Zur Zukunft der Digitalität: Zwischen Utopie und Apokalypse?

Eine empirische Studie des Bildes zum Einfluss der Digitalisierung auf den Alltag im Jahr 2050

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Valerian Warmuth studierte Wirtschaftspsychologie (B.Sc. & M.Sc.) an der Business & Law School Berlin. Zudem ist er zertifizierter Systemischer Coach und macht derzeit eine Ausbildung zum Analytischen Intensivberater. Er hat Erfahrungen in Marktforschungs- und Beratungsprojekten in den Bereichen der Konsum- und Gesundheitsforschung, sowie im Projektmanagement für den deutschlandweiten Förderschwerpunkt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz Mittelstand-Digital.

 Kontakt: valerian.warmuth@gmx.de

Zur Zukunft der Digitalität: Zwischen Utopie und Apokalypse?

Die Welt wird durch aufkommende Klimakrisen, Nachhaltigkeitsbewegungen und den Umgang mit der Corona-Pandemie vor die Notwendigkeit gestellt, ihre digitalen Kompetenzen auszubauen. Home-Office, digitale Lehre und Online-Shopping werden dabei zum zentralen Schlüssel der Entwicklungen und Herausforderungen unserer Zeit. Zudem fundieren von den zehn börsennotierten Unternehmen mit der weltweit größten Marktkapitalisierung mittlerweile acht ihre Geschäftsmodelle auf digitale Leistungen (PwC 2022). Die Digitalisierung hat somit ihren Platz im Zentrum unserer Gegenwartskultur(en) eingenommen. Vieles, was vor einigen Jahren noch unvorstellbar schien und eher an Science-Fiction erinnerte, ist heute Teil unserer Realität. So gelingt es beispielsweise Künstlicher Intelligenz, zuvor unverständliche antike Texte zu entschlüsseln (Bastian 2022) oder einen Teil des Rätsels zur Entschlüsselung der DNA zu lösen, an denen die weltweit führenden Biologen seit Jahrzehnten scheitern (Avsec, Weilert & Shrikumar 2021).

Wer hat sich in Anbetracht solcher rasanten Entwicklungen nicht auch schon die Frage gestellt, wie es in ein paar Jahrzehnten um uns und unserem Alltag stehen wird? Diskussionen und Prognosen über unsere Zukunft lassen sich dabei aus vielen verschiedenen Perspektiven beleuchten. Das World Economic Forum, ein Zusammenschluss der weltweit führenden Wirtschaftskräfte, hat beispielsweise für 2030 die Vorhersage postuliert, dass circa ein Drittel der Arbeitsstellen durch digitale Technologie ersetzt werden kann, dass aber auch neue Aufgabenbereiche für den Menschen entstehen werden (WEF 2020). Die Diskussionen über die Auswirkungen der Digitalisierung werden vor dem Hintergrund solcher Szenarien immer lauter. Und so häufen sich kontroverse Beiträge von Tech-Experten, Digital-Enthusiasten und Untergangspropheten. Auseinandersetzungen zum Verhältnis zwischen Technologie und ‚Mensch‘ sind dabei aber kein neues Phänomen, sondern blicken vielmehr auf eine vielfältige Historie zurück. Kürzlich widmete sich das Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek dem Thema in einer Sonderausstellung „Utopien und Apokalypsen: die Erfindung der Zukunft in der Literatur“.

Auch schon Heidegger oder Oswald Wiener warnten schon zu ihrer Zeit vor den Gefahren einer Technisierung. Neu sind allerdings Erörterungen, welche vermehrt aus der Blickrichtung der Technologieschaffenden stammen. Hierbei rückte Menschlichkeit und Ethik oft in den Nebentext im Vergleich zur Prämisse des technischen ‚Fortschritts‘ (Daub 2020; Whittaker 2022). Allerdings sind hier bereits Gegenbewegungen zu verzeichnen, wie sich beispielsweise in populären Auseinandersetzungen Prechts (2020) über KI und dem Sinn des Lebens abzeichnet, oder in Berichten über seelische Belastungen durch digitale Einflüsse.

Digitalität ist damit sowohl Vergangenheit als auch Zukunft. Kernaspekte bewegten das Seelische schon immer, wie auch Salber (1993) in seinem Buch „Seelenrevolution“ beschreibt. Und trotz aller Diskussion und Konfusion, eines ist mittlerweile sicher: Der Zug der Digitalisierung ist in voller Fahrt (Fitzek 2016, Meyer 2019). Unklar bleibt jedoch, wo uns diese Reise hinführen kann und wie wir die Weichen für unsere Zukunft stellen werden.

Die Frage nach unserer Zukunft wird im Kontext digitaler Technik meist aus einem wirtschaftlichen, technischen oder ethischen Blickwinkel beleuchtet. Dabei geraten allerdings die gravierenden seelischen Dimensionen mitunter in den Hintergrund. Dieser Artikel soll daher den Beitrag leisten, eine konsequent psychologische Perspektive zu eröffnen. Es werden dafür die Ergebnisse einer empirischen Studie vorgestellt, welche sich den potenziellen Auswirkungen der Digitalisierung über eine phänomennahe Beschreibung der Vorstellungen, Hoffnungen und Ängste im Erleben der Menschen nähert. Konkret wurde erforscht, wie sich das Bild des Alltags im Jahr 2050 unter Einfluss der Digitalisierung beschreiben lässt. Daraus wurde abgeleitet, welche psychologischen Strukturen dabei ihre Wirkung entfalten und was es daraus hervorgehend für eine gemeinsame Zukunftsgestaltung zu beachten gilt. Interviewt wurden sieben Probanden aus der Generation Y, zu der die Jahrgänge zwischen 1980 und 1999 gezählt werden, da diese als ‚digital natives‘ den Weg hin zu einer digitalisierten Zukunft maßgeblich prägen werden. Besondere Relevanz dieser Bildwirkungsanalyse besteht darin, dass das Bild, welches aktuell über eine gemeinsame Zukunft besteht, einerseits zentraler Faktor für ihre Gestaltungsmöglichkeiten darstellt, andererseits seelische Potenziale und Störstellen für eine konkrete Umsetzung aufdeckt.

Digitalisierung & Digitalität          

Obwohl oder gerade weil der Begriff der Digitalisierung heutzutage fast schon inflationär verwendet wird, erscheint es sinnvoll, sich zunächst näher mit ihm zu beschäftigen. Eine verbreitete Definition betont den technologischen Aspekt, indem sie Digitalisierung als Prozess der fortschreitenden Ablösung analoger Technologien durch Digitales beschreibt (Bendel 2015). Solche Innovationen reichen vom Smart-Phone bis zur Smart-City, vom Staubsauger-Roboter bis zu Künstlicher Intelligenz und von Virtual-Reality bis zur interplanetaren Kolonisierung. Bezeichnend ist, dass die Digitalisierung in den Beschreibungen vieler Menschen eng verknüpft wird mit den Auswirkungen, die der technische Wandel in Zukunft auf ihr Erleben und Verhalten haben wird. So rückt eine andere Perspektive auf das Digitale in den Fokus und wir sprechen nunmehr von dem Begriff der ‚Digitalität‘. Darunter fällt also der Alltag, welcher durch den Umgang mit der Digitalisierung geprägt wird (Schier 2018). So erweist sich die Untersuchung des Bildes einer digitalisierten Zukunft auch zugleich als phänomen-naher Versuch das Konstrukt der ‚Digitalität‘ zu beleuchten.

