Das Seelische als Zwischenwelt

Metapsychologische Überlegungen zu einer Ästhetik psychotherapeutischer Behandlungsprozesse.

Share with friends!

Autor:in

Diplom-Psychologe Werner Pohlmann ist niedergelassener Psychanalytiker in Köln, Dozent am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie in Düsseldorf und Lehranalytiker der DGPT und der DPG.

Kontakt: pohlmann.werner@web.de

Das Seelische als Zwischenwelt

Die von Wilhelm Salber entwickelte Psychologische Morphologie stellte für die Entstehung und Entwicklung seelischer Phänomene als metapsychologisches Prinzip heraus, dass sie durch psychästhetische Werkgesetze organisiert werden. (Salber, 2002, S. 7, Salber 2003, S. 39f.). Die nachfolgenden Überlegungen stellen den Versuch dar, dieses Prinzip auf psychotherapeutische Behandlungsprozesse anzuwenden. Sie gehen von der These aus, dass der Behandlungsverlauf sowohl einer einzelnen Stunde als auch des gesamten Behandlungsprozesses von seinem Anfang bis zu einem Ende nicht einer logischen, sondern einer ästhetischen Gesetzmäßigkeit folgt. Das bedeutet jedoch nicht, dass hier von einer Kunst der Behandlung gesprochen wird, so als müsse die Therapeutin[1] eine Künstlerin sein, wenn sie erfolgreich behandeln will. Auch die Behandlungen, die scheitern, scheitern gemäß dieser psychästhetischen Werkgesetze. Daraus folgt, dass nicht die Psychotherapeutin und die Patientin die Subjekte des Geschehens sind, sondern die sich ereignende Ästhetik des Behandlungsprozesses. Damit grenzt sich die Arbeit von Überlegungen ab, die, ausgehend vom Begriff der ästhetischen Erfahrung, eine Art besondere Wahrnehmung „und zwar Wahrnehmung in einer besonderen Eigentümlichkeit bzw. Wahrnehmung in ihrem Eigensinn“ postulieren (Soldt 2007, S. 8). Die ästhetische Erfahrung wird in diesen Konzepten in eine Differenz zur alltäglichen Erfahrung gerückt, als sei sie „grundlegend“ von diesen zu unterscheiden (ebd., S. 9). Zugleich wird sie dabei in einer Weise idealisiert, als lasse sie „in der Nachfolge des Heiligen eine Veränderung, ja nachgerade ‚Läuterung“ erhoffen, die sich gleich aufs Ganze bezieht“ (ebd.).

Die von Salber vertretene Auffassung, Seelisches werde psychästhetisch organisiert, bedarf keiner besonderen ästhetischen Wahrnehmungseinstellung, durch die sich die Phänomene nun auf einmal in ihrem ästhetischen Gefüge zeigen, den Martin Seel als einen „transitorischen Zustand“ beschreibt, in dem ein Etwas im Licht von Verhältnissen erscheint (Seel 2000, zitiert nach Soldt 2007, S. 11). Das ästhetische Gefüge der seelischen Phänomene lässt sich doch nur erkennen, wenn sie selber schon gemäß apersonaler ästhetischer Werkgesetze gefügt wurden. Es wird also nicht etwas ästhetisch aufgefasst und dadurch zu einem ästhetischen Gegenstand, sondern die Gestaltung unseres Alltags vollzieht sich, ohne dass uns das eigens bewusst wird, nach ästhetischen Gesetzen. Wilhelm Salber hat das einmal so formuliert: Kunst beginne vor „der“ Kunst, nämlich mit der Alltagskunst. Dass die Ästhetik des Alltags unbemerkt bleibt, hat mit der seelischen Verfassung zu tun, die wir im Alltag brauchen. In diesen Verfassungen geht es weitgehend um ein Verfügen-Können, um ein Sich-Ausrichten und Halt finden in Ritualen, Abschätzen, Aufschieben, Umwegen-Gehen oder der Arbeits-Organisation. Die manchmal strengen Ordnungen der Tagesverfassungen sind jedoch auch im Übergang zu anderen, weniger reglementierten Verfassungen, wie Tagträumereien, Muße-Stunden, Langeweile und schließlich hin zu einer Traum-Verfassung (Salber 1997). So lässt sich auch „ästhetische Erfahrung“ als eine besondere Verfassung verstehen, in der wir, wie Martin Seel betont, auf einen „transitorischen Zustand“ der Phänomene aufmerksam werden, der sich aber nicht auf Gegenstände, die als „Kunst“ bezeichnet werden, eingrenzen lässt. Offenbar werden wir erst von besonderen Verfassungen her darauf aufmerksam, dass die seelischen Phänomene nichts Statisches sind, sondern immer im Übergang zu anderem hin, in dem sie erst ihren Sinn und Ausdruck finden. Diese Übergänge, so hier die These, verlebendigen sich in „Zwischenwelten“.  Mit dem Begriff der „Zwischenwelt“ wird das Seelische gefasst als eine Welt, in der die Phänomene einerseits nur im Übergang zu anderen Phänomenen hin zu sehen sind, als eine Verwandlungswelt, und andererseits dass mit diesem „Dazwischen“ auch etwas festgehalten wird, das sich im Licht von spezifischen Verhältnissen jeweils ausgestaltet. Insofern ist die angebliche Differenz zwischen einer ästhetischen und einer alltäglichen Erfahrung im Sinne eines Übergangs zwischen verschiedenen Verfassungen zu verstehen. Wir gestalten unseren Alltag immer von besonderen Verfassungen her. So können wir uns in einer Frühstücksverfassung morgens ausbreiten oder sie ist sogar vielleicht sofort im Übergang zu einer Arbeitsverfassung und kann sich gar nicht richtig entwickeln. So geraten wir auch eine besondere Verfassungen, wenn wir uns in einem Museum „Kunst“ ansehen, wenn wir in ein Konzert gehen und Musik hören, wenn wir ins Kino gehen und einen Film sehen oder auch, wenn wir ein Buch lesen. In all diesen Tätigkeiten „erfahren“ wir mehr oder weniger etwas von dem, was uns im Alltag unbewusst bewegt. Aber es gibt eine Verfassung, in der diese unbewussten Wirksamkeiten, die unseren Alltag bestimmen, eigens herausgearbeitet werden. Das ist die psychotherapeutische Verfassung, bei der die Patientinnen aufgefordert werden, sich ihren Einfällen zu überlassen und nichts zu zensieren, was an ihren Einfällen ihnen komisch oder abwegig vorkommt, und bei der die Therapeutinnen sich ebenfalls einer „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ überlassen, die dem Kantischen interesselosen Wohlgefallen entspricht, das Kant als Kennzeichen einer ästhetischen Erfahrung herausgestellt hat. Es ist diese spezifische Verfassung der Psychotherapie, die es ermöglicht, die unbewusste ästhetische Organisation unseres Verhaltens und Erlebens bewusst zu machen. Auch dabei stoßen wir auf „Zwischenwelten“, die sowohl jede einzelne Stunde als auch die gesamte Behandlung zusammenhalten. Wenn wir also seelische Phänomene, die offensichtlich keine „Kunst“ im herkömmlichen Sinne sind, in besonderen Verfassungen in ihrem ästhetischen Gefüge „sehen“ können, dann verweist das darauf, dass diese Phänomene sich als ein Spektrum verschiedener seelischer Produktionen zeigen. Die Psychoanalyse hat zwar ein solches Spektrum in den primär- und sekundärprozesshaften Formen zufassen gesucht, in denen Seelisches sich zum Ausdruck bringt, aber sie hat das Verhältnis zwischen beiden Formen nie wirklich klären können. Dadurch blieb das Primärprozesshafte immer mehr das Defizitäre, das den Sekundärprozess braucht, um verstanden werden zu können. Das es auch umgekehrt sein könnte, dass der Sekundärprozess auch auf den Primärprozess angewiesen ist, blieb ein ungeklärtes Problem, auch weil das Primärprozesshafte mehr als Störung der vernünftigen Ordnung des Sekundären verstanden wurde. Um diese Verhältnisse zu klären, sollen hier zunächst metapsychologische Überlegungen vorangestellt werden, um herauszuarbeiten, dass Seelisches psychästhetisch organisiert ist.

Psychästhetik eine neue Metapsychologie 

Mit dem Begriff Metapsychologie wird oft die Vorstellung verbunden, als handele es sich dabei um die begriffliche Fassung eines Bereichs „hinter“ den seelischen Phänomenen. Im Gegensatz dazu vertritt die hier dargestellte Metapsychologie mit Goethe die These, dass die Phänomene selbst die Lehre sind, dass also in, bzw. besser gesagt, zwischen den Phänomenen ein Zusammenhang wirkt, der sie im Innersten zusammenhält und bewegt. Insofern trägt sie auch nicht von außen etwas an die Phänomene heran, sondern sucht gleichsam ihre „Natur“ zu entziffern. Damit stellt diese Metapsychologie eine bestimmte Perspektive heraus, die Welt zu sehen. Sie bricht bewusst mit der traditionellen Aufteilung der Welt in eine „Innenwelt“ als Bereich des Seelischen und einer „Außenwelt“ als scheinbar unabhängig von uns existierende Welt. Sie bricht bewusst mit einer wissenschaftlichen Auffassung, die glaubt, durch Trennung ihrer Gegenstände sich eine Einsicht „in den Zusammenhang ihres Wesens und Wirkens verschaffen“ zu können (Goethe 1998a, S. 55). Sie betont vielmehr die Untrennbarkeit alles Wirklichen, dessen Zusammenhang, wie Goethe in seiner Farbenlehre herausstellte, ein Wirkungszusammenhang ist (Goethe 1998b, S. 315f, Salber 1988, S. XII).  Salber weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass „die Analyse von Wirkungs-Einheiten in eine wissenschaftliche Zwischenwelt führt“, d.h. „wenn wir uns in dieser Zwischenwelt bewegen, versuchen wir Wirklichkeit im Übergang zu erfassen, mit Entwicklungsmethoden und in Übergangsbegriffen“ (Salber 1988, S. XII, kursiv im Orig.). Seels Hinweis, ästhetische Erfahrung mache auf einen „transitorischen Zustand“ der Phänomene aufmerksam, verweist ebenfalls auf eine Übergangsstruktur, die sich aber nicht auf die Erfahrung mit Kunstgegenständen eingrenzen lässt. Diese Übergangsstruktur kennzeichnet im Grunde die unbewusste Konstruktion unserer Wirklichkeitsgestaltung. Analog zu den vier Prinzipien des Aristoteles, nach denen sich unsere Erfahrung strukturiert, hat auch Wilhelm Salber für die Übergangsstruktur des Seelischen vier Beweggründe als grundlegende Prinzipien herausgestellt (ebd., S. XIII ff.). Das ist zum einen eine materiale Symbolik, denn die Wirklichkeit ist „von vornherein symbolisch“., d. h. was auch immer im Seelischen geschieht, es „gewinnt Bedeutung, indem es anderes, das wirksam ist, modifiziert“ (ebd., S. XIII). Das entwickelt sich aber nur in den Wirkungsqualitäten von sinnlich-stofflichen Aneignungsprozessen, wie sie auch der Säuglingsforscher und Psychoanalytiker im Begriff der Vitalitätsaffekte beschrieben hat: „aufwallend“, „versteinert“, „berstend“, „sich hinziehend“, „explosiv“ (Stern 1992, S. 83). Als einen zweiten Beweggrund nennt Salber die Paradoxie von Wirkung, denn ein Zusammenhang entsteht nur „durch Sinn und Gegensinn“ (ebd., S. XIV). Der dritte Beweggrund ist, dass die Übergangsstruktur von Wirkungseinheiten ein Produktionsprozess ist, der sich „in Verhältnissen von Mehr oder Weniger, Wirken-Widerstreben, Tun-Leiden, Vordringen-Zurückhalten, Heftiges-Mäßigendes, Männliches-Weibliches“ ausgestaltet (ebd., kursiv im Orig.). Als viertes Prinzip nennt Salber die „Gestaltverwandlung“, d.h. „ohne Übergang in Gestalt kann Verwandlung nicht in Bewegung bleiben; umgekehrt kann sich Gestalt nur in Umgestaltung erhalten“. Das System der Übergangstruktur ist also durch das Prinzip der Metamorphose charakterisiert. Es ist gerade dieses Prinzip, dass die Kunst des Alltags mit „der“ Kunst verbindet, sodass Ästhetisches nicht mehr als ein Sonderbereich von Erfahrung bezeichnet werden kann.

Wie sich „Zwischenwelten“ zeigen, wenn wir unsere Wirklichkeitserfahrung beschreiben und auf die oben genannten Prinzipien hin analysieren werde ich nun von unterschiedlichen Auffassungen und empirischen Untersuchungen einkreisen, um ihn dann an Beispielen der Kunst sowie einer Interpretation eines Musikstücks zu veranschaulichen. Ein Ausblick auf die Auffassung von psychoanalytischen Behandlungen wird dann einem Beispiel aus einer Behandlung von Thomas Ogden dargestellt werden.

Können wir Bewegungen sehen, obwohl es dafür keine Reizgrundlage gibt?

Der Gestaltpsychologe Max Wertheimer hat im Jahr 1912 zum ersten Mal „Zwischenwelten“ experimentell nachgewiesen, indem er das Sehen von Bewegungen psycho-logisch untersuchte. Wie nehmen wir Bewegungen wahr, war seine Frage? Sehen wir da die Ortsveränderung eines Objekts von A nach B oder wirklich eine Bewegung? In einer physikalischen Perspektive sieht man nicht eine Bewegung, sondern eben nur die Ortsveränderung eines Gegenstandes von Ort A nach Ort B. In einer psycho-logischen Perspektive, die Wertheimer experimentell herstellte, sahen die Versuchspersonen des Experiments tatsächlich Bewegungen. Das Experiment zeigte nämlich, dass im Nacheinander der Bilder tatsächlich etwas gesehen wird, obwohl eine entsprechende Reizgrundlage fehlt. Das bedeutet, Psychisches ist auch dann gegeben, wenn es gar keine physiologische Reizgrundlage gibt. (Fitzek/Salber 1996) Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat darauf schon der berühmte Physiologe Johannes Müller mit seiner Arbeit über Die phantastischen Gesichtserscheinungen hingewiesen (Hagner & Wahrig-Schmidt 1992). Das Sehen von Bewegung zeigt aber nicht etwas, das „zwischen“ dem Gegenstand an Ort a und dem Gegenstand an Ort b zu lokalisieren ist, sondern es zeigt ein Hinüber, einen Übergang, der als „schlechtere Bewegung“, als „nicht so schöne Bewegung“ oder als „Ruckartiges“ geschildert wird (Fitzek/Salber, S. 36f).). Das „Zwischen“ ist also nicht  örtlich zu lokalisieren., d. h. es ist auch nichts Gegenständliches. Es eigentlich ein Un-Ding (Salber 1994)  Es charakterisiert Formen des Übergangs in anschaulichen Gestalten und ihren Wirkungsqualitäten wie Rucken, Stampfen, Flackern, Stoßen, Drehen. Solche sinnlich-materialen Gestalten und Umgestaltungen halten das Erleben von Bewegungen zusammen. In diesen Qualitäten erfahren wir unser seelisches Erleben. Wertheimer hat also mit diesem Experiment eines der metapsychologischen Prinzipien der seelischen Übergangsstruktur, die materiale Symbolik aufgedeckt. Zugleich veränderte er mit seinem Experiment auch den bisher nur als statische Figur gefassten Gestalt-Begriff. Gestalten sind nun Gestalten in Entwicklung, immer in einem Übergang zu Anderem. Von Wertheimer her zeigt sich „Zwischenwelt“ als ein Übergangsphänomen in spezifischen Wirkungsqualitäten. „Zwischenwelt“ verweist darauf, dass wir uns nur im Übergang zu anderem hin erfahren. Das heißt auch, dass wir uns und andere nur verstehen, indem wir es auf anderes hin übersetzen und so in neue Zusammenhänge stellen.

Zwischenwelten als Übergangsphänomene

In der Psychoanalyse eröffnete der englische Psychoanalytiker Donald W. Winnicott (1896-1971) einen Zugang zu einer „Zwischenwelt“, indem er die Phänomene der Kultur und der Kunst in den Blick nahm. Er meinte, dass wir diese Phänomene nicht verstehen könnten, wenn wir von einer primären Trennung in eine innere und äußere Realität ausgehen. Der „Ort, an dem wir leben“, so sagt er, sei jenseits von innen und außen. Daher fragt er auch nicht, was geschieht in uns? Er fragt vielmehr, was geschieht im Umgang mit der Welt. Diesen „Handlungsbereich“ nennt er auch den Übergangsbereich oder „potentiellen Raum“. Der Prototyp dieses Bereichs ist nach ihm „das Spannungsfeld zwischen Kleinkind und Mutter“, den er auch im Begriff des Spielens zu fassen sucht. (Winnicott 1979, S. 52 und 124). Wenn Spielen ein „Jenseits“ von Innen und Außen ist, wenn es sich nicht aufteilen lässt, was darin „innen“ ist und was dabei von „außen“ kommt, dann ist es ein eigenständiger Bereich, der in sich eine Gliederung und Ordnung hat. Das Spielen – und jetzt können wir sagen, das Seelische – vollzieht sich demnach nicht als ein bloßer Bewusstseinsstrom, sondern in abgegrenzten Handlungsbereichen oder „Handlungseinheiten“ (Salber 2009). Handlungseinheiten sind Personen und Dinge übergreifende Wirkungsgefüge, sie sind ein psychodynamisches Feld. Was darin „innen“ oder „außen“ ist, sind dynamische Wirkungen des Feldes, die sich zu einheitlichen Werken ausbilden wollen. Unser Alltag gliedert sich in solchen Handlungseinheiten aus: Aufwachen, Frühstücken, Zeitung-Lesen, Autofahren, Telefonieren, Arbeiten, Fernsehen, Kino, Spazierengehen etc.. In ihnen wirken verschiedene Tätigkeiten, Dinge, Personen so zusammen, dass daraus eine „Frühstückswelt“, eine „Spazierwelt“, eine „Welt des Autofahrens“ oder auch eine „Welt der Therapiesitzung“ entsteht mit ihren jeweiligen Entwicklungschancen und Begrenzungen. Am Beispiel der Eltern-Kind-Beziehung hat Winnicott mit den Begriffen von Übergangsobjekt und Übergangsphänomen ebenfalls ein metapsychologisches Prinzip seelischer Übergangsstruktur herausgearbeitet. Das Prinzip von Gestaltverwandlung, denn das Bild eines Objektes, wie z. B. der Mutter bleibt nur lebendig, wenn es sich in anderen Erfahrungen fortsetzen kann, dass also die Einheit einer Objekterfahrung nur möglich ist, wenn mit ihr  zugleich auch eine Verwandlung, eine Trennung verbunden ist. (Winnicott 1979, S. 113). Seelisches Leben ist ein „Wechselspiel von Getrenntsein und Einheit“ (ebd., S. 115). Beides   ist untrennbar miteinander verbunden. Winnicott nennt diesen Übergangsbereich auch „potential space“, einen Möglichkeitsraum. In einer anderen Arbeit macht Winnicott (ebd., S. 101- 1109 auf die unumgängliche Paradoxie des Übergangsbereichs aufmerksam, die Paradoxie, dass ein Zusammenhang immer nur als eine Gegensatzeinheit gibt. Winnicott macht das daran deutlich, dass „der wesentliche Gesichtspunkt im Konzept der Übergangsobjekte und -phänomene […] ein Paradoxon und die Annahme dieses Paradoxon ist: Das Kleinkind erschafft das Objekt, aber das Objekt war bereits vorher da, um geschaffen und besetzt zu werden“ (ebd., S. 104, kursiv im Orig.). Morphologisch übersetzt heißt das: die Wirklichkeit ist das Medium des Seelischen und umgekehrt, die Wirklichkeit versteht sich nur im Medium des Seelischen. Was sich „zwischen“ dem Objekt, das schon da ist, und dem Erschaffen des Objekts abspielt, ist dabei etwas, das gleichsam eine eigene, die Beteiligten übergreifend Entwicklung nimmt. Von Winnicott her kann man daher sagen, dass die Zwischenwelt „ein Wesen mit einem eigenen Recht“ ist, eben in Gestalt einer Wirkungs- oder Handlungseinheit. Weil Winnicott in diesem Aufsatz noch zu sehr einem Subjekt-Objekt-Denken verhaftet ist, kann er das Übergreifende und Selbständige der Zwischenwelt nicht deutlich herausarbeiten. Aber es findet seinen Ausdruck im Begriff des „Überlebens“ von Objekten, d.h. eigentlich von Gestalten. Und auf Gestaltverwandlung verweist, dass das, was Winnicott mit der Zerstörung eines Objekts durch das Subjekt meint, eine Verwandlung meint, durch die Gestalten (Objekte) sich erst erhalten können.

Die seelische Welt ist eine symbolische (Cassirer und Merleau-Ponty)

 Um von einer mehr philosophischen Seite deutlich zu machen, was für eine Umwertung menschlicher Geistestätigkeit mit diesem Verständnis eines psychischen Gegenstandes verbunden ist, soll hier zunächst näher auf Cassirer eingegangen werden. Mit seiner Definition des Menschen als „animal symbolicum“ betont er, dass der Mensch in einem „symbolischen Universum“ lebt, in dem er es nicht mit den Dingen außer ihm zu tun hat, sondern „ständig mit sich selber“, da er „sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben [hat], daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe“ (Cassirer 1996, S. 49ff,). In dieser Perspektive ist das Seelische ein Medium, in dem sich Wirklichkeit zum Ausdruck bringt und umgekehrt, „die Wirklichkeit selber zu einem Ausdrucksmittel seelischer Gestaltung wird“ (Salber, 2015, S. 12).

Die Radikalität dieser These Cassirers, dass der Mensch nicht als Subjekt einer an sich seienden Wirklichkeit gegenübersteht, scheint noch lange nicht wirklich in ihrer grundlegend anderen Perspektive auf das, was als Geist oder Seelisches gilt, begriffen zu sein. Zu sehr ist die traditionelle Erkenntnistheorie und mit ihr die Psychologie und damit auch die Psychoanalyse der Subjekt-Objekt-Trennung verhaftet.

Diese Auffassung hat vor allem auch Konsequenzen für das Verstehen des fremden Psychischen. Als symbolische Formung ist der Andere nicht das fremde Außen, sondern immer schon einbezogen in ein Ausdrucksgeschehen. Ursprünglich ist uns die Welt und damit der Andere nur als ein Ganzes von Ausdruckswerten gegeben. Mit der sinnlichen Wahrnehmung des Anderen ist immer ein Bedeutungsgehalt verbunden, den wir ihm nicht nachträglich geben. Leben in einem „symbolischen Universum“ verändert auch den Subjekt-Begriff. Subjekt kann nun nicht mehr das einzelne Individuum sein, sondern ist immer ein ganzer Handlungszusammenhang. „Subjektivität“ ist „das Ganze der Wirklichkeit“(Cassirer 1994, S. 84, kursiv im Orig.). Dieses Ganze der Wirklichkeit ist aber nur zu fassen in den Bedeutungs-Metamorphosen von Handlungs- oder Wirkungseinheiten, in denen sich die Wirklichkeit ausgestaltet (Salber 2003, S. 71). Das symbolische Universum Cassirers gliedert sich aus in den Ausdrucksbildungen von Wirkungseinheiten. Sie geben „der Wahrnehmung gleichsam die ursprüngliche Farbe der Realität“, machen sie erst zu etwas Wirklichem und Wirksamem. Wirklichkeit erfahren wir nur in der „Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit, im Urphänomen des Ausdrucks und des ausdrucksmäßigen Verstehens“. (Cassirer 1994, S. 86). Diese Ausdrucksphänomene übergreifen das Individuelle und zeigen sich im Atmosphärischen des Geschehens.

Merleau-Ponty (1966) fasst das Ausdrucksgeschehen noch radikaler als Cassirer. Er fasst es in seinen sinnlich-leiblichen Formen und damit ebenfalls in seiner materialen Symbolik. Im Begriff der Leiblichkeit macht er zur Grundlage unseres In-der-Welt-Seins unseren Umgang mit ihr. So wie auch Erich Rothacker (1966, S. 72ff.) von einer Umgangswelt als primären Bezugspunkt ausgeht, auf den sich unser Erleben aufbaut, so erfahren wir auch nach Merleau-Ponty die Welt nur dadurch, dass wir uns in ihr bewegen, nur im Umgang mit ihr. Diese leiblich-sinnliche Erfahrung von Welt ist von Anfang an eine ganzheitliche, nicht aufzutrennen in die einzelnen Sinnesmodalitäten. Sie wirken zusammen und das erfahren wir in materialen Qualitäten: Sprödes, Zerbrechliches, Elastisches, Weiches, Hartes, Glühendes, Kühles, Warmes, Dumpfes, Trockenes. Die Synthese der Sinne vollzieht sich nicht als ein logischer Akt, sondern vollzieht sich im Bewusstsein eines tätigen Umgangs mit dem Gegenstand.

Kultur, die für Merleau-Ponty in der Gestalt des Anderen existiert, der in seiner Leibhaftigkeit „der erste aller Kulturgegenstände“ ist, wirkt von Anfang an als Medium mit. Auch für ihn gilt, dass es Subjektivität nicht für sich gibt, sondern nur im Übergang zu einem Anderen hin. Beide gehören zu einer gemeinsam geteilten Welt (ebd., S. 404). Der andere Leib ist „so etwas wie die wunderbare Fortsetzung“ der eigenen Intentionen und daher bilden der eigene und der fremde Leib „ein einziges Ganzes, zwei Seiten eines einzigen Phänomens“ (ebd.) und zwar als Übergang.

Die Philosophien von Cassirer und Merleau-Ponty rücken den Symbolcharakter der Wirklichkeit als ein a priori heraus. Wirklichkeit gibt es nicht als ein an sich, sondern nur, indem sie sich in Anderem fortsetzt und modifiziert. Wirklichkeit gibt es nur in Wirkungseinheiten. Mit dem Begriff „Feld“ hat Merleau-Ponty auf Zwischenwelten von Wirkungseinheiten verwiesen. Das „Feld“ ist nach ihm nichts Gegenständliches, sondern ein „Dazwischen“ ist, das als unbewusste Wirksamkeit ein Feld gliedert (Merleau-Ponty 2004, S. 233). Die Zwischenwelt als „Feld“ erschließt sich nicht in einer additiven Aufzählung ihrer Gegebenheiten, sie ist vielmehr eine „offene Einheit“, die in Bildungen und Umbildungen sich entwickelt.

Zwischenwelt und Kunst

Die Psychästhetik des Alltags zeigt sich in den Ausdrucksbildungen von Aufwachen, Frühstücken, Zeitungslektüre, Einkaufen, Sich-Kleiden, Heimwerken, Weihnachten, Arztbesuche etc. Wilhelm Salber hat eine solche Ausdrucksbildung am Beispiel des Einkaufens auf Wochenmärkten beschrieben:

„Alltagskunst, wie die runden Körbe und eckigen Kisten mit vielversprechenden Früchten und Gemüsen gefüllt werden, wie ihre Farben zueinander stehen, wie sich die Gerüche der Kräuter ausbreiten und wie das alles zum anfassen lockt.

Dazwischen werden Kleider entfaltet, gehäuft, ausgehängt; modische Dessous zum halben Preis, darunter bunte und gemusterte Stoffe. Schmuck, schön ausgebreitet, ergänzt das. Dann kommt wieder etwas, das dazu beiträgt, die Kleider zu füllen: Milch, Käse, Fleisch, Brot, Hühner, Wild, auch ein Angebot von Fisch. Das alles umwirbt den Gang zwischen den Ständen der Anbieter“ (Salber 2003, S. 6f).

Das sind sinnlich-leibliche Beschreibungen einer Umgangswelt, in der Sinnliches nicht als bloße Vorstufe unserer Erfahrung gefasst wird, sondern als lebendiges In-der-Welt-Sein (Straus 1978). So wird die Ästhetik des Marktes sinnlich als „eine Wirkwelt“ erfahrbar, denn

„der Weg (über den Markt, W. P.) ist ein ununterbrochenes Wirken: aufnehmen, sortieren, anfassen, riechen, wiegen, tauschen, zahlen, suchen, enttäuscht werden, finden, Passendes ergänzen, ‚vergessen‘ was sich nicht einfügt“ (ebd.). Die Ästhetik eines Wochenmarktes stellt einen besonderen Zusammenhang mit seinen eigenen Maßverhältnissen heraus, der wie ein Werk zu fassen ist.

In den Beschreibungen eines Wochenmarktes, die seine Ästhetik als eine eigene Gestalt heraushebt, wird noch einmal deutlich, dass sich die sogenannte „ästhetische Erfahrung“ nicht  auf die Erfahrung mit Kunstwerken eingrenzen lässt. Wir wissen nur nichts davon, dass wir von den Angeboten des Marktes bewegt werden, indem wir auf Passendes achten, aber auch plötzlich etwas kaufen, was wir noch gar nicht im Sinn hatten, uns anregen lassen von Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch, was dann seine Fortsetzung in den Wirkungseinheiten von Kochen und Essen findet. Die Ästhetik des Marktes zeigt uns, wie sich das Seelische in der Behandlung von Wirklichkeit selbst versteht. Der Weg über den Markt lässt uns verstehen, wie wir Wirklichkeit aufgreifen und in Anderem weiterführen. Wie schon erwähnt, lässt er uns einen bedeutsamen Zusammenhang verspüren, den wir aufsuchen, weil er z. B. auch eine Ordnung in den wöchentlichen Verlauf unseres Alltags bringt. Die Verfassung, die uns den Gang über einen Wochenmarkt gehen und genießen lässt, geht dann wahrscheinlich über in die Verfassung des Kochens, die wiederum eine andere ästhetische Organisation aufruft. Die ist vielleicht bestimmt von den Forderungen, die Rezepte an uns stellen, denen wir nachkommen wollen oder Abweichungen riskieren. Wir müssen dabei herausfinden, was zu wem passt zusammen, wo vielleicht schon etwas zu viel oder noch zu wenig ist und wie wir das nur im sinnlichen Abschmecken und Riechen erfahren können, um endlich sagen zu können: so ist es jetzt gut oder sogar perfekt. Andererseits kann es auch völlig daneben gehen und das, was mit viel Aufwand produziert wurde, ist ungenießbar und verdirbt vielleicht die Stimmung für den Rest des Tages. Das alles geschieht implizit, weil das Seelische ein Gespür für Entwicklungen hat, in denen aber zugleich andere Tendenzen aufkommen, die die eingeschlagene Entwicklungsrichtung stören und umdrehen können. Das Kochen ist so ein riskantes Entwicklungswerk: ein bißchen zu viel von einem Gewürz und schon kann das ganze Werk ruiniert sein. Das implizite Verstehen wird dabei getragen von den Wirkungsqualitäten, die „zwischen“ dem immer wieder Abschmecken beim Kochen verspürt werden. Am Kochen kann der Werkcharakter der Alltagskunst sehr deutlich veranschaulicht werden, weil am Schluss ja auch ein Werk auf dem Tisch steht und die Köche renommierter Restaurants sich auch als Künstler verstehen. Von da aus entwickelt sich auch ein Weg zu „der“ Kunst, denn „kein Kunstgebilde kommt ins Leben ohne Entwicklungsprozesse des Alltags – aber es entwickelt sich auch nichts im Alltag, an dem nicht Gebilde, wie die Kunst sie bringt, beteiligt sind“ (Salber 2002, S. 32).

Das lässt sich an einem Kunstwerk zeigen, das eine alltägliche Handlung, das Umarmen, aufgreift und uns in der Gestalt eines gemalten Bildes mit dem unbewussten Zusammenhang, der Zwischenwelt des Umarmens, konfrontiert. Aber auch hier erfassen wir nur den Zusammenhang dieses Bildes, indem wir uns auf eine Entwicklung mit den Wirkungen dieses Bildes einlassen. Indem wir uns einem solchen Entwicklungsprozess in der Auseinandersetzung mit den Kunstwerken stellen, erfahren wir über das Erleben des Bildgefüges einen Zusammenhang, der auch den Alltag unserer Umarmungen ausgestaltet. Salber meint daher auch, dass „Kunst wie ein Zwilling des gelebten Bildes ins Spiel kommt“, aber als ein „Zwilling, der spiegelt, der ergänzt, der aber auch ganz anders sein kann, der Widersacher, der Versucher, der alles verkehrt“ (ebd., S. 37f.).

Wir gehen vielleicht deshalb gerne in ein Museum oder in Kunstausstellungen an Wochenenden, aber auch ins Kino, Theater oder Konzerte, weil wir dabei uns Werken zuwenden, „ohne daß wir unsere gewohnten und selbstverständlichen Interessen verfolgen müssen“ (ebd., S. 43). Indem wir gleichsam unsere gewohnten Handlungen unterbrechen und uns auf Entwicklungen einlassen, in die uns die Kunst, der Film, die Literatur, die Musik hineinziehen, lassen wir, wie im Traum, Komisches, Seltsames, Befremdliches, Erschreckendes zu, als ließen wir uns so einmal mit einer „verkehrten Welt“ konfrontieren, die die Kunst herausstellt. Dies soll nun am Beispiel einer Auseinandersetzung mit den Wirkungsqualitäten eines Bildes von Picasso veranschaulicht werden.

Das Bild „Die Umarmung“ von Picasso aus dem Jahre 1971 ist sein letztes Ölbild. Das Thema „Umarmung“ hat ihn aber schon Zeit seines Lebens umgetrieben. Es wird hier gewählt, weil dieses Thema eine alltägliche Gegebenheit ist und, weil dieses Bild auf den ersten Blick zeigt, dass Umarmungen Wirkungseinheiten sind.[2]

Der erste Blick zeigt uns „Umarmung“ als ein Menschenknäuel, aus dem heraus Füße und grobschlächtige Hände herausragen, als wollten sie sich irgendwie aus diesem Knäuel befreien. Zugleich ist der Blick aber auch die Mitte des Bildes zentriert, in der wir einen nicht erigierten Penis mit Hoden sehen, das männliche Gemächt, und zugleich sucht man, irgendwie verschämt, nach der Vagina, die diagonal zum Penis in den Blick kommt. Dann fallen zwei Brüste auf, von denen eine merkwürdig zu einem Bein gehört, das mit einem anderen überkreuz liegt. Dazwischen die Vagina und zugleich die Frage: zu wem gehört die andere Brust. Dabei sieht man einen darunter liegenden Leib, wie erdrückt, aus dem sich ein dicker Arm senkrecht emporhebt, der das Gesicht bis auf ängstlich wirkende Augen verdeckt. Dieser Leib scheint auf einem Sofa zu liegen, dessen Armlehne schemenhaft zu sehen ist, aber sonst nicht mehrt zu sehen ist, als hingen die Leiber in der Luft. Dieses Knäuel oder ist es ein Knoten droht überschwemmt zu werden von einer blauen Farbe, als wäre da eine wie aus dem Nichts heranbrausende Welle, die das Paar zu verschlingen droht. Das Weiße, aus dem die Welle hervorbricht, gibt es auch noch einmal am rechten unteren Eck des Bildes, als sei das Bild noch nicht fertig. Darin zu sehen ist ein Fuß, isoliert, ohne Verbindung zu den anderen Körperteilen. Darunter ein schwarzes Etwas, das sich am rechten Bildrand in zwei sich verklammernden Händen fortsetzt. Dann wieder der Blick zum Blau, das nun tatsächlich wie eine Welle mit ihrer kräuselnden Oberfläche sich zu erkennen gibt. Irgendwie ist man hier froh, etwas klar und deutlich zu erkennen, wie Penis und Vagina. Von einem der Füße scheint die Welle aufgehalten zu werden, während der andere Fuß und die senkrecht herausragende Hand schon überschwemmt werden. Wie um etwas überhaupt festhalten zu können, zentriert sich der Blick wieder auf die Mitte des Bildes mit Penis und Vagina. Sie beide sind das Zentrum, als könne von ihnen her der Knoten, die verwickelten Körper entwickelt werden. Aber so sehr man sich auch bemüht, es gelingt keine Zuordnung: was gehört wie zu welchem Körper. Es bleibt die Verwicklung, von der man sich irgendwie erdrückt fühlt, wie die Figur auf der Couch mit ihrem ängstlichen Blick.

Jetzt fallen auch durch ein Schwarz links und rechts des Bildes zwei markante Stellen, wie zwei Pole auf, die das Penis-Vagina-Zentrum brechen. In Verbindung mit dem senkrecht nach oben gerichteten Arm wirkt das wie ein Befreiungsversuch, aus dem Knäuel herauskommen zu wollen. Das Schwarze ist ein Kontrast zu blassen Körpern, aber auch ein Kontrast zu dem eigentlich auch blassen Blau. Rätselhaft bleibt das Weiße an dem Arm, es wirkt wie eine Manschette oder wie ein Verband, als gäbe es da auch eine Verletzung. Das wendet den Blick wieder auