.

 

Hier sehen Sie zwei unterschiedliche Versionen einer Photographie von André Kertéscz. Welche von beiden hat in der Geschichte der Photographie ikonischen Rang erworben? Oder anders gefragt – da können Sie gleich mal das Niveau ihrer Bild-Kompetenz prüfen – welches von den beiden finden Sie das bessere, das gelungenere Bild?

[Das Publikum wurde aufgefordert, jeweils durch Handheben für eine der beiden Version zu votieren, bei geringer Beteilung ergab sich eine Mehrheit für die rechte Version.]

Woraus erklärt sich, dass Sie der rechten Version den Vorzug gaben, bei der es sich denn auch um die handelt, die Kertész selber wählte und als eine Ikone der Photographie gilt? Wieso ist nicht das linke Foto das bessere, denn schließlich sind da auch die Beine zu sehen, die der Mann hat, während sie ihm auf dem rechten fehlen – ein gutes Foto sollte doch nichts nur halb zeigen? Stimmt, und so gesehen man muss zugeben: Als Abbild ist diese Version des Fotos der anderen eindeutig vorzuziehen, ist doch in ihr – wie man so sagt – die Wirklichkeit besser getroffen. Wieso aber ist ihm seine von Kertésc beschnittene Version – die Photographie rechts – überlegen und worin soll ihre Überlegenheit nur liegen? – Die Antwort ist einfach: Sie liegt in der Wirkung dieser Photographie als Bild. Denn das Fehlen der Beine – ja kein Datum des Mannes, sondern allein des Bildes –, dieses erst durch Kertéscs Beschnitt entstandene Unganze des Mannes triggert sofort das in unserem Wahrnehmen wirksame Gestaltgesetz der Fortsetzung und Ergänzung und lässt so im Betrachter eine Dynamik, eine visuelle, psychische Verwicklung mit dem Bild entstehen, in der ihm die Welt, die es zeigt, in einer Weise erlebnisnah wird, wie sie es in seiner Wahrnehmung ihrer vollständigeren Abbildung nicht wurde.

Wenn man hier also exemplarisch feststellt, dass und wie ein Bild an Erlebniswirklichkeit – an Wirkmacht – gerade dadurch gewinnt, dass in ihm die Wirklichkeit sozusagen beschnitten ist, dann gibt einem die vielbeschworene Macht der Bilder doch einiges kritisch zu bedenken auf.

Was sie ja auch schon tat, als hier von der Vor-Bildlichkeit der Übergangsobjekte – über die Bilder als Ersatzbildungen – gesprochen und gezeigt wurde, wie Bilder, indem sie etwas sinnlich gegeben erscheinen lassen, das entweder nicht, nicht mehr oder noch nicht wirklich gegeben ist, sie damit in ihrem Betrachter das, was in ihm Bedürfnis oder Sehnsucht danach war – Trauer darum oder auch Angst davor – genauso stilllegen können wie wachhalten.

Um aber nun endlich zum Schluss zu kommen: Mit all dem, was ich hier als bedenkenswert angeführt habe, wollte ich illustrieren, was – um den Titel meines Vortrags zu zitieren – es heißt: „von Bildern sinnvoll zu reden“, zumindest, was damit einem Psychologen gesagt sein sollte: 

Dieser hilfreiche Schlüssel zu einem Verstehen psychischer oder kultureller Phänomene, wie man ihn in Bildern in der Hand zu haben meint, ist genauso, ist nicht anders problematisch als wie es die Bilder in Bezug auf das, was sie zeigen, immer schon waren.

Ich gebe aber gern zu, beim Erklären der Welt kommt man ohne sie genauso wenig aus wie im Leben.  – Dies final Ihnen zum Trost – und für Ihre Geduld dankend.

[Applaus]

Maria Ugarova: Ja, vielen Dank auch an Sie, Herr Heubach. Ich würde jetzt trotz später Stunde gern noch die Möglichkeit geben auch wieder so ein bis zwei Wortmeldungen zumindest zuzulassen, falls Sie nicht schon halb entschlummert sind in ihren Sitzen. Sie sehen noch nicht so aus, deswegen habe ich noch die Hoffnung, dass wir auch trotz der späten Stunde vielleicht noch kurz in Diskussion kommen oder Sie vielleicht noch kurz Gedanken teilen möchten oder Fragen – vielleicht auch von zuhause, es gibt immer noch die Möglichkeit in den Chat zu schreiben – es ist also noch Gelegenheit dafür.

(Da die Fragen aus dem Publikum aufgrund technischer Probleme ihrer Aufzeichnung nicht im Transskript der Veranstaltung wiedergegeben konnten, sieht der Vortragende von der Wiedergabe seiner Antworten ab.)

Artikel und Beiträge von Friedrich Heubach in Zwischenschritte

  • Zur Psychologie von Abbildungsverhältnissen: Das Video-System

Die verinnerlichte Abbildung oder: Das Subjekt als Bildträger (1/85)

  • Zur ‘Wirklichkeit’ psychologischer Erklärungen (1/87)
  • Das bedingte Leben

Zur psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge (2/87)

  • Das Konstrukt ‘Kreativität’ oder: Ein Ideal aus der Kartoffelkiste (1/88)
  • Wirklichkeit als Bedürfnis

Das Thema ‘Simulation‘ in psychologischer Perspektive (1/89)

  • „Die Unzugänglichkeit der gemütlichen Dämpfung“ (Zur Psychologie des ‘Ausdrucks‘)(1/90)
  • Der Alltag als Kunststück

Zur Artistik des gewöhnlichen Lebens (2/93)

  • Virtuelle Realitäten und ordinäre Illusionen (2/95)
  • Der ‘Flipper‘-Automat oder Der Lauf der Dinge

Analyse eines gegenständlichen Weltmodells (1/98)

  • Roboter – Menschen – Automaten – und Talibane

Ansichten vom Schwinden gewisser Differenzen (2003)

  • Von dem Unerhörten in der Musik (2005)

Autor:in

Fritz Heubach Nach dem Studium der Psychologie an der Universität Köln wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut II (Lehrstuhl Salber); 1974 Promotion, 1984 Habilitation. 1985-1989 war Friedrich Heubach Professor für Psychologie an der Universität Köln, 1989-1992 an der Hochschule für Bildende Kunst Hamburg; 1992-2008 Lehrstuhl für Psychologie und Pädagogik an der Kunstakademie Düsseldorf. Gründer und Herausgeber der Kunst-Zeitschrift „Interfunktionen“. Zahlreiche Veröffentlichungen hauptsächlich in den Bereichen: Bildende Kunst, Wahrnehmungspsychologie, Bild-Theorie, Pathologie des Alltagslebens.

Kontakt: heubach.fritz@gmail.com

 

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