Zur Darstellung der empirischen Ergebnisse der Studie soll im ersten Schritt ein metaphorisches Bild skizziert werden, welches die Dynamiken und Beschreibungen der Probanden verdichtet. Die konkreten Phänomene und ihre psychologische Einordnung, welche hinter dieser Verdichtung liegen, werden im nächsten Kapitel beschrieben. Dabei werden die Phänomene in einem Wirkungsraum von sechs Gestaltzügen rekonstruiert. Die einzelnen Gestaltzüge werden zudem durch einen psychologisierenden Kommentar auf abstrakter Ebene in eine Drehung versetzt. Diese nicht-empirischen Textstellen finden sich am Ende der jeweiligen Kapitel. Zum Schluss des empirischen Teils wird das hervortretende Verwandlungsproblem durch die Vermittlung mit einem Märchen in Austausch gebracht. Abschließend sollen dann die Ergebnisse in einen kulturellen Kontext eingeordnet und Handlungsempfehlungen für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft gegeben werden.

Zwischen Erleuchten und Verbrennen

Betrachtet man zunächst einmal die Anfänge der Interviews so fällt auf, dass sich das Themenfeld der Digitalisierung wie eine dichte Datenwolke dem Blickfeld des Betrachters zu entziehen versucht. Denn die Probanden tun sich zu Beginn recht schwer damit, genauer bestimmen zu können, was ‚Digitalisierung‘ für sie eigentlich bedeutet oder gar eine exakte Definition präsentieren zu können. Vielmehr reihen sich Qualitäten zu einer verstrickten ‚emotionalen‘ Komposition aneinander. Die Marschrichtung dabei ist jedoch klar. Es geht nach vorn und zwar mit rasantem Tempo. ‚Digitalisierung‘ ist auf den ersten Blick Fortschritt, Entlastung, Ermächtigung, Allgegenwärtigkeit und Grenzüberschreitung. Dies spiegelt sich beispielsweise in der Dynamik der Interviews, welche nicht enden wollten, um immer weitere Themenfelder des Alltags in neue Verrückungen zu bewegen. Oder darin, dass das Smart-Phone in vielen Interviews auf dem Tisch seinen Platz einnahm oder sogar WhatsApp-Nachrichten das Gespräch unterbrachen.

Wie ein Scheinwerfer durchleuchtet und überstrahlt das Digitale dabei den Alltag. Ein diffuses Licht entsteht, welches sich bis in die letzte Ecke der Dunkelheit vorkämpfen will und einstig Im-Dunkeln-Stehendes zu erhellen verspricht. Selbst Grundsatzfragen nach dem Ursprung des Lebens scheinen einer solchen ‚Erleuchtung‘ nicht zu entgehen. Oft drehte sich die Atmosphäre der Gespräche ab einem gewissen Punkt in eine selbstreflektorische Sinnsuche und philosophische Auseinandersetzung mit Qualitäten des ‚Mensch-Seins‘ im Allgemeinen. Das Licht der Digitalität kann allerdings auch in einer (Ver-)Blendung münden, indem sich dessen Energie, wie unter einer Lupe, zu etwas Brandgefährlichem zu konzentrieren droht, das dazu führen könnte, seelische Entwicklung ‚ausbrennen‘ zu lassen. So rücken erst auf den zweiten Blick Qualitäten von Überwältigung, Rastlosigkeit, Entmenschlichung, Diktat und Systematisierung in den Blick. Der Mensch ist dabei nicht mehr als eine Art ‚Brennstoff‘ für den Motor der digitalen Maschinerie.

Ferner kann insbesondere ‚die‘ Künstliche Intelligenz sich als schöpferische Flamme in Konkurrenz zur Menschheit zu einer zerstörerischen Supernova aufblähen. Solch‘ bedrückende Szenarien bestimmen auch die Atmosphäre der Interviews, die phasenweise von euphorischen Episoden in ein sorgenvolles Schwelgen übergingen, begleitet durch ein fatalistisches Verstummen und einen gesenkten Kopf.

Das Bild einer digitalisierten Zukunft lässt also zunächst eine starke Polarisierung hervortreten. Verheißungen einer paradiesischen Welt, in der Probleme wie Klimawandel, Krankheit und Ohnmacht der Vergangenheit angehören, konkurrieren dabei mit dystopischen Höllenszenarien, welche vor diktatorischer Gleichschaltung, Überforderung und einem Verlust der Menschlichkeit warnen. So entsteht ein Bild zwischen Himmel und Hölle, zwischen Erleuchten und Verbrennen.

Franz Marc (1914) „Kämpfende Formen“. Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne München.(URL: https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artwork/8MLv29lLz3)

Flutwelle des Möglichen

Im Folgenden wird die seelische ‚Architektur‘ beschrieben, welche dem Bild einer digitalisierten Zukunft zwischen Erleuchten und Verbrennen zugrunde liegt. Dabei werden die konkreten Phänomene aus den Interviews zusammengefasst sowie durch psychologisierende Einordnungen und Kommentare auf einer hieraus abzuleitenden Ebene verdichtet.

Als Ausgangspunkt, welcher die spannungsvollen Drehungen des Bildes psychologisch gliedert, hebt sich zunächst ein kraftvolles Aufflammen von stetiger und gravierender Veränderung heraus. Es türmt sich dabei eine Flut-Welle des Möglichen auf, dessen Dynamik einerseits als Katalysator für Entwicklung zu einem Mehr und Anders dienen kann, das Seelische in seinem mitreißenden Schwung andererseits aber auch zu überwältigen droht.

Der Beginn der Interviews war – wie bereits erwähnt – durch nahezu euphorische und ausladende Schilderungen hinsichtlich der Optionsvielfalt und Entwicklungsmöglichkeiten geprägt, welche die Digitalisierung mit sich bringen soll. So offenbaren sich in den Bereichen der Forschung, Technik und Unterhaltung Entwicklungsräume, durch digitale Prozesse schnell und großflächig Innovation voranzutreiben. Sei es nun die Rechenleistung des Computers, welche sich erhöht und somit komplexere Programme umsetzbar werden, sei es das Videospiel, das realistischer und hochauflösender wird, oder die ‚Augmented-Reality-Brille‘, durch die sich die Umwelt seines Trägers anreichert und in einem neuen Licht darstellt, bis hin zur beliebigen Schaffung virtueller Wirklichkeiten, in denen scheinbar alles möglich ist. Ob man nun für einen Tag in die Welt des alten Roms eintauchen möchte oder einen fernen Planeten besuchen will – die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. All diese Entwicklungen bergen das Potenzial für ‚gänzlich‘ neuartige seelische Umgangsformen im Alltag.

Die Geschwindigkeit, mit der sich dieses Voranschreiten bewegt, scheint stetig zu wachsen. Der exponentielle Anstieg an technischem Fortschritt gilt als Blaupause einer übergreifenden Entwicklungsexplosion. Diese Welle der Veränderung kann jedoch in eine Überflutung umschlagen, in der einem eine Orientierung kaum machbar ist. Wenn jeden Tag ein neuer Trend aufkommt oder eine neue Technologie für den Haushalt entwickelt wird, erscheint ein dauerhaftes Aktualisieren nahezu unmöglich. Ferner bewirkt die ‚Multioptionalität‘ sowie die stete Herausforderung, aus einer Vielzahl von Smart-Phone-Modellen, Internetseiten und Apps eine Auswahl zu treffen und Festlegungen vorzunehmen, ein latentes wie offensichtliches Ge– wie Überfordert-Sein. Der Versuch, in jedem Lebensbereich alle Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen, würde zu endlosem Drehen um die eigene Achse und schließlich zu einem ziellos-verzagtem Stillstand führen.

In einer digitalisierten Zukunft zeigen sich also einerseits mitreißende Potenziale, welche neue seelische Gestaltungsmöglichkeiten offenbaren und das antreibende Fundament für ein Anders-Werden bereitstellen können. Gleichzeitig drohen die Strömungen des Wandels jedoch in einer Überflutung zu enden, welche in ziellosem Agieren und lähmender Unentschiedenheit münden kann. Anfänge und Ausprägungen solcher Bilderfluten wurden bereits Anfang der 90er durch das Konstrukt der ‚Auskuppelkultur‘ von Wilhelm Salber (1993) beschrieben. Die aktuelle Herausforderung besteht nun seit längerer Zeit darin, sich wieder „einzukuppeln“ (Ziems, Ebenfeld & Winkler 2020). Demnach steht das Seelische vor dem Kunststück, die dargebotene Flut des Möglichen handhabbar zu machen, um auf der Welle der Entwicklung ‚surfen‘ zu können, anstatt in einem überbordenden Strudel unterzugehen (Fitzek 2016). Im Prinzip ist diese unendliche Verwandlungsvielfalt zwar eine Grundprämisse des Seelischen, wie sie bereits im „Versalitätsproblem“ (Salber 2009) erörtert wurde, doch wird sie durch die aufkommenden Dynamiken potenziert und zugespitzt.

Übersteigung ins Göttliche

Basierend auf den diversen Umbildungspotenzialen einer digitalisierten Zukunft gerieten die Beschreibungen der Probanden dann alsbald wie übereilt in Extremisierungen des Möglichen. Vorstellungen und Entwürfe einer mehr und mehr digitalisierten Zukunft wurden im weiteren Verlauf der Interviews durch sprachliche Überhöhung und Hyperbeln in teils absurde Verabsolutierungen gesteigert.

Auffallend heißt es immer wieder: Alles ist möglich! Einstige Limitierungen des ‚Weltlichen‘ scheinen sich unter der allmächtigen Einwirkung des Digitalen aufzulösen. Vermeintliche Grenzen offenbaren ihre menschengemachte und damit überwindbare Natur. Statt einstiger starrer ‚Gottgegebenheit‘ zeigt sich ihre Verschiebbarkeit. Zukünftig – davon ist man überzeugt – werden sich auch die menschlichen Beschränkungen zunehmend ‚transzendieren‘ und der Aufstieg ‚neuer‘ Götter rückt in immer greifbarerer Nähe, wie sie sich bereits in den Ausführungen Freuds zum „Prothesengott“ anbahnte („Das Unbehagen in der Kultur“, 1930) . Man wähnt, sich den Be- und Gegebenheiten widersetzen zu können und den Menschen zu einem noch erhabeneren Schöpfer auszubauen. Durch Bio-Hacking und Transhumanismus lässt sich der Mensch nach Belieben manipulieren, in virtuellen Realitäten können sogar physikalische Gesetzmäßigkeiten ausgehebelt und durch Raumfahrttechnik schließlich auch interstellare Welten erschlossen werden. Selbst existentielle Fragen der Philosophie, die seit Jahrtausenden im Dunkeln bleiben, sind künftig vor dem ausbreitenden Licht des Digitalen scheinbar nicht mehr ‚sicher‘.

„Wir können irgendwann auch das Universum berechnen. Im Zweifelsfall kann uns die Digitalisierung auch helfen zu verstehen, warum wir überhaupt hier sind.“

Der Motor dieser Übersteigung wird durch die Künstliche Intelligenz angetrieben, als eine sich selbst exponentiell weiterentwickelnde Gestalt ohne ‚biologisch‘ angelegte Limitierung. Dabei kann sie im Bild auf die Zukunft für den Menschen einerseits eine Leiter hin zu ‚göttlicher‘ Größe darstellen, andererseits auch die größte Gefahr einer demütigenden Erniedrigung heraufbeschwören. So wird befürchtet, dass die KI uns überflügeln, ablösen und selbst Neues schöpfen könnte. Diese Destabilisierung der eigenen Positionierung als eine einzigartige und besondere Lebensform an der Spitze der Evolution wird rigoros und irrational abgewehrt. Selbst wenn man bei der Verteidigung der ‚menschlichen‘ Vormachtstellung in Bereichen der Leistungsfähigkeit schnell resigniert, bleibt das Festhalten an der eigenen Besonderheit auch ohne Argumentationsgrundlage relativ stabil. Es wirkt fast, als würde jemand einem kleinen Kind das geliebte Spielzeug aus der Hand reißen wollen, welches ein großer Bestand-Teil seiner Identität geworden ist.

Aufgrund dieser drohenden Kränkung erhebt sich auch ein Gegenentwurf zur Vergöttlichung der KI und des digitalen Über-Menschen. Ein starkes Bedürfnis, zurückzukehren in den geschützten und umsorgenden ‚Leib der Natur‘ – als Ursprung und ‚Mutter‘ der eigenen Schöpfungslinie – erwacht, welches sich in einer Sehnsucht nach dem Spirituellen erweitert. ‚Erleuchtung‘ wird in diesem Zusammenhang allerdings nicht durch erschöpfendes Ausleuchten externer Allgegenwärtigkeit angestrebt, sondern durch ein verinnerlichendes Schließen der Augen in auflösender Stille. Dieser Zustand ist vergleichbar mit dem ozeanischen Gefühl nach Freud (1930), ohne Trennung zwischen ‚Ich‘ und ‚Außenwelt‘.

Da sich die Welt in einem fließenden Wandel befindet und jeder Augenblick auch gleichzeitig Unendlichkeit in sich trägt, ist ein Ideal, welches sich als etwas Allmächtiges und Absolutes überzeichnet, zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Wenn Seelisches sich jedoch ungeachtet dessen auf ein Bild von ‚Göttlichkeit‘ hin auszurichten versucht, droht in letzter Konsequenz Vereinsamung und Stilllegung. Denn nur durch Beschneidung von Entwicklung, durch Vermeidung von Fehlern und Ausgrenzen von Andersartigem rückt der Traum absoluter Perfektion vermeintlich näher. Wie beim „Turmbau zu Babel“ wird versucht, sich vom Menschlichen abzuheben sowie sich der Sintflut des Wandels und des Brüchigen zu entziehen. Dabei verliert sich allerdings der Austausch mit ‚Anderem‘, indem man jegliche Irritation zu vermeiden sucht. Denn ohne Kontakt mit ‚Weltlichen‘ kann Seelisches sich weder ausgestalten noch entwickeln, da dies mit einer solipsistischen ‚Vereinsamung‘ sowie einer unlebbarer Fragilität einhergehen würde, um sich schließlich – da zum Kulturprinzip einer konstitutiven ‚Unvollkommenheit‘ in Widerspruch stehend – in einem ‚spiegellosen‘ Vakuum zu verlieren.

„Das Leben ist ja nicht perfekt. Ich denke das dann zwar, aber was ist, wenn jemand kommt und mir zeigt, dass es noch so viel Anderes gibt? Dann bekomme ich bestimmt einen Kurzschluss in meinem Chip!“

Elektrisierendes Optimieren

Die aus der Flut an Umbildungsmöglichkeiten entsprungene Übersteigung ins Göttliche als unerreichbares und lebloses Idealbild wird im seelischen Wirkungsgefüge mit der elektrisierenden Herausforderung einer Umsetzung im und als Alltag konfrontiert. Dabei werden die Allmachtphantasien in einem bezeichnenden Zugleich von optimistischen Ausbreitungen und erforderlichen Ausrüstungen weiter ausgestaltet – eine Entwicklung, die das Seelische jedoch auch gleichzeitig in eine spannungsgeladene Zerreisprobe manövriert.

In den ersten Phasen der Interviews wird meist die Entlastung und Unterstützung betont, die sich durch digitale Technik eröffnet. Der Staubsaugerroboter, die Abrechnungs-Software oder der Hyperloop in die nächste Großstadt sorgen für mehr Effizienz und Zeitgewinn. Dies wirkt auf den ersten Blick wie ein willkommenes Freischaufeln von Valenzen, welche dann der Erholung und eigenen Entfaltung gewidmet werden können. Werden diese Umgangsformen allerdings genauer reflektiert, fällt auf, dass neugewonnene Kapazitäten zum Großteil dazu genutzt werden, um noch mehr ‚Work-Load‘ zu bewältigen, welcher seinerseits getrieben ist von zugrundeliegenden Verlockungen und (An)Forderungen eines Höher-Hinaus-Wollens auch in dieser Hinsicht. In der Zeit, die einem etwa im ‚autonomen‘ Auto zur Verfügung steht, werden Video-Meetings abgehalten oder man arbeitet bereits an der nächsten Präsentation. Dieses Überladen droht sich sogar auf weitere Bereiche des Lebens auszudehnen. Vor lauter Aufgaben, Eindrücken und Angeboten geht schließlich der Blick ‚auf sich selbst‘ und das ‚Andere‘ verloren.

Das fehlende Zurücklehnen und der Zwang zur Optimierung werden dabei durch das vergöttlichte Ideal der maschinisierten Perfektion befeuert. Das Digitale wird demnach als etwas genau Berechnetes, Perfektes und Fehlerloses beschrieben. Und auch dem Menschen werden diese schwer erreichbaren Zielgrößen übergestülpt. Dies kann in einer Hinsicht motivierend wirken, sodass einstige Grenzen überschritten und zugunsten einer Weiterentwicklung überwunden werden. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, kann dieses Streben nach Perfektion bzw. ‚dem‘ Absoluten aber auch destruktive Züge annehmen. Denn trotz der Unvollkommenheit und Kreativität des Seelischen wird weiterhin erwartet, dass es sich auch den statischen Perfektionierungen aufgrund einseitig messbarer Zahlen und starrer Automatismen unterwirft. Der Mensch soll zur Maschine umprogrammiert werden, auch trotz des Risikos, dass sein ‚Herz‘ unter dem Schock der steigenden Voltzahl seinen Betrieb einstellt.

„Die Effizienten bleiben drin und die anderen nicht. Und ob man sich damit kaputt macht, ist egal. Mensch-Maschine eben. Du musst funktionieren.“

Dieser Optimierungsprozess allerdings wird nicht nur durch starre Zielgrößen beschränkt, sondern auch durch das Abkürzen von Entwicklungswegen. Es droht eine Knopfdruck-Kultur, in der sich ehedem über Jahre mühsam zu errichtende Werke fortan durch einen einzigen Klick downloaden lassen. In solch einer Welt wird beispielsweise Sprachwissen als Software-Paket erworben und Anstrengendes an den Hilfsroboter abgegeben. Durch die übereilte Abkürzung eigener Entwicklungsarbeit entsteht die Gefahr einer Beschneidung der Erlebensfülle bzw. des Reichtum und den Vielfältigkeiten des Seelischen in seiner bislang gewohnten Bandbreite. Denn durch eine Offenheit gegenüber Leidvollem und durch ein Aushalten-Können von Entbehrungen und sich erstreckenden Entwicklungen können auch Leidenschaften, verschiedene Kompetenzen und ‚menschliche‘ Potentiale nachhaltig belebt werden.

„Durch Scheitern, durch einschneidende Erlebnisse konnte ich mich erst so entwickeln, wie ich jetzt bin.“

Wer sich also permanent von einem Optimierungsdruck getrieben fühlt und diesem durch rastloses ‚Ausbrennen‘ (‚Burn-Out‘) oder dem kunstlosen Kunstgriff des Knopfdrucks nicht standzuhalten vermag, droht schließlich, in einem unentschiedenen Schweben zwischen alltagsfernem Größenwahn und dem unvollkommenen Fließen seelischer Diversität selbst in eine Sackgasse zu geraten, wodurch weder die vielfältigen Entwicklungsangebote einer digitalisierten Zukunft mobilisiert, noch das konstruktive Potenzial seelischer Schöpfung als Quelle der Veränderung in eine wirkmächtige und vor allem in eine Im Alltag zu bewerkstelligende Einheit gebracht werden kann.

Ermächtigendes Dirigieren

Die sich übersteigenden Umbildungspotenziale einer digitalisierten Zukunft, welche durch ein elektrisierendes Optimieren zum Über-Menschen verfolgt werden, sind keineswegs unverrückbare und allgemeingültige Bildentwürfe. Sie unterliegen in ihrer Entfaltung der Einwirkung wegweisender und tonangebender Dirigenten.

In Zukunft soll alles besser, effizienter und letztlich makellos werden. Bereits heute sehen sich viele in ihrer Alltagsgestaltung diesem Trend unterworfen. Doch auf die Frage im Interview hin, was ‚Perfektion‘ überhaupt bedeutet, kommt in aller Regel eine unangenehme Stille und Unsicherheit auf. Perfekt ist etwas, wenn eine bestimmte Zielvorgabe ohne Abweichung erfüllt wird. Perfektion ist daher letztlich jedoch nicht mehr als eine ‚leere Hülse‘, die aufgeladen werden muss. Aber wie werden die Zielgrößen definiert? Bei der Reflektion kultureller Idealvorstellungen wird klar, dass das zu erfüllende Maß von Instanzen wie einer Regierung oder regierungsfähigen Algorithmen festgelegt wird. Demnach entscheidet man meist nicht selbst, was perfekt ist. Sondern viel mehr sind es Markttrends, herrschende Vorbilder und das politische Regime – alles in allem also: die herrschende Kultur –, die den Ton angeben.

Die Digitalisierung – so das Bild in den Interviews – wird im Laufe der Zeit immer leistungsstärkere Machtinstrumente der Beeinflussung und Kontrolle zur Verfügung stellen, so dass es sich zunehmend erschwert, eigene Positionen einzunehmen. ‚Der‘ einzelne Mensch droht, so transparent und beeinflussbar zu werden, wie noch nie in der Geschichte der Menschheit zuvor. Durch die globalisierte Vernetzung von Online-Services und sozialen Medien wird das Wirkspektrum externer Machtzentren enorm ausgeweitet. Die Dienste zahlreicher Apps und Gadgets können dabei durchaus als ‚Prothesen‘ zur Erweiterung des eigenen Einflussbereiches dienen. Doch scheint sich der Großteil der Macht fern von den Endverbrauchern v.a. in taktgebenden Epizentren wie Google, Facebook und Amazon zu kumulieren. Die Gefahr droht, dass der Alltag von solchen Instanzen diktiert sowie durch und durch in allen Lebensbereichen bestimmt wird. Evident wird die potenzielle Manipulation an Phänomenen wie ‚personalisierter Werbung‘ und ‚Nudging‘ etwa im Zusammenhang mit der Cambridge-Analytica-Affäre oder an der chinesischen Bevölkerung, die durch ein Social-Credit-Rating zu einem systemkonformen Verhalten konditioniert wird.

„Man denkt, man hat die Selbstkontrolle, aber in Wahrheit haben sie die Fäden in der Hand und steuern dich so, wie sie wollen. Wie eine Spielfigur.“

Wird nun diesbezüglich Künstliche Intelligenz beleuchtet, wird diese von den Probanden meist als eine undurchschaubare technologische Problemlösefähigkeit gesehen, welcher man menschen- oder so sogar gott-ähnliche Qualitäten zuschreibt. Es entsteht einerseits ein nutzbares Machtinstrument, andererseits aber auch ein möglicher Gegenspieler im Kampf um die Vorherrschaft der Dimensionen von Einwirkung. Es ist unsicher, inwieweit KI zukünftig noch verstanden, geschweige denn kontrolliert werden kann. Um sich dennoch erhaben und dominant zu fühlen, kann in einem solchen Szenario der Blick auf eine vermeintlich ‚nachgeordnete‘, allerdings hinreichend vertraute und bewährte – sprich folgsame – Spezies dienen:

„Wenn alle Stricke reißen, holst du dir einen Hund. Der braucht dann auch wieder Pflege, und dann hast du wieder eine Aufgabe.“

Gleichzeitig und letztlich erscheint die Stärke des digitalen ‚Zepters der Macht‘ aber auch als eine große potenzielle Schwäche der Führenden. Denn aufgrund ihrer öffentlichen Präsenz lastet auf mächtigen Personen und Institutionen immer ein gewisser Druck. Ein falscher Schritt kann fatale Folgen nach sich ziehen. Skandale, Shitstorms und Leaks verdeutlichen dies. Nicht zuletzt zeigte sich am Beispiel der Gamestop-Affäre, welchen Einfluss ein Zusammenschluss von Online-Communities bewirken kann. Durch die globale Vernetzung über digitale Medien können sich also oppositionelle Bewegungen leicht von einer Flamme des Widerstandes zu einem rebellischen Lauffeuer ausbreiten. 

Systematisches Eintakten

Selbstgewählte Strukturen und programmierbare Systeme können in einer digitalisierten Zukunft als willkommene Komplexitätsreduktion der Optionsvielfalt und Entlastung von ungeliebten Herstellungsprozessen dienen, womit sie einen offenen Raum für Entwicklung und Exploration bieten, ohne dabei von einer Flut an Reizen überrollt oder berauscht zu werden. Ein ordnendes Eintakten kann somit seelische Tendenzen festigen, sie gleichzeitig jedoch erstarren und in einem automatisierten Diktat der Entmündigung und Aushöhlung fesseln lassen.

Durch digitale Hilfsmittel wird der Alltag genau durchgetaktet. Raum, Zeit und Sein werden gerahmt. Kleine Hinweise über das Smart-Phone halten einen den Tag über in der Spur: Wann ruft der nächste Termin, wo gibt es die besten Restaurants und wann sollte mal wieder eine Meditation eingelegt werden, da die Smart-Watch einen erhöhten Puls misst. Früher hieß es, es ist ‚Gottes Wille‘. In Zukunft richten wir uns nach unseren Apps. Für jeden Lebensausschnitt gibt es theoretisch eine Solche. Die Flut an hunderten Arbeitsmails wird durch eine Vorsortierungssoftware bewältigt. In den Städten kann man aufgrund der Analyse einer Vielzahl an Daten von autonom fahrenden Autos bei sich anbahnenden Komplikationen präventiv und regulativ in den Straßenverkehr eingreifen. Durch diese Entlastungen – so das heutige Bild – stehen einem mehr Kapazitäten zur Verfügung, sein Tage-Werk zu reflektieren und sich Zeit für sich zu nehmen. Zur Bewerkstelligung der Entlastung und Einrahmung des Alltäglichen werden Automatisierungen implementiert. Zum einen vereinfacht und entlastet dies, andererseits aber kann das Übernehmen-Lassen von Prozessen auch zu Verlust oder Verkümmerung eigener Fähigkeiten führen. So werden Wissen und Merkfähigkeit weiter sinken, da jederzeit auf das Google-Gedächtnis zu(rück)gegriffen werden kann. Ferner werden ganze Berufszweige und Tätigkeitsfelder durch digitale Lösungen ersetzt. Steuerberater, Busfahrer und Richter werden zukünftig durch ein Programm substituiert.

Die Auswirkung der Daten auf die ‚User‘ ist allerdings von denen abhängig, die sie zur Verfügung stellen. Je nachdem, wie diese Informationen gegliedert, zensiert und herausgehoben werden, entsteht ein unterschiedliches Bild bei den ‚Empfängern‘. Fraglich ist, ob die Gestaltung des bereitgestellten Wissens sich mit den Ansprüchen der Verwender deckt. Es kursieren Milliarden von Websites im Internet. Die meisten Nutzer beschränken ihre Suche allerdings auf die ersten zwei Seiten, die Google ihnen vorschlägt. Hinzu kommt, dass selbst physische Strukturen teilweise auf digitaler Technologie basiert sind. Bei einem Blackout, würde die Trinkwasserversorgung aufhören zu filtern, die Verkehrstafeln auf der Autobahn schaltet sich ab und der Flugverkehr könnte nicht mehr koordiniert werden – allesamt Folgen, die in kürzester Zeit im Chaos enden würden. Digitale Technik scheint allgegenwärtig, allerdings auch überaus fragil zu sein. Fällt sie aus, kommt als verstörende Herausforderung auf, sich ohne sie zurechtfinden zu müssen.

Als dystopisches Szenario hebt sich eine komplett durchgetaktete Welt heraus. Menschliche Schnittstellen zur Umwelt, wie physiologische Werte und Verhalten sowie auch Teile des Erlebens, einschließlich ‚Gedanken‘ und ‚Emotionen‘ wären jederzeit digital abrufbar und archiviert. Dadurch können Firmen beispielsweise Krankheitsgeschichten zur Personalauswahl einsehen oder Polizisten Menschen allein wegen des Gedankens an eine Straftat oder eine systemkritische Äußerung inhaftieren. Solche Szenen erinnern an Filme wie „Minority Report“, dort noch als eine Zukunftsvision inszeniert, doch sind KI-gestützte Verbrechensprognosen und computergestütztes Gedankenlesen schon heute Teil unserer Wirklichkeit. Auch das Transparent- und Abrufbarmachen finanzieller Existenzgrundlagen führt zu einer potenziellen Enteignung. Wenn Geld nur noch ein digitaler Code ist, können sämtliche Transaktionsströme mit Leichtigkeit überwacht und ganze Existenzen auf Knopfdruck ausgelöscht werden. All dies könnte in einem systemischen Diktat enden. Wer allerdings trotz dieses Risikos auf die Vorteile der Digitalisierung nicht verzichten möchte, läuft Gefahr, zum Kalfakter im eigenen Gefängnis zu werden, sodass der Preis der Durchleuchtung letztlich in Kauf genommen wird: So würde ein Chip als Transplantat im Kopf wohl die Kriminalität senken, aber gleichzeitig den Verlust der Privatsphäre im Austausch mit völliger Transparenz bedeuten. 

„Dann lebst du unter totaler Kontrolle. Nur noch feste Abläufe abspulen und du bist dann wie so eine Ameise im Ameisenhaufen.“

Letztlich kann zwar das systematische Eintakten des Alltags vor einer Überfülle an Möglichkeiten schützen und somit neue Räume zur Selbstentfaltung und Gestaltungsermächtigung eröffnen, wenn aber der Takt des Liedes von einem despotischen Dirigenten vorgegeben wird, können zu feste Strukturen und monotone Automatismen auch zu völliger Entmündigung und Beschneidung von Wirkungsräumen führen. Der Algorhitmus gibt dann den Platz des Menschen als Zahnrad in einer digitalen Maschinerie vor, was in letzter Konsequenz ein ‚Austrocknen‘ fließender Seelenlandschaften erzwingt, als Vorbote einer kargen Wüste der Entwicklungslosigkeit. 

Entschiedenes Bewahren

Einer digitalisierten Zukunft als ausbreitender Motor vielfältiger (Er-)Öffnungen und Offenbarungen steht eine haltgebende Reduktion gegenüber, welche das Seelische vor einer rauschhaften Überflutung und einem überdrehten Umbildungswüten zu schützen sucht. Dabei halten taktgebende Systeme den Kreisel des Wandels in geordneten und stabilen Bahnen. In seiner Verkehrung kann das Bewahren jedoch auch zu einer erstarrenden Abkapselung führen, in der sich das Seelische letztlich nur noch um sich selbst dreht. Selbstbewusste Entschiedenheit und fehlbares Öffnen für das Unkontrollierte können allerdings als Gegenentwurf zu fremdgesteuertem Eintakten und blendenden Allmachtsphantasien eine fruchtbarere Kultivierung der eigenen Seelenlandschaften bewirken und darin dem ‚Baum des Lebens‘ in seinen Metamorphosen Wurzeln schlagen lassen.

Um sich in den zukünftig diversen Umbildungsangeboten ein standhaftes Bild anzueignen, können dargebotene Strukturen aufgegriffen und diese in eigene Gestaltungen überführt werden. So kann jemand sich beispielsweise durch das Aufgehen in einem Spezialgebiet des Digitalen definieren und darin eine stabilisierende Rahmung finden. Durch soziale Netzwerke und Foren aus gleichermaßen begeisterten Interessensgemeinschaften werden Leidenschaften synergetisch gefestigt. Dies birgt allerdings auch die Gefahr von Filterblasen und Echokammern, in denen ein gemeinsamer Standpunkt durch das Abschneiden von Anderem und Fremdartigem immer weiter konsolidiert wird. Somit wird das Eigene gestärkt, gleichzeitig allerdings werden Entwicklungsspielräume (ab-)geschwächt.

Ferner kann ein blindes und unreflektiertes Aneignen von dargebotenen Strukturen zu einem regelrechten ‚Verkleben‘ in Stundenwelten führen. Es fällt dann schwer, die eigenen Pläne unter dem ständigen Aufmerksamkeitssog digitaler Verlockungen umzusetzen. So kann sich schnell etwas stabilisieren, was nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Statt sich etwa einem geplanten Online-Fortbildungskurs zu widmen, wird das Erleben dann allzu oft von Instagram oder Whatsapp bestimmt. Diese Short-Term-Gratification kann fesselnd und einengend wirken. Wie sehr die digitalen Ich-Erweiterungen bereits Teil des ‚Selbst‘ geworden sind, wird oft erst bewusst, wenn sie wegfallen.

„Was war das für ein Weltzusammenbruch, als mein Handy kaputt ging. Ich habe da halt meine ganzen Daten drauf gespeichert, und ich bin irgendwie völlig abhängig davon.“

In seiner Extremform kann das Zu-eigen-Machen von digitalen Hilfsmitteln und Stabilisatoren derart einengen, dass man sich in eine Regression getrieben fühlt. Überall gibt es Kameras, die einen Überwachen und vor Kriminalität schützen, Timing-Apps, die einen daran erinnern, doch einen gewissen Lebensstil beizubehalten und ‚mütterliche‘ Sprachsteuerungen, die einen jederzeit umsorgen können. Ein solches Leben scheint wie von einer Glaskuppel umschlossen, welche zwar elterliche Umsorgung bietet, einem letztlich jedoch die Entwicklungsmöglichkeiten des Erwachsen-Werdens raubt. Die Kuppel schützt, aber sie hält auch gefangen. Denen in ihrer Obhut bleibt einem letztlich verwehrt, die Umwege und Tiefen der Welt zu erkunden. Man selbst ist jedoch stets ‚einsehbar‘. 

„Du verschließt die Augen vor der Realität am Ende des Tages. Eigentlich werden sie dir geschlossen. Die Glaskuppel schirmt super viel ab. Du kriegst nichts mehr mit, weil du nur deine eigene Umwelt kennst. Du kannst deinen Horizont gar nicht ausbreiten.“

Wer anstrebt, sich aus einer solchen Gefangenschaft zu befreien und dennoch ein haltgebendes Aneignen in einem hochdynamischen Zeitalter auszubilden, dem stellen sich mitunter Momente der Rückbesinnung heraus. Im Umgang mit digitaler Technik wird demnach eine selbstbestimmte Entschiedenheit betont. Es braucht die Kompetenz und die Bereitschaft, die digitalen Hilfsmittel und den Optimierungsdruck eigenmächtig auch einmal abschalten zu können. Unterstützung wird zwar in Technologien gefunden, manche Prozesse werden jedoch bewusst selbst ausgeführt. So könnte Alexa beispielsweise die Bauanleitung für ein Vogelhäuschen bereitstellen. Das Werk allerdings sollte mit eigenen Händen geschaffen werden, anstatt es sich vorgefertigt von Amazon liefern zu lassen. Es braucht also die Möglichkeit, eine Grenze zu ziehen, in welche Bereiche des Alltags das Digitale einfließen soll, um sich so seiner Eigenständigkeit zu versichern und nicht in einem rastlosen Befolgen von Bestimmungen, Vorschriften und Ansagen zu enden.

„Lieber lebe ich in meiner eigenen Welt aus Schmutz, als in einer auf Hochglanz polierten Welt, die mir fremd ist.“

Als Anker auf der stürmischen See einer digitalisierten Zukunft erweist sich letztlich das Bewahren von Menschlichkeit als entschiedenes Abgrenzen zum maschinengetrieben Über-Menschen. Es entwickelt sich die bekundete Absicht, den Stecker der elektrisierenden Überfülle bei Bedarf auch einmal ziehen zu wollen, um sich auf grundlegende menschliche Werte rückbesinnen zu können. Dabei wird die Ausgrabung und Restauration eines Verständnisses von Menschlichkeit verfolgt, welches sich durch Unvollkommenheit und Kreativität auszeichnet. ‚Menschlich‘ zu sein, heißt zudem, vielschichtig und eigenständig zu sein sowie Stundenwelten selbst zu durchschreiten. Und nicht nur das Eigene, sondern auch das Mit-Menschliche gewinnt an Bedeutung.

Vorstellungen einer solchen Gegenbewegung erzählen von einem abgeschiedenen Hof, der von Bäumen umsäumt einen Zufluchtsort für Tiere, Familie und Freunde bietet. Man kreiert sich einen autarken Kosmos, in dem man sich dem Einfachen und Alltäglichen wie dem Kochen, Stricken, Gärtnern und Singen widmen kann. Auch digitale Technik findet in diesem Szenario seinen Platz, doch man bemüht sich, eine autarke analoge Versorgung als Fundament bereitzuhalten. Dann wird mit Holz geheizt, Lebensmittel werden selbst angebaut und auch für das Radio installiert man ein Solarpanel. Somit wird einerseits das Analoge als sicherer Grund bewahrt und andererseits ist es weiterhin möglich, sich auch Innovationen des Digitalen entschieden anzueignen.

Schließlich muss es nicht die Distanzierung oder gar die Flucht vor dem Digitalen sein, die in einem zukünftigen Alltag ein fruchtbares Gestalten ermöglicht. Rückblickend konnte man in jeder Epoche der Menschheitsgeschichte sehen, wie Zeiten des Wandels oft lange von einer großen Skepsis begleitet wurden. Und ist es nicht auch etwas zutiefst Menschliches, (sich) am Alten festhalten zu wollen? Kann man sich allerdings von seinen Ängsten und Sorgen gegenüber der Veränderung lösen, können neue Horizonte offenbart werden. Sich den neuen Technologien zu stellen und im Umgang mit diesen selbstbewusst die eigene Kunst, Kreativität und Autonomie zu bewahren, kann im disruptiven Wandel einer digitalisierten Zukunft dem Kreisel des Seelischen wohlmöglich sogar beistehen, sich in lebensnahen und facettenreichen Drehungen wiederzufinden.

Letztlich rückt sich somit ein paradoxes Gestaltungsproblem heraus: Ein Grundbedürfnis des Seelischen ist es, eine ‚ganzheitliche‘ Gestalt zu entwickeln und bewahren und sich gleichzeitig für flexibles Umgestalten zu öffnen. Dabei kann das Erleben einer digitalisierten Zukunft gleichermaßen eine Chance als auch eine Herausforderung in Drehungen versetzen. Es stellt sich also die Frage, wie eine entschiedene und dennoch wandlungsfähige Kultivierung lebendiger Seelenlandschaften in einem Spannungsverhältnis aus übersteigenden Umbildungspotenzialen und sich optimierender Systemstabilsierung gestaltet werden kann.

Der Geist in der Flasche

Susanne Schirdewahn (2013) „work“ (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

Als weiterführende Einordnung der empirischen Ergebnisse soll der Gegenstand anhand des Märchens „Der Geist in der Flasche“ weiter und näher beleuchtet werden.2 Dabei wird ein grundlegendes Verwandlungsproblem herausgerückt, welches die Wirkungsräume seelischer Formenbildung auf ein Ur-Muster hin zuspitzt. Es folgt eine kurze Zusammenfassung der Märchen-Geschichte:

„Der Vater arbeitet hart, damit sein Sohn zur Hohen Schule gehen kann. Als sie einmal im Wald zusammenarbeiten, will der Vater nur das Nützliche tun; der Sohn dagegen will Vogelnester suchen gehen. Dabei findet er eine Flasche, in der ein Geist ist: Lass mich heraus! Der befreite Geist bedroht den angehenden Studenten mit dem Tod; aber es gelingt dem Jungen, den Geist wieder in die Flasche hineinzulocken. Als der Geist erneut um Befreiung bittet, wagt der Student es auch ein zweites Mal, ihn freizulassen. Diesmal erhält er zur Belohnung ein Wunderpflaster: Dieses heilt Krankheiten und verwandelt Metall in Silber. Ehe der Sohn dem Vater zeigt, dass er mehr besitzt, als der Vater ihm gegeben hat, macht er sich noch einen kleinen Spaß mit ihm. Dann belohnt er den Vater und wird selbst ein berühmter Mann“ (Salber 2018, S.91).

Zunächst beschreibt das Märchen eine Ausbreitungstendenz, welche als ein ‚Geist in der Flasche‘ in Erscheinung tritt. Dieser Geist ist wie das Bild von einer digitalisierten Zukunft durch wundersame Verheißungen geprägt. Es zeigt sich ein ungeheures Mehr, welches durch das Erschließen digitaler Potenziale freigesetzt wird und dabei mit Wachstum, Fortschritt sowie Dienstbarkeit einhergehen soll. Dieser Zug kann sich allerdings auch verkehren, indem er mit einer gefährlichen Drohkulisse der Überforderung, Entmächtigung und schließlich dem Tod aufwartet. Eine solche Spaltung der Formenbildung zeigt sich zudem in einem Einteilen zwischen ‚alt‘ und ‚jung/neu‘, Vergangenheit und Zukunft, Mensch und Digitales. Eine Zweiheit offenbart sich, welche nach lebbaren und alltags-tauglichen Umgangsformen sucht. So verhandeln Vater und Sohn ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Durch dieses Zusammentreffen rücken Fragen nach Chancen und Problemen zukünftiger Alltagsformen und Kultivierungsmöglichkeiten von nunmehr Zwei(ein)heiten heraus. Wie kann sich Altes und Neues verbinden und an- wie miteinander weiterentwickeln? Oder bleibt das ganze in einem konflikthaften Getrennt-Sein stecken? In einer solchen Vermittlung seelischer Spannungen trägt das Hin und Her eine besondere Übergangsqualität. Denn sobald Zweiheiten in allzu festen Systemen erstarren, drohen sie sich in aufgeblähten Extremen zu verkehren. In einem solchen Verkehrt-Halten erweist sich das Unvollständige und Experimentelle als Brechungspotenzial für neue Gestaltungsräume. Ein Öffnen für Unerwartetes und Phantastisches kann so schließlich über Verrücken, Umkonstruieren und Scheitern als Wunderpflaster dienen und Qualitäten einer ‚Heilung‘ freisetzen (Salber 2018).

Wurzeln einer gemeinsamen Zukunft

Nach der Darlegung der empirischen Ergebnisse und ihre psychologische Einordnung, soll nun ein weiterführender kultur- und wirtschaftspsychologischer Blick auf das Bild einer digitalisierten Zukunft geworfen werden. Denn wenn sich die Kultur dem digitalen Wandel nicht nur hingeben und diesen sich einfach ereignen lassen möchte, sollte man sich auch mit dem menschlichen Erleben und Verhalten im Umgang mit Digitalität beschäftigen. Somit werden im Folgenden einige Handlungsempfehlungen vorgestellt, welche zu weiteren Diskussionen und Austauschprozessen anregen sollen.

Der Wirtschaft wird mit der Digitalisierung eine Chance auf Wachstum, Innovation und Profitmaximierung vorgestellt, ausgemalt und ausgebreitet wie noch nie zuvor in der Geschichte. Doch steht und fällt die erfolgreiche Eingliederung des Digitalen in unseren Alltag mit dem Erleben und Verhalten der Menschen. Daher sollten die Tendenzen des Seelischen nach einer Entlastung der Überforderung des Optimierungswahns und des Überangebots ernst genommen werden, damit sowohl Mitarbeiter als auch Konsumenten nicht nur kurzzeitig zu Hochleistungen ‚aufflammen‘, aber auf lange Sicht jedoch ‚ausbrennen‘ und schließlich jeglicher Produktivität und Lebenslust verlustig gehen könnten. Außerdem sollte mehr Wert auf kreative und kontextbasierte Arbeit unter Einbezug einer gesunden ‚Fehlerkultur‘ gelegt werden, um sich auch in Zukunft ein, nicht durch Maschinen substituierbares und innovationsfähiges, ‚Geschäfts-Modell‘ aufzubauen. Die zahlreichen Bedenken der Digital-Gegner hinsichtlich einer undurchschaubaren totalitären Monotonisierung des Alltags können dabei in einer angemessenen – etwa durch gesetzliche Bestimmungen – Weise geregelt und begrenzt werden sowie durch eine transparente und menschen-zentrierte Aufklärung über die Verwendung von privaten Daten abgesenkt werden. Weiterhin gilt es, ein dezentrales System zu entwickeln, welches den Nutzern von digitaler Technik eine grundlegende Datenhoheit und Gestaltungsfreiheit zubilligt. Kulturpsychologisch rückt besonders eine reflektierte und entschiedene Grundhaltung des Seelischen in den Vordergrund, welche sich als Stabilisator zur Verwirklichung der Potenziale und als Schutz vor den Risiken einer digitalisierten Zukunft erweisen kann. Demnach empfiehlt sich eine ‚selbstbestimmte‘ und ‚bewusste‘ Suche und Entscheidung für die Ausformung der Kultivierungen des eigenen Alltags, um sich nicht wie ein ‚seelenloser‘ Automat vorkalkulierten Systemen unterwerfen zu müssen.

Man sollte also (s)einen ‚eigenen‘ Weg finden dürfen, welcher zur Not auch die Abzweigung einer gemeinschaftlichen ‚Rebellion‘ einschlagen kann. Wichtig dabei ist allerdings immer, den Blick für ‚das große Ganze‘ der Kulturentwicklung zu bewahren. Denn ohne einen ‚holistischen‘ Blick auf das digitale Geschehen, droht einem die Hoheit über die folgenschweren Implikationen aus den Händen zu gleiten. Ob man sich nun als Enthusiast der Digitalisierung bzw. dem ‚Maschinellen‘ hingibt oder ob man sich lieber wieder stärker auf das vermeintlich ‚Natürliche‘ und ‚Ursprüngliche‘ zurückbesinnt, kann letztlich nicht als grundsätzlich ‚besser‘ oder ‚schlechter‘ kategorisiert und befunden werden. Allerdings sollte ‚jede(r)‘ zumindest ein Stück weit die Freiheit oder den Spiel-Raum haben, diese Entscheidung selbst für sich treffen zu können. Nichtsdestotrotz lässt sich Seelisches wahrscheinlich deutlich lebhafter und freier gestalten, sofern der digitale Wandel auch vom ‚Menschlichen‘ lernt und sich für eine gemeinschaftlich-zwischenmenschliche Belebung öffnet.

Was Digitales und Seelisches von- und miteinander lernen können

Durch die gewonnenen Einblicke heben sich nun weiterführende Überlegungen heraus: Die Welt unterliegt einem ständigen Wandel. Ehemals Alltägliches wie das Waschbrett oder Pferdekutschen gehören längst der Vergangenheit an. Aktuell werden Briefe, Aktenschränke und Videotheken von digitalen Alternativen abgelöst. Und so werden sich dem Seelischen auch in Zukunft neue Wirkungsräume bieten. Jede aufkommende Technologie hat uns bisher vor die Herausforderung gestellt, in einem konstitutiven Herstellungsprozess einen neuen Umgang zu entwickeln. Was die Digitalisierung angeht, werden dabei gravierende Gefahren, aber auch enorme Chancen sichtbar. ‚Digitalität‘ ist also nicht nur ein Thema von Gebrauchsanweisungen, Up-Skilling und Datenschutz, sondern konfrontiert uns mit ganz grundlegenden Fragen. Das Digitale kann dabei als Spiegel fungieren, der den Menschen sich selbst und seine Umwelt reflektieren und neu entdecken lässt. Werden wir uns selbst als Maschine sehen oder an unserer Menschlichkeit festhalten? Und welche Rolle wollen wir spielen in der Gesellschaft, auf unserer Erde und letztlich auch in dieser Galaxie?

Egal wie die Entscheidungen ausgehen, wir werden uns der Frage nach unserer Besonderheit und ‚Erhabenheit‘ stellen müssen. Was unterscheidet ‚Mensch‘ von ‚Maschine‘, Seelisches von Digitalem? Und welche Übergänge gibt es zwischen Beidem? Könnten Maschinen nicht sogar die faireren, empathischeren und ‚menschlicheren‘ Wesen werden? Wie wollen wir ‚Menschlichkeit‘ jetzt und künftig überhaupt bestimmen und definieren? Und welche Züge und Eigenarten möchten und soll(t)en in Zukunft bewahrt werden? Eben solche Fragen über unsere eigene Existenz rücken ins Zentrum des Bewusstseins, während wir daran arbeiten, menschenähnliche Maschinen und digitalisierte Menschen zu kreieren. Antworten auf diese Fragen, werden uns die Chance bieten, uns selbst besser zu verstehen. Denn schließlich sind solche Fragen auch unabhängig von einer Unterscheidung zwischen ‚Menschlichem‘ und ‚Digitalem‘ relevant für die Gestaltung einer gemeinsamen Realität (und bewegen das Seelische ohnehin schon seit geraumer Zeit).

Die Unterscheidung zwischen Mensch und den vermeintlich ‚toten‘ Dingen ist nämlich nicht neu, sondern eine grundlegende, welche ‚die‘ Menschheit seit Menschengedenken beschäftigt und bewegt. In der Antike galt die Gegenständlichkeit noch meist als etwas Belebtes. Erst seit Descartes popularisierte sich für die abendländische ‚Neuzeit‘ eine strikte Trennung zwischen ‚dem‘ Weltlichen in seiner ausgedehnten Körperlichkeit und einer ‚reinen‘ Vernunft als höchste Ausprägung ‚des‘ Menschlichen (paradoxerweise gedacht als „substanzlose Substanz“).

In Anbetracht der Entwicklungen der Digitalisierung erfahren wir seit einiger Zeit allerdings nun wieder eine Gegenbewegung in Richtung der Auflösung solcher vermeintlichen Differenzen. Denn die Trennung zwischen ‚Mensch‘ und ‚Maschine‘ ist eine ‚menschen-gemachte‘ und somit eine künstliche. Vielleicht beharren wir immer noch so stark an unserer Einzigartigkeit als Menschen, weil wir sonst nach den drei großen Kränkungen (Kopernikus, Darwin, Freud) mit weiteren konfrontiert werden könn(t)en. Näher beleuchtet hat ‚das‘ Menschliche allerdings immer auch ‚maschinelle‘ Dimensionen wie etwa bei starren und automatisierten Abläufe oder funktionsgetriebener Effizienz unschwer ersichtlich. Umgekehrt neigen wir auch dazu, sowohl uns fremde Lebensformen, Unbelebtes oder eben Maschinelles zu antrophomorphisieren, indem wir beispielsweise unser Auto zu einem freundlichen Weggefährten erheben. Übergangsobjekte, welche ebenfalls eine klassisch betriebene Trennung aufbrechen, finden sich schon heute beispielsweise in der Haltung von Roboterhaustieren.

Das Spontane, Intuitive und Emotionale was dem ‚Mensch-Sein‘ gerne zugeschrieben wird, sind Qualitäten, die den Maschinen und Programmen grundsätzlich bzw. tendenziell bisher noch fehlen. Doch genau an diesem Punkt kann das Digitale vom Seelischen lernen. Tatsächlich arbeitet das Seelische in einem bislang nicht simulierbaren System, welches Gestalten und (v.a.!) Unbewusstes auf eine raffinierte Art in einen- und zu einem lebendigen Zusammenhang vereint und in einer Architektur des ‚Dazwischen‘ ein- wie ausrichtet. All diese Faktoren ermöglichen es, komplexe Welten und Wirklichkeiten sinnhaft und bildlich zu verstehen, fortzuführen und zu transponieren. Die unter einem vorwiegend (klassisch-)mechanistischen Paradigma wenig fortschrittlich wirkenden Züge des Seelischen offenbaren also bei genauerer Betrachtung ein kreatives Umgestalten ästhetischer Drehungen, welches dem Farbenspiel von Kontrasten, Übergängen und Mixturen dieser Welt eine Leinwand ausbreitet und sie somit auf bisher einzigartige Weise erfahrbar macht. Schließlich wird es an uns selbst liegen, welches Bild sich in Zukunft auf dieser Leinwand ‚bilden‘ wird und mit welchen Konturen wir unsere eigene(n) Gestalt(ungen) dabei zeichnen werden.

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Anmerkungen

1(Unveröffentlichte) Bachelorarbeit an der BSP aus dem Jahre 2020 „Qualitative Wirkungsanalyse zum Bild einer digitalen Zukunft im Jahr 2050 aus der Perspektive der Generation Y“. Die in diesem Beitrag durch An- und Abführungen gekennzeichneten Zitate sowie die beschriebenen Ausführungen stammen aus den der Arbeit zugrunde liegenden Morphologischen Tiefeninterviews.

2Ich danke Dr. Wolfram Domke für seinen Hinweis auf den ‚Geist in der Flasche‘ sowie seinen weiteren Anmerkungen zum Märchen im Austausch mit dem vorliegenden Artikel.

Bild Valerian

Autor:in

Valerian Warmuth studierte Wirtschaftspsychologie (B.Sc. & M.Sc.) an der Business & Law School Berlin. Zudem ist er zertifizierter Systemischer Coach und macht derzeit eine Ausbildung zum Analytischen Intensivberater. Er hat Erfahrungen in Marktforschungs- und Beratungsprojekten in den Bereichen der Konsum- und Gesundheitsforschung, sowie im Projektmanagement für den deutschlandweiten Förderschwerpunkt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz Mittelstand-Digital.

 Kontakt: valerian.warmuth@gmx.de

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