Frank G. J. A. Grootaers geb. 1943 in Leuven (Belgien). Er war als Musiktherapeut tätig. Sein Denken im Kontext von Kunst, Psychologie, Behandlung und Philosophie ist nicht nur geprägt von der Morphologischen Psychologie Wilhelm Salbers, sondern ebenso von Maurice Merleau-Ponty, Edmund Husserl, Alfred Lorenzer und Bernhard Waldenfels. Er war Mitbegründer der Forschungsgruppe und des Instituts für Musiktherapie und Morphologie sowie Begründer des Ateliers für Kulturmorphologie und ist Mitglied in der Wilhelm Salber Gesellschaft (WSG).
Einübung als Wirkung bedeutet praktische Aneignung fremder Gedanken und Einstellungen und zugleich vorübergehende Ablösung bzw. Umbildung von Gewohntem.
In der Tat will dieser Essay als Falldarstellung einüben in zweierlei Richtung: einmal ist eine morphologisch orientierte Gruppenanalyse zunächst für die Gruppenteilnehmer eine Aneignung ungewohnter Tätigkeitsfelder im Spiel und im Sprechen. Zugleich aber will mein Essay einführen in das Denk- und Fragesystem der inzwischen weit etablierten morphologischen Psychologie.
Fahrradfahren ist anders als Zufußgehen, einmal gut eingeübt läuft es wie von selbst. Allerdings nähert sich die morphologische Psychologie den Phänomenen in methodischen kleinen Zwischenschritten.
Einübung in ein ungewohntes Behandlungsverfahren (Gruppenanalyse) ist für Patienten und Patientinnen, die in derselben Klinik anderes kennengelernt haben, eine riskante Möglichkeit, sich den Problemen, die Anlass zum Klinikaufenthalt waren, auf ganz andere Weise anzunähern.
Nicht weniger riskant ist das morphologische Denkgerüst und seine anders zentrierten Behandlungsverfahren als Chance, die gewohnten Mainstream-Methoden vorübergehend liegenzulassen und sich vorzuwagen in weniger bekannte Praxisfelder mit ihren immanenten Fragestellungen.
Es gerät allzu oft in Vergessenheit, dass die Gestalttheoretiker (Christian von Ehrenfels, Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Karl Duncker, Friedrich Sander, Wolfgang Metzger) ein Konzept von Gestalt und Ganzheit ins psychologische Denkgeschäft entworfen und ein Leben lang ausgeführt haben, ein Konzept, das die bisherige Psychologie überhaupt auf einen anderen Weg gebracht hat.
Ein Beispiel:
Die Idee einer übersummativen Ganzheit betrachtet einen Wald als Ganzheit, sozusagen als Lebewesen im Wandel. Diese Ganzheit wird qualifiziert als mehr und anders als ein summatives Nebeneinander von Pflanzen und Tieren. Ein Wald so besehen ist eine Komplexgestalt, die auf geheim intelligente Weise sich selbst organisiert und am Leben erhält oder wegstirbt.
Wälder sind intelligente Wesen. Wir müssen nur dieser geheimnisvollen Betriebsamkeit zu folgen verstehen.
Analog dazu sagen wir, morphologisch: eine Gruppe und ihre Analyse ist mehr und anders als eine Abfolge disparater Ereignisse. Sie ist, so man will, ebenfalls ein seelisches Lebewesen in Veränderung. Als Gestaltkomplex bildet sie, vor jeglicher Reflexion, in sich (immanent) ein System in Verwandlung aus (lat.: complexio: Umschlingung, Umfassung).
Dieses System, vorsprachlich wirksam, wird zusammengehalten von einem unsichtbaren kategorialen Ordnungsträger, der sich seinerseits auslebt in apersonalen Wirkfaktoren (Aneignung-Umbildung, Einwirkung-Anordnung, Ausbreitung-Ausrüstung).
Um den Blick auf das Ganze zu wahren fungieren diese Faktoren (im Kopf des Behandlers) als ein Axiometer. Die Wirkfaktoren als zusammenwirkende Einheit (ein Indem) führen die Behandlung und die Auslegungen des Behandlers. Man möge den Blick auf das Ganze dieser Wirkmächte nicht aus dem Auge verlieren inmitten der vielen Nichtigkeiten der Spiel- und Erzählereignisse (den Wald vor lauter Bäumen nicht aus dem Blick verlieren). Wie bei Goethe halten wir fest an dem Diktum „was die Welt im Innersten zusammenhält…“ und folgen den Drehungen und Wendungen der Gruppengestalt als deren psychologischem Inhalt; als Thema schlechthin. Das ist anders als in den Mainstream-Verfahren.
Das einzelne Ereignis sowie der Einzelne in der Gruppe gewinnt seine wirksame Bedeutung im Lichte der ganzen Drehung, während umgekehrt die Ganzheit sich herleitet aus dem Zusammenwirken der einzelnen Ereignisse und der einzelnen Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Der Behandler selbst hat auf seine andere Weise teil (Teilhabe) an dieser fundamentalen Bewegung.
Und damit sind wir unversehens bei Heraklits Diktum angelangt: „Aus Allem eins und aus Einem alles“. (Ek panton hèn kai ex hènos panta. Heraklit DK 22B10)
Meine morphologische Übersetzung: Aus einer Allheit geht die Einzelheit hervor, aus der Einzelheit leiten wir die Allheit ab.
Nun aber zu der empirischen Gruppenanalyse, wie sie von mir (im Jahre 2018) durchgeführt und auf Tonträgern dokumentiert wurde. Dabei handelt es sich um vier Sitzungen, jeweils 90 Minuten, in Folge, an der Tagesklinik für Psychosomatik und Psychotherapie in Bad Honnef. Die damalige Gruppe rekrutierte sich aus Männern und Frauen im Alter zwischen 28 und 50 Jahren. Über die weiteren Explikationen meiner Arbeitsweise verweise ich auf meine ausführliche Publikation: Grootaers, F. G. (2023): Gruppenanalyse aus kulturmorphologischer Sicht. Das andere Konzept. Wiesbaden. 15-23.
In meiner Arbeitsweise werden zwei unterschiedliche Materialien zur Anwendung gebracht.
Zu 1. Die musikalischen Spielexperimente finden jeweils zu Beginn jeder Sitzung statt. Das Spiel nimmt seinen Anfang beim Zugriff auf die zur Verfügung stehenden Instrumente ohne weitere Hinweise seitens des Behandlers, als Experiment. Diese vorprädikative Tätigkeit wird auf Tonband aufgezeichnet. Das Anhören vom Tonband der vollzogenen Klangproduktion geht den Fragen nach: Welche Eindrücke hinterlässt die Produktion nach dem Hören? Gab es Ereignisse während des Spielens, die Sie nachträglich noch beschäftigen? Diese Beschreibungen aller Teilnehmer und des Behandlers zeigen eine erste Sinnrichtung der Wirkungseinheit der Gruppe als Ganzes an. Dieses Experimentieren ist ein Verfahren, das der aktiven Musiktherapie entlehnt wurde (leicht verändert).
Zu 2. Die unverzichtbare zweite psychologische Veranstaltung in derselben Sitzung besteht darin, sich Alltagsepisoden einfallen zu lassen (lass‘ Dir was einfallen!), dazu gehören selbstredend einfallende Traumerinnerungen. Das Zuwarten auf Einfälle dieser Art bedeutet eine ungewohnte Art des Schweigens. Das Merken von Einfällen aus dem gelebten Alltag (von heute, von gestern oder von damals) führt dann zu einem riskanten Erzählen vor der Gruppe (Publikmachung).
Die zuhörende Gruppe wird aufgefordert, bekannt zu geben, welche Elemente der fremden Erzählung von jemand anderem bei ihr besonderes Interesse geweckt habe. In der Bekundung der eigenen Interessen an der Erzählung eines anderen, d. h. einer Erzählung, die nicht die eigene ist, bindet die Gruppe an eben jene Erzählung und wird auf diese ungewohnte Weise Teil der Wirkungseinheit als ein Ganzes (Aneignung und zugleich Metabolismus).
Die Sinnrichtung der Klangproduktion und die disparate Interessenslage an der aktuellen Erzählung geben dem Behandler das Geleit für eine am Schluss jeder Sitzung (schriftlich fixierte) Mitteilung eines Tagesspiegels: d. h. eine in mehreren Schritten dargestellte und mitgeteilte Auslegung der aktuellen Wirkungseinheit.
Die Gruppe erfährt darin, in allgemeiner Sprache, die verschiedenen Drehungen und Wendungen der Gruppenganzheit, wie sie zunächst, wenig bewusst, ins Helle gerückt wird. Die beschreibenden Momente dienen den Zwischenschritten einer notwendigen Auslegung, d. h. die zur Sprache geförderte Auslegung ist nicht auf einen Schlag da, sondern kommt peu à peu zur Sprache. Diese Bewegungen und Drehungen sind der eigentliche psychologische Inhalt der Analyse. Die Klangexperimente, die einfallenden Alltagsepisoden bzw. erinnerten Traumtexte pointieren so eine gelebte Intimität (es wird persönlich!) inmitten der bestehenden Kulturverhältnisse und rühren für jeden in der Gruppe an die (gestörten) Teilhaberverhältnisse in seiner Lebenswelt daheim. So die Hypothese.
Beide geschilderten Tätigkeitsfelder – Spielexperiment, erzählte Einfälle – sind psychische Gegenstände. Sie sind entschieden psychologisch, weil sie methodisch ausgelegt werden. In ihnen kommt eine Gesamtschau der Geschehnisse in und mit der Gruppe zum Ausdruck (Aneignung). Diese beiden Gegenstände sind aktuelle fabrizierte Ereignisse. (vgl. Salber, W. Der psychische Gegenstand. 1959, erw. Aufl. Bonn 19754.)
In musiktherapeutischen Kreisen spricht man gemeinhin von Improvisieren, um damit die musikalische Tätigkeit der Klientel in den Therapien zu bezeichnen. Sicherlich trifft dies zu auf die mitspielenden Therapeuten, die sich in ihren Ausbildungen tatsächlich das musikalische Improvisieren angeeignet haben. Die Therapieklientel ist in dieser Tätigkeit meistens unkundig oder ungeübt, zumal in psychosomatischen Einrichtungen. Die Patienten können in der Regel nicht spielen, im doppelten Sinne des Wortes.
Ich spreche daher lieber von musikalischem Experimentieren, wenn es um das Produzieren von Klängen und Geräuschen der Gruppenteilnehmer geht.
Die mittlere Silbe des Verbs – peri – (Experimentieren) leitet sich ab vom gr.: peiran und bedeutet: danach trachten, eine Unternehmung wagen. Dieses Wort ist verwandt mit dem Wort empeiria: Erfahrung, mhd.: ervarn: reisen, durchfahren, dt.: Empirie: im Wagnis stehen, lat.: experimentum: dt.: Versuch, Probe.
Mit Experimentieren ist immer ein Risiko verbunden (lat.: resecare: wörtl.: abstechen, d. h. vom bekannten Ufer ins Offene stechen) Hölderlins: „Komm! Ins Offene, Freund!“
In der Gruppenanalyse wird daher wiederholt von „Probieren“ gesprochen. Das zur Verfügung gestellte Instrumentarium lädt zum Probieren ein, d. h., etwas kann getan werden, das riskant ist, aber nicht gefährlich.
Dieses Probieren beruht auf einer freiwilligen Verpflichtung zu einer Tätigkeit, die außerhalb der mitgebrachten Gewohnheit zu liegen scheint, und führt bei seiner Ausübung sowohl zu Attraktionen wie zu Repulsionen (Abstoßungen). Allein schon der bange, neugierige Blick aufs Instrumentarium weckt erste Probierhandlungen. Schon dieser Anblick mobilisiert die ganze Wirkungseinheit, den ganzen Seelenapparat, wie Freud ihn nannte.
Dieses außergewöhnliche Tun rückt somit vom Rand in die Mitte der Erfahrbarkeit. Auch das ist methodisch beabsichtigt.
Nota: „So komm! daß wir das Offene schauen,
Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist. …
Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann.“
In: Safranski, R. (2019): Hölderlin. München. 214
Nach dem Anhören der Tonbandaufzeichnungen werden folgende Beschreibungen und Kommentare mitgeteilt: „Die Klangspielereien bewegen sich in einer Polarität zwischen harmonisch spielen wollen und Harmonie zerstören wollen.“
Wobei Harmonie hier gemeint ist als wohlklingend. Das Zerstörenwollen bedeutet konkret: Hauptsache laut sein, Hauptsache auf den Gong und das Becken. Harmonisierungsversuche greifen zurück auf „Alle meine Entchen“. Diese Versuche werden jäh übertönt. Die Harmonisierung sucht sich ein stilles Plätzchen, wobei die anderen drum herum ausgeschaltet werden.
Eine weitere Position im Experiment wird betont mit den Worten: „Ich habe mich nicht gehört, bin im Lärm untergegangen (mit dem Zusatz) ich war aber dabei, habe mich aber zurückgehalten.“
Eine weitere Beschreibung betont: das ist alles nicht vorhersehbar, das geht immer von da nach da, hin und her. In dieser Beschreibung wird der Ruf nach Außenorientierung spürbar. Diese Außenorientierung scheint aber nicht zu kommen, auch nicht vom Therapeuten, der ordnend hätte eingreifen können. Auch er spielt hin und her mit, mal laut, mal harmonisierend.
Die seelische Formenbildung spielt sich ab (wörtlich) in dem spielenden Umgang mit den gewählten Klangerzeugern. Die Formenbildung ist eine Gestaltbildung, die nicht auf eine „Innerlichkeit“ gründet, sondern sich in einem unvorhersehbaren unsichtbaren aber akustisch hörbaren Dazwischen ereignet. Die Formenbildung ist weder einem Fühlen, Wollen oder gar Denken geschuldet. Die Klangproduktion wird grundsätzlich aufgefasst als ein tätiges Antwortgeschehen. Die Gruppe antwortet (in einem erweiterten Sinne) auf die für sie ungewohnte fremde Installation des Vorfindlichen.
Übrigens: Alle psychologisierenden Veranstaltungen dieser Klinik sind für die Klientel ungewohnt, fremd und außerordentlich. Ihnen wird mit Neugierde und Bangnis begegnet. Diese beiden Verfassungen sollte man respektieren (gelten lassen) und weder bestätigen noch beschwichtigen. Darin obwaltet eine gewisse Zumutung an die bürgerlichen Gewohnheiten der Teilnehmer. Auch diese Zumutung darf man getrost der Klinikklientel zukommen lassen.
Das freiwillige Verpflichtet-Sein zu solchen psychologisierenden Veranstaltungen löst suchende, aber noch zu findende tätige Antworten aus. Das Angesprochen-Werden, der Appell der Veranstaltung als Vorgegebenes, aber nicht Vorgeschriebenes ist der Klinikklientel immer zuvor, hat etwas von einem Überkommnis, einem Widerfahrnis. Darin steckt konstruktive Überraschung, d. h. die ganze seelische Konstruktion gerät dabei in eine unbekannte produktive Unruhe. Nur so, in dieser vorübergehenden Verunsicherung, lässt sich anderes wieder bewegen. Hier liegen die psychologischen Ressourcen, von denen so viel die Rede ist, und warten auf Ausbeute (Nutzbarmachen).
(Wörtliche Mitteilungen des Gruppenleiters)
„In dem ganzen Klangexperiment suchen Sie spielenderweise eine Antwort auf diese außergewöhnliche Situation. Eine am Rande Ihrer Normalisierungen von fremder Hand zur Verfügung gestellte Anomalie (Abweichung vom Normalen). Sie finden an den Instrumenten Ihren Platz, emotional bewegen Sie sich zwischen Neugierde und Bangnis. Diese Bewegtheiten bedeuten die Triebfeder für Ihre Antworten. Und wie Sie hören konnten, gibt es gleichzeitig ungleichartige (disparate) Antworten, keine Gleichmacherei. Das andere Spiel, das Spiel der anderen, wirkt mit. Multikulturell.
Weiter: Sie produzieren ein Nicht-zuviel-auf-einmal als emotionale Installation. Sie erinnern sich, da war auch ein Klopfen, wie Anklopfen, um Einlass zu finden.
Jemand betonte „bitte nicht vorpreschen“, als ob sich tatsächlich ein Vorpreschen anzukündigen beginnt. Auch die Bemerkung „es war relativ ruhig“ scheint eine Unruhe anzukündigen. Was steht an? Im „bitte nicht zu viel auf einmal“ wittern Sie schon ein Viel, Vielmehr an Möglichkeiten. Das bezieht sich auch auf Ihre momentanen Lebensläufe. Im Experiment treiben Sie Ihre Versuche voran, das Probieren selbst treibt Sie an.
Dies zeigt sich auch darin, dass das Stück nicht mit einem klaren Schlussstrich beendet wird. Sie setzen ein offenes Ende. Auch das ist Produktion. Wo also will die ganze Produktion mit Ihnen hin? Die Produktion scheint ein Eigenleben zu führen. Sie werden nolens volens mit hineingezogen in fremde Bereiche. Das was jenseits von „Alle meine Entchen“ anklingt, erscheint nunmehr besonders attraktiv, wenngleich bang erwartet. Der Seelenbetrieb, der entsteht, wenn Sie probieren, ist ein nicht eindeutiger Seelenbetrieb, er geht hin und her. Das beschäftigt Sie und zieht Sie in den Bann. Auf Wiedersehen bis Mittwoch.“
(2 Tage später)
Man fängt diesmal anders an: man experimentiert zum Teil an anderen Instrumenten, nimmt einen anderen Sitzplatz ein (geänderte Anordnung). Dieses Anders-Probieren ist nicht zu denken ohne Bezug zur ersten Sitzung. Aber auch hier gilt es unterschiedliche Positionierungen auseinander zu halten.
Jemand sagt: „Das war sehr dominant, impertinent im Ohr.“ (Einwirkung). Impertinent heißt dreiste Ungehörigkeit. Oder meinte der Spieler: penetrant im Sinne von aufgezwungen? „Nicht dass jemand in Ohnmacht fällt!“
„Das Instrument von S., das war nervend, klang wie eine Säge.“ (Aneignungsproblem).
Auch die unterschiedlichen Klöppel wurden ausprobiert.
Die mit Buchstaben markierten Tonstäbe wurden probiert. „Habe dann doch lieber ‚Alle meine Entchen‘ probiert, wie in der ersten Sitzung.“ (Rückgriff auf Erprobtes).
„Die nervenden Sägetöne und all das Klopfen, das passte gut zusammen.“ (Umbildung).
Eine andere Einheitlichkeit kommt ins Werk.
„Diese Instrumente sprechen mich an, wecken Neugierde.“ (Ausbreitung).
„Hatte ein bisschen schlechtes Gewissen beim lauten Aufschlagen.“ Es war ein Gong, der auch in der ersten Sitzung zur Verfügung stand, aber nicht in Anspruch genommen wurde. Der Gong bringt neue Impulse herein.
Alles weist darauf hin, dass man vorankommen möchte. Das verweist auf ein Veränderungsdrängen in ihrer jetzigen Lebensführung. In der ersten Sitzung hieß es an einer Stelle: „Ich war da, aber habe mich selbst nicht gehört.“ Diese Aussage lässt sich übertragen auf die Lebensführung allgemein.
Die 2. Sitzung bietet nun die Gelegenheit, eine Einführung in das zweite psychologische Verfahren anzugehen: das Erzählen von einfallenden Alltagsbegebenheiten. Das stellt die Möglichkeiten des Erzählens unter eine einschränkende Bedingung. Zuwarten auf Einfälle ist eine für viele Menschen ungewohnte Denktätigkeit. Es tritt zunächst ein spannungsreiches Schweigen ein (Aneignung). Wir können das Schweigen brechen, Tiere können nicht schweigen, weil sie nichts sagen können. Das vorherige Klangexperiment ist wohl ein Spektakel von bedeutungsaufgeladenen Spielgesten, aber es ist genuin stumm, kann ebenfalls nichts sagen. Es hat aber tierische Züge und zeigt stumme Tanzanwandlungen. (Vorprädikative Ausdrucksbildung).
Durch das Zuwarten auf Einfallendes in der aktuellen Gruppensituation wird die gelebte, gewohnte Alltäglichkeit brisant: d. h. erregend aktuell und individuell persönlich. Es geht ans Eingemachte, wie man so sagt (Einübung). Und man muss das Schweigen brechen (Können). Dies ist, anders als im Klangexperiment, ebenfalls riskant, da keiner weiß, wohin man als Erzähler oder als zuhörende Gruppe gerät. Auch der Therapeut steht vor ungeahnten Überraschungen. Er wartet ebenfalls zu und hütet sich, mehr oder weniger gespannt-entspannt, dieses Brüten zu stören (Aneignung). Zuwarten (Freud) bedeutet eine andere Tätigkeit als Erwarten.
Nach minutenlangem Zuwarten platzt eine jüngere Teilnehmerin, nervös lachend, herein, mit einer aktuellen Traumerinnerung. Sie schränkt ein, weil unsicher, dass dieser Traum wohl unwesentlich sei. Das Gegenteil scheint aber der Fall zu sein.
„Eine Patientin, die auch in meiner Gruppe war, saß in einem Aufenthaltsraum auf meinem Platz, dann kam A. und dann noch mit einer neuen Frisur. Beide saßen mir gegenüber. Die N. war total glücklich in diesem Zimmer, mit so kurzen Haaren, und auch mit einer anderen Farbe. Die A. hatte auch die Haare geschnitten bekommen, einen furchtbaren Schnitt, gefiel ihr nicht, und auch den anderen gefiel er nicht. Beide Seiten hatte sie abrasiert bekommen, nur obendrauf war noch ein Kreis [lange Haare] übrig geblieben.“
Anmerkung: Die ganze Zeit, in der die junge Teilnehmerin erzählte, wurde in der Zuhörergruppe gegackert und gekichert, wie es Teenager tun, wenn es um bestimmte Dinge geht, die man erstmal so miteinander austauscht.
Der nächste Behandlungsschritt besteht nun darin, den erzählten Traumtext als ein Drehbuch eines noch unverstandenen Ereignisses aufzufassen. Die Gruppe wird aufgefordert (es wird die Möglichkeit gegeben), die Frage zu beantworten: „Welche Szene, welche Begebenheit im Traumtext hat Ihr Interesse geweckt?“ (Zu eigen machen) Auch hier eine methodische Einschränkung der unendlichen Antwortmöglichkeiten. Keine sogenannten freien Assoziationen, sondern bevorzugt werden die Interessensmomente der Zuhörenden, unabhängig von der Person, die erzählt. Der Erzähltext bleibt so Eigentum der Erzählerin, aber wird durch das Hervorheben der Interessensmomente der Zuhörenden von diesen mitangeeignet.
Die Hypothese lautet: Was eine einzelne Person als Einfall in der Gruppe erzählt geht hervor aus dem seelischen Kontext der Gruppe (Wirkungsganzheit). Die Auslegungsrichtung orientiert sich hauptsächlich an den geäußerten Interessen der Zuhörenden. Auch darin ist eine Einschränkung der unendlichen anderen Möglichkeiten beabsichtigt und damit ist zugleich eine Richtungsanweisung für die Auslegung des Therapeuten gegeben. Der Therapeut hält sich an diese Einschränkung. D. h. die Auslegung hebt im Text eines Einzelnen die psychische Gesamtlage der Gruppe hervor (Rückführung zur Ganzheit). (vgl. Grootaers, F. G., (2013): Gruppenanalyse aus kulturmorphologischer Sicht, Wiesbaden. Intermezzo 7, 95 ff.)
„Was mir bei den kurzgeschnittenen Haaren nicht gefällt: etwas wird ordentlich gemacht, statt langer Haare.“
„Dieses Gegenübersitzen: man sitzt den eigenen Bewertungen gegenüber. Die Veranstaltungen der Klinik, wie bewerte ich die?“
„Diese Beratungssituation hier, welche der Klinikaufenthalt Ihnen zumutete – Sie finden es eigentlich nicht gut? Etwas widerstrebt sich Ihren Gewohnheiten. Die Gruppe bewegt sich auf Bewertungen zu, scheint es aber gewohnt zu sein, alle Aussagen für gleichwertig zu halten. Das Bewerten-Müssen bringt diese Gewohnheit ins Wanken, dadurch treten bislang ungenutzte Möglichkeiten in der eigenen Lebensführung in den Vordergrund (Profilierung).“
„Ist die Frisur nicht auch ein Sinnbild für seelische Veränderung?“
„Seelische Veränderungen bergen ein Risiko in sich.“
„In den Märchen gibt es Haare: bei Rapunzel sind es die Zöpfe als Zugangsleiter zur Veränderung. Dann gibt es die Entdeckung von goldenen Haaren, das Gold daran will gesehen werden; einmal ent-deckt gibt es kein Zurück in die gewohnte Gleichmacherei.“
„Die Träumerin riskiert eine Erzählung. Damit zeigt sie etwas von sich. Aber die ganze Gruppe interessiert sich für diesen Ihren Traum. Diese konkrete Erzählung rührt an ein Veränderungsdrängen, das alle in der Gruppe beschäftigt. So die Hypothese. (Ausbreitung).
Beim Frisieren (kunstvoll herrichten, anders hervortreten lassen) bleibt, so der Traumtext, ein Stückchen Wildwuchs erhalten. D. h. etwas, was noch nicht in einer strengen Ordnung eingefasst ist, ein Fragment wilden Seins, würde Merleau-Ponty sagen. Der Zuschnitt, das Zurechtschneiden, statt anpassen oder passend-machen, sich den gegebenen Umständen anpassen?“
„Bei vielen Menschen ist doch alles total geordnet (Empörung)!“
„Eine vorübergehende kreative Unordnung, das ermüdet mich!“
„Aber dies ist doch auch eine schweigende, müde gewordene Antwort auf die veränderte Lage der Gruppe als Ganzes, nicht wahr?“
„Ich muss sagen, der ganze Vorgang hat mich irritiert.“
„Verunsicherung des Gewohnten als Produktion von gewagte Übergangserfahrungen (Umbildung).“
Der sogenannte Tagesspiegel enthält weitere psychologisierende Explikationen der ungewohnten Handlungsweisen: Klangexperiment und Traumerzählung. Einige in der Gruppe machen sich Notizen.
„Im Klangexperiment kommt eine nicht langweilige Unordnung zum Ausdruck. Nicht langweilig, weil Interesse weckend und Müdigkeit und Irritation mit sich bringend. Unordnung verstanden als Anordnung von disparaten Klanggesten. Diese fabrizierte (verfertigte) Unordnung trachtet danach, die Installation der verfügbaren Mittel einmal anders anzugehen. Es liegt nicht ganz in unserem Belieben, keine Anordnungen herzustellen. Eine solche Kultivierungsmühe obliegt den Tieren und Pflanzen offensichtlich nicht. Diese sind bereits „in Ordnung“ (instinktiv oder photosynthetisch). Wir werden hineingeboren in einen wilden laufenden Seelenbetrieb hinein (anthropologisch gesprochen). Die darin mitlaufende fremde Ordnung gibt uns mit deren Hilfe die einmalige Möglichkeit, eine eigene einmalige Selbstordnung zu erlangen (Menschwerdung von Anfang an).
Wenn Sie eine solche psychologische Veranstaltung in Anspruch nehmen, d. h. wenn Sie sich freiwillig-unwillig dazu verpflichtet haben und sich darin engagieren (Ihre Zusage zusichern), geraten nolens volens Ihre selbstverständlichen Handlungsgewohnheiten, in Ihrem Alltag zu Hause, bei der Arbeit, in eine Veränderung und geraten so in eine Weiterführung (aus einer Starre hinaus).
Sie ergreifen, zunächst zögernd, ein Instrument, ein anderes und finden Ihren Platz im Raum. Das bedeutet: Sie experimentieren mit dem ganzen Handlungsspielraum, der Ihnen im eigentlichen Sinne zukommt. Und nur von einem auf diese eigentümliche, einmalige und entschiedene Weise in Anspruch genommenen Spielraum fangen Sie an, die Dinge, Ereignisse, Umstände und Angelegenheiten, mit denen Sie beim Experimentieren in Berührung kommen, zu bewerten und zu beurteilen. Das ist für Menschen eine wesentliche Voraussetzung, sich einigermaßen zurechtzufinden mit der vorfindlichen Wirklichkeit. Diese Berührungen mit anderen und anderem probieren Sie aus – spielenderweise. Auch indem Sie etwas Einfallendes erzählen, kommen Sie voran in Ihren eigentlichen Anliegen. Das alles ist nicht ohne Risiko zu haben (lat.: resecare: sich vom Ufer entfernen)
Es war die Rede von Antworten. D. h. Antwort finden auf die Zumutungen einer vorfindlichen, von fremder Hand angebotenen Situation. Sie antworten noch bevor Sie ein Wort gesagt haben. Auch also Ausprobieren von Antwortmöglichkeiten, denn die Antworten sind nicht schon vorweg gegeben. Auch hier sind wir in der notwendigen Lage, Antworten zu erfinden. Darin liegt paradoxerweise Freiheit. Die Lebenswelt als solche spricht Sie an, so wie Schaufenster in einer Fußgängerzone. Die Lebenswelt, in die wir hineingeboren werden, hält für jeden von uns ein Versprechen bereit. Das kommt in einem einfallenden Traum zum Ausdruck. Im Bild von Frisuren wird das Ausmaß von versprechenden Behandlungsformen austariert: Wilde Haare, goldene, Abrasur, umfrisieren, kunstvoll herrichten.
Im Traumbild einer Gegenüberstellung („sie saß mir gegenüber“) gewahren Sie, dass die unterschiedlichen Behandlungsformen, welche diese Klinik Ihnen anbietet, Sie in eine Drehung (um 180 Grad) überführen. Das bringt Entschiedenheit für Ja oder Nein mit sich. In diesen Behandlungsformen wird der Glanz anderer Umgangsformen mit Alltäglichkeiten spürbar. Etwas von diesem Glanz wird ohne viel Willensanstrengung, eher beiläufig, sichtbar, auch für die anderen. Das ist mit Frisieren gemeint: in eine Drehung geraten, die neues Licht in Ihre Lebenssache bringt. Und noch ein letztes: die Erzählung einer einzelnen wird durch die Interessensbekundungen der Zuhörenden zum Anhalt für die Belange aller. So geht diese Gruppenanalyse. Bis nächste Woche!“
„Sollte man die Türchen aufmachen, die Klänge fließen lassen? So wie sie kommen und drängen? (Zaudern als Vorgestalt einer Aneignung). Sollte man seiner Neugierde nachgeben?“
„Etwas kommt auf die Gruppe zu, eine ungewohnte Richtungsbestimmung scheint diese Sitzung zu beschäftigen. Ein Trommelwirbel rüttelt und schüttelt die Produktion. Ein wildes Etwas drängt auf Ausdruck (Verwandlungsdrängen).“
„Jemand vergleicht den Vorgang mit dem Heranrücken von Napoleons Truppen. Soldaten, ein schwarzes Pferd (sic!). Das hat etwas Invasives, aber man bemerkt zugleich, dass man selbst es ist, der auf eine Art Eroberung aus ist (Aneignung).“
„Am Schluss klingt alles wieder ab, als würde eine altbekannte Bangnis sich zugleich mit dem Vorpreschen mit ins Werk setzen (Abklang als Ausbreitungsproblem).“
Einer Frau in der Gruppe fällt folgende Begebenheit ein:
„In der letzten Woche kam ich abends nach Hause, im Briefkasten guckt ein dicker Umschlag heraus, hab den Kasten mit einem Schlüssel aufgemacht, aber der Umschlag steckt darin richtig fest. Es gab kein Vor noch Zurück. Dabei riss der Umschlag schon überall auf. Meine Schwester hat ihn beschriftet. Es kam von meinem fünfjährigen Neffen. Durch die Risse fielen schon Teile heraus, nach innen in den Briefkasten. Vorsichtig nahm ich den Umschlag heraus. Die Einzelteile waren nochmal in Knallfolie eingewickelt. Es war ein Urlaubspäckchen. Ich habe alles ausgepackt, habe versucht, meinen Neffen anzurufen. Er hat mich zurückgerufen, ich war aber gerade im Keller des Hauses. Auf der Treppe begegnete ich dann leider meinem Exfreund, er wollte mir etwas erzählen, was mich aber nicht interessiert hat. Er hat dadurch verhindert (Vorwurf!), den wichtigen Anruf zu bekommen. Als ich mich bei meiner Schwester bedankte, fügte sie noch hinzu, dass mein Neffe die Päckchen so gut zugeklebt habe, damit der Briefträger nichts daraus klauen sollte (!). Seinen späteren Anruf habe ich auf meine Sprachbox übertragen, um seine Stimme immer wieder anhören zu können.“
Anmerkung:
Die Erzählerin hat nach längerem Hin und Her natürlich auch „verraten“, was alles in den verschiedenen Päckchen drin war. Die Zuhörer hatten auch ungeduldig, so schien mir, auf diese Enthüllung gewartet: ein Feuerstein, Hexensenf, Hexenohrringe aus dem Urlaubsort.
Anmerkung zur Methode: In dieser Rubrik werden die Zuhörer aufgefordert, jene Momente, welche ihr Interesse geweckt hatten, nun explizit zu äußern. Dadurch entsteht eine entschiedene Aneignung und Anbindung der anderen an eine Erzählung, die auf den ersten Blick nicht die eigene Story ist, aber psychologisch aus der „fremden“ Erzählung hervorgeht. Das bedeutet eine methodisch beabsichtigte Einschränkung. Die Seelenkultur der anderen nimmt Anteil an der individuellen Kultur eines einzelnen anderen. Wird das gehen? Es funktioniert tatsächlich.
„Da ist die Wut auf einen anderen, weil sie fest der Meinung war, dass der andere sie daran gehindert habe, mit ihrem geliebten Neffen direkt sprechen zu können.“
Sie wurde von etwas anderem oder von jemand anderem aufgehalten. Der Grund für die eigene Sprechbehinderung in dieser Gruppensituation liegt vermutlich bei den anderen, bei deren Anderssein. In diese Hypothese passt auch ein fremder Briefträger, der klauen könnte, als Symbol für das Fremde in der eigenen Erfahrung. Diese Hypothese habe ich für mich behalten, da es zunächst darum ging, die anderen zu Wort kommen zu lassen, um auf diese Weise die Interessenslage und das Begehren der Gruppe als Ganzes in Erfahrung zu bringen. Es gibt also im Deutungsgang auch Momente einer silent interpretation. Darin liegt Gemeinsamkeit mit anderen analytischen Verfahren.
Es geht um den Austausch zwischen dem Eigenen und den Anderen. Die Anderen in der Gruppe mit ihren jeweils anderen Erzählungen verweisen indirekt auf das andere, Fremde, in der eigenen Erfahrung und das macht dadurch die Beratung zu einer Kulturveranstaltung, im erweiterten Sinne.
Die anderen bedeuten zugleich ein Hinderungsmoment als auch eine gute Gelegenheit (Chance), einmal mit unerkannten Zügen im eigenen Lebensentwurf in Berührung zu kommen.
Kurzum: Im Zuhören der fremden Erzählung (die gelebte Episode im Leben eines anderen) wird das Interesse an befremdlichen Vorkommnissen im eigenen Lebensstil geweckt und kann zur Sprache kommen, weil es darin gewahrt wurde (gewahren: erblicken).
Dieses Hinhören ist der erste Schritt, der es ermöglicht, in Anwesenheit der anderen darüber zu sprechen, was in dem eigenen Lebensentwurf mit der Zeit zum Problem geworden ist. So wird der eigene Erfahrungsbetrieb zum allgemeinen Kulturgut (vom Privaten ins Allgemeine überführt). Das Zuhören der anderen leiden-können ist Zugang zu allgemeinen Kulturverhältnissen.
„Sie hat gesehen, dass sie Post bekommen hat, eine Überraschung, aber noch ist das Päckchen ganz verschlossen.“
„Etwas kommt auf Sie zu. Das trifft auf alle Veranstaltungen dieser Klinik zu. Klinikaufenthalt ist ein Nicht-Urlaub, eine Reise in fremden Seelenlandschaften. Die Klinik als Ganzheit hält Überraschungen für Sie bereit. Dieses Etwas aber, was auf Sie zukommt, was Sie anfangen gewahr zu werden, klemmt irgendwie mächtig, als wäre es in alten Umständlichkeiten eingefangen. Es ist zugleich eine positive Überraschung und etwas, was Sie erschrecken könnte, also auch ein Problempäckchen, dessen Inhalt nicht einfach zu ergreifen nahe liegt. Es bedarf des Aufwandes, Zeit und Mühe, um erblicken zu können, was es ist.
Das Bild von der konservierenden ,Sprachbox‘ verweist darauf, dass die Klinikveranstaltungen insgesamt Ihnen die Möglichkeit eröffnen, etwas davon zur Sprache zu bringen. Die kleine Hexenwelt, von der die Rede war (Hexenohrringe), weist darauf hin, dass man seelische Ereignisse allgemein als eine verhexte Anordnung auffassen kann, von der wir verzaubert werden, dass unsere lebensweltlichen Verhältnisse, in die wir hineingeboren wurden, in einem 3×3 verzaubern. Darin kann man stecken bleiben, sich verirren, damit man nie zu erfahren bräuchte, welche wahre Begehren diese Ordnungen als Überraschung für uns bereithalten.“
Ein Spiegel, der mehr und anderes wiedergibt als ein getreues Spiegelbild. Ein Spieglein an der Wand, das anders antwortet. Beim Wiedereintritt in den Raum nach einer kurzen Pause fällt das Wort „Begeisterung“. Darin klingt etwas an von der erwähnten Verzauberung.
„Sie merken nun selbst, dass Sie heute als Gruppe in einer anderen Situation angekommen sind. Der Seelenprozess als Ereignis kann nicht stehenbleiben, dreht und wendet sich wie bei einem Zaubertrick, den wir nicht ganz in eigener Hand haben.
Im Klangexperiment heute tobt ein Wildes Sein, im Spielvollzug will etwas zum Ausdruck kommen, als ginge etwas aufs Ganze. Dieses Ausdrucksdrängen wird angefeuert durch eine Rassel. Etwas lässt Sie ohne viel Nachdenken danach greifen. Außerdem wechseln Sie mehrfach Ihren Platz im Raum, als wollten Sie einen Stellenwechsel von da nach da hinkriegen. Keine Veranstaltung dieser Klinik lässt Sie wirklich in Ruhe. Aufkommende Kopfschmerzen und Müdigkeitsanfälle führen nicht daran vorbei, vielmehr sind auch diese schon Antworten auf diese Unruhen. Es ist eine ungekannte produktive Unruhe als Selbstfabrikation, scheinbar von fremder Hand gesteuert.
Sie werden gewahr, dass in dieser Unruhe (Unruheverfassung) etwas auf Sie zukommt, ein Widerfahrnis, das Ihnen ganz und gar nicht zu passen scheint, als wäre es etwas, was Sie nicht leiden können, etwas Fremdes (Froschkönig), Ungefragtes („Tu mir das nicht an!“)
Im Experiment selbst kommt eine andere Allüre in Gang, eine andere Gangart. In einem kurz erwähnten Traumgedanken (Napoleons Truppen) erscheint ein schwarzes Pferd, in der eingefallenen Alltagsepisode erscheint ein Postpäckchen. Beim Zugriff auf diese Bilder klemmt etwas, d. h. die Handhabe selbst dieser Wirklichkeitsdinge bekommt einen Riss: Was Ihnen als Versprechen entgegen zu leuchten scheint, ist anziehend und zugleich Ängstlichkeit erzeugend. Sie merken, dass Sie nicht recht wissen können, wohin es Sie führt, wenn Sie sich von der Verzauberwirklichkeit berühren lassen. Die bange Frage, die Sie nicht ausdrücklich gestellt haben, lautet nun: Ist es schon an der Zeit, die lieb gehaltenen alten Gewohnheiten („mein Schatz“) einem Zauberruck auszusetzen?
Anders gewendet: Soll weiterhin anderes oder Fremdes Ihnen Ihre ungenutzten Möglichkeiten „klauen“?
In vielen Märchenbildern wird die freiwillige Annahme des eigenen Anders-Werdens im Bild eines Hochzeitsfestes dargestellt, d. h. übersetzt: sich auf anderes einlassen. An welcher Stelle in Ihrer Lebensführung ist dieses Anders-Werden angezeigt? Das ist eine weitere mit Aufregung verbundene Frage. Dass Ihnen in dieser Gruppenberatung Traumerinnerungen einfallen, gibt Ihnen bereits einen Vorgeschmack von einem Anders-Werden: Einen deutlich-mehrdeutigen Hinweis auf Platzwechsel, auf Um-stellung im Vollzug Ihrer Tagesläufe. Sie werden jetzt bewegt zwischen einem Vorankommen und einem Zurückschrecken. Dieses Hin und Her ist die Strategie Ihrer seelischen Regungen und der wahre Inhalt des Gruppengeschehens überhaupt. Auf Wiedersehen.“
„Wenn wir uns die ganze Klangproduktion noch einmal vom Tonband anhören, dann höre ich ein ganzes Stück, darin jedes Instrument, aber wenn ich selber mitspiele, wie vorhin, dann höre ich nur mich und das Klavier – egal, wo ich sitze, was ja merkwürdig ist, weil ja die anderen doch auch laut spielen (anderes spielt mit).
Das Klavier war bei uns zu Hause das einzig Angenehme, wenn mein Vater Klavier gespielt hat.“
„Das ist wohl eine alte Verbundenheit, die Sie von dort hierher übertragen?“
„Ich finde, dass es heute dramatisch (sic!) angefangen hat. Beim Tonband-nachhören fasse ich das Ganze anders auf.“
„Das Vater-am-Klavier-Bild, wie es in Ihrer vertrauten Umgebung erschien, gerät hier in der Gruppe zwischen viele andere laute Klangbilder. Das vertraute Bild gerät in eine Art Klangbrechung. Darin liegt Dramatik, denn hier ist kein angenehmes Zuhause.“
Theoretische Anmerkung: Von hier aus kann man das traditionelle Übertragungskonzept der Freud‘schen Psychologie als Gestaltbrechung auffassen. Eine schon erfahrene Bildkonstruktion erscheint und wirkt anders in der analytischen Situation zu zweit oder in der Gruppensituation anders als in der „originalen“ Situation damals.
„Wenn ich’s malen würde: eine dramatische Kurve in schwarz-rot, auch auf dem Klavier große Gesten: Rachmaninoff.“
„Auch hier schimmert eine Übertragung durch. Diesmal eine Abschattung eines nicht gelebten Wunsches: etwas Großes, prachtvoll Ausladendes. Das Klavier verwandelt sich beim Hinhören zu einem Klavierkonzert von R. (vermutlich das zweite).“
„Das Stück hatte ganz viel Kraft, aber irgendwann konnte ich diese hohen Töne dort nicht mehr ertragen. Das Blech (Becken) und dieser Gong da. Ich habe das linke Ohr zugehalten, schade, weil ich dann nicht mehr so frei sein konnte, wie ich wollte… Ich konnte nicht so teilnehmen, wie ich es gewollt hätte.“
„In diese Beschreibung überträgt sich ein Leidensbild und wie in der vorigen Mitteilung kündigt sich darin ein ersehntes Begehren an, nach veränderter Teilhabe am ganzen Alltagsbetrieb.“
„Ich bringe diese gestörte Teilhabe in eine Analogie zu Ihrem gelebten Alltag. So wie diese Teilhabe im Analysewerk durchschimmert, so ist sie auch aufzufinden in Ihrer sonstigen Lebenswelt daheim.
Unsere Teilhabe an der uns umgebenden Kultursituation birgt immer Anfälligkeit für Störungen in sich. Da liegen Probleme bereit. Auch die erwähnte harmonische Teilhabe am Klavierspiel eines Vaters im Kreis der Familie wird zum Problem, wenn diese Teilhabeform sich nicht verwandeln kann (bzw. darf).
Die Frage ist, wie Sie auf eine störungsanfällige Teilhabegewohnheit antworten, ob sie die problematische Gewohnheit in eine andere Richtung weiterführen können (Verwandlung), oder ob Sie z. B. nur eine harmonisierende Geschlossenheit gelten lassen (starre Anordnung).
Wie Sie sich auch notwendigerweise in eine Teilhabeform eingerichtet haben, so sollten Sie dieser doch auch eine Wandlungsmöglichkeit zubilligen.
Das musikalische Experiment heute z. B. verlangt Ihnen viel Zeit ab, um den Aufbau darin hinzubekommen (bewerkstelligen), d. h. Sie spüren jetzt, dass sich im spielenden Umgang mit den Instrumenten, mit Zeit und Anordnung, eine Konstruktion aufzubauen begonnen hat, ein innerer Aufbau, der das ganze Geschehen zusammenhält (Goethe).
Das Zusammenwirken (z. B. Trommel und Xylophon) von anderem mit anderen ist die menschliche Lage, die aus Unerträglichkeiten (quälende Nähe, blanke Distanz) hinausführt (Wirkungsindem). Das Zusammenwirken aller Faktoren als conditio humana.
Nach einigem Zögern erzählt eine Frau: „Ich bin erst um 10 Uhr aufgewacht und war schockiert, denn es fiel mir ein, dass ich um 9.30 Uhr meinen letzten Physiotherapie-Termin gehabt hätte. Verschlafen. Habe geschlafen wie ein Stein. Habe dann schnell in der Klinik angerufen. Ich bin in letzter Zeit immer zu spät gekommen. Trotz Wecker.“
„Da ist dieser Wecker, ein Eingriff in einen natürlichen Vorgang.“
„Im Schlaf erholt sich der Körper, die Seele, der Geist.“
„Etwas kann sich erneut aufbauen.“
„Das sieht man an den Träumen.“
Klärende Bemerkungen zur Traumpsychologie
„Im Traum denkt man nicht, da sind viele Umstände, da passiert etwas, obwohl wir nichtstuend, schlafend immer auch dabei sind. Wir nehmen daran teil.
Normalerweise fällt man in den Schlaf, wie eine Fallbewegung, die uns widerfährt – wie ein Eingriff in einen natürlichen Vorgang. Es ist eine Brucherfahrung, wie die Philosophen sagen. Über das Aufwachen, ohne Wecker, kann man sich ebenso wundern. Auch dieser Vorgang liegt nicht ganz in unserem Belieben.
In einer psychologischen Behandlung geht es immer darum, sogenannte Normalvorgänge zu überschreiten, d. h. in diesem Fall bekommt das Ver-schlafen (als Überschreitung einer Vereinbarung) eine höchst positive Bedeutung.
Anders gewendet: Das Außer-ordentliche schleicht sich ungewollt in unsere Gewohnheiten ein. Dieses produktive Danebengehen weist auf eine seelische Regung hin, die wir in unserem gewohnten Alltagseifer übersehen zu haben scheinen.
In der Erzählung hieß es: ,Ich schlief wie ein Stein‘, nicht wie ein braves Kind. Aber in diesem Stein tobt ein anderes Sein. Das führt uns zurück zu dem Bild eines hermetisch verschlossenen Postpäckchens. Zugeklebt, damit es nicht geklaut wird, hieß es an anderer Stelle.
Der ,letzte Termin‘ und das Verschlafen konkurrieren miteinander. Im Verschlafen regt sich ein anderer Begehr, den Sie in Ihren gewohnten gelebten Alltäglichkeiten aus den Augen verloren zu haben scheinen.
Schauen wir nach der Pause weiter.“
„In diesem letzten Klangexperiment entfaltet sich ein großer Entwurf, ausholend, zeitraubend. Er endet in einer besonderen Dramatik, als machte sich da ein ungestillter Hunger bemerkbar – ist er überhaupt zu stillen? Es ist wie ein Hinweis auf eine Sehnsucht. Ihr Begehr nach mehr und anderem. Diesen Begehr hat offenbar diese kurze Beratung – in ihren vier Sitzungen – zu wecken vermocht.
Die Erzählung dieser Sitzung entfaltet in mehreren Richtungen das Drama eines solchen Begehrens. Es geht um Geweckt-werden, um eine Art Erweckung und zugleich um das Verschlafen drängender Anliegen und deren Verpassen.
Es kommen bange Fragen auf: Was soll geweckt werden, welche Befriedung findet nicht statt? (Aufhebung der wilden Unruhe in lebbare Formen).
Die heutige Erzählung zeigt, dass sich Wirklichkeitsmächte in unsere Lebensführung eingeschlichen haben, die eigentlich immer schon dabei waren (Mit-sein), über die wir nicht ohne weiteres verfügen, die uns widerfahren und unsere Handlungs- und Teilhabeformen mitbestimmen, in unerkannter Weise determinieren, wie man früher zu sagen pflegte, als ginge es um schicksalshafte Gefüge.
Sie selbst sind es, die das für Verfügung gestellte Instrumentarium bespielen und im Experimentieren selbst wirkt etwas mit, was Sie so noch nicht kannten und was Ihre Spieltätigkeit mitsteuert. So auch kommen Ihnen Alltagsbegebenheiten in den Sinn, die Sie sich nicht überlegt oder ausgedacht haben. Sie kommen Ihnen in den Sinn und Sie haben die Freiheit, darauf nicht vorgegebene Antworten zu finden.
Diese Dinge wecken ein persönliches Interesse bei allen in dieser Gruppe. Das, was dadurch zunächst spielend und dann sprachlich verfügbar wird, eröffnet den Blick auf ein Versprechen. Es spricht Sie an, es tut Ihnen etwas an (afficere). Sie erinnern sich: ,Tu mir das nicht an!‘ Aber schon der erste Anblick der Spiel- und Erzählmöglichkeiten weiß es besser. Sie werden hineingezogen und haben teil daran. Sie nehmen unschuldig-schuldhaft, auf je unterschiedliche Weise, am Wirklichkeitsbetrieb teil.
Ihre freiwillige Bejahung der Wirkung verschiedener Veranstaltungen dieser Klinik geht aus einer verspürten Notwendigkeit hervor, die Ihnen Ihr momentaner Lebenswandel aufdrängt. Es möge anders weitergehen. Das ist der große Hunger.
Sie verspüren Schritt für Schritt, an den verpassten (verschlafenen) Chancen, die Mächte brachliegender Möglichkeiten. Sie verspüren am Festhalten kindlicher Gewohnheiten, denen Sie ungern entsagen, dass der Zugriff auf Anders-weitermachen zunächst verschlossen scheint (das Postpaket).
Im zweifachen Experiment dieser Gruppenanalyse – Spielen und Erzählen – erfahren Sie etwas von einer anderen Herangehensweise und dies zwar ohne große Anstrengung, aber nicht ohne ein damit einhergehendes Bangen.
Eine Stimme scheint Ihnen zuzurufen: ,Lehn dich zurück, lass den gewohnten Eifer einmal ruhen.‘ Das Verschlafen-können bekommt eine andere Bedeutung. Auch das obsessive Festhalten an Wünschen kindlicher Herkunft lockert seinen Griff. Dadurch kommen Sie Ihrem eigentlichen Begehr näher und er gewinnt an Attraktivität: ,Geh an einen anderen Platz, ergreife ein anderes Instrument, riskiere eine Erzählung, lass dir einen Traum einfallen.‘ Das alles geht weit über Fühlen, Wollen und Denken hinaus.
Es ist die stille Stimme eines Dranges, einer Sehnsucht, die jetzt Gehör findet.
So geraten Sie in einen Kampf zwischen zwei Ordnungsimperativen: kindliche Teilhabeformen, von denen Sie aber stillgelegt werden, und dem Vorankommen in anderen Möglichkeiten. Die Selbststilllegung wird als gestörte Teilhabe spürbar (Dornröschen). Sie verspüren die Notwendigkeit, die Grenzen der alten Stilllegung zu überschreiten. Das ,Ich mache es einfach!‘ wird möglich.
Kurzum, Sie geraten in eine Mutprobe zwischen ,Lass es!‘ und ,Greif zu!‘ (Umbildung im Ganzen). Diese Mutprobe begegnet Ihnen fortan in allen Veranstaltungen der Klinik. Sie geht Sie unbedingt etwas an. Alles Gute damit!“
Ein Epilog ist niemals ein letztes Wort, so wie ein Vorwort nie das erste Wort sein kann. Als Nachwort kann es sich nur um eine Einschätzung des gerade Geschehenen und Gesagten handeln.
Im Ganzen betrachtet erscheint diese Gruppenanalyse in ihrer Kürze als eine kunstvolle Fabrikation von gelebtem Sein. Ein Sein, so wie es hervorging aus einem tätigen Vollzug zweier ungewohnter Veranstaltungen (Emergenz). Spontane Spielexperimente und Produktion von Erzählungen, die in gelebten Alltäglichkeiten und Traumerinnerungen fundiert sind, führen in das Ungewohnte, d. h. in das, was eine Gruppengestalt im Innersten zusammenhält, in ihrer inneren Konstruktion. Die Beschreibungen der Ereignisse innerhalb des vorprädikativen Experimentierens und die Bekundung der gespürten Interessen an den Erzählungen von jemand anderem sind die Schwungräder für eine entschieden psychologische Auslegung. Diese Auslegung bringt die Drehungen und Wendungen einer übersummativen Ganzheit zur Sprache. Und zwar als der psychologische Inhalt überhaupt, wenn man will als die bewegt-bewegende Seele dieser Gruppe (gelebte Zeit).
Die Gruppe als „Lebewesen“ gerät Schritt für Schritt in das Fahrwasser riskanter Übergänge (Ereignisrichtung), die bislang im Alltagsleben dieser Mitglieder ungekannt und ungewusst waren (Fremdes im Eigenen).
Das ungewollte Gewahren, das Angetan-werden (lat.: afficere: widerfahren) seelischer Übergänge rückt die Gruppenganzheit in eine produktive, lange Zeit stillgelegte Seelenunruhe, die der weiteren Bewerkstelligungen harrt. Schließlich wird diese Bewerkstelligung den künftigen Drehungen und praktischen Wendungen gelebter Alltäglichkeit anheimgegeben. Ob das gelingt? Es kann nachwirken.
Morphologischen Hintergrundliteratur
Fitzek, H., Salber, W. (1996): Gestaltpsychologie. Darmstadt
Freud, S. (1937): Konstruktionen in der Analyse. G.W. Bd, XVI, Frankfurt a. M.
Salber, W. (1995): Wirkungs-Analyse. Bonn.
Ders. (20073): Wirkungseinheiten. Bonn.
Frank G. J. A. Grootaers geb. 1943 in Leuven (Belgien). Er war als Musiktherapeut tätig. Sein Denken im Kontext von Kunst, Psychologie, Behandlung und Philosophie ist nicht nur geprägt von der Morphologischen Psychologie Wilhelm Salbers, sondern ebenso von Maurice Merleau-Ponty, Edmund Husserl, Alfred Lorenzer und Bernhard Waldenfels. Er war Mitbegründer der Forschungsgruppe und des Instituts für Musiktherapie und Morphologie sowie Begründer des Ateliers für Kulturmorphologie und ist Mitglied in der Wilhelm Salber Gesellschaft (WSG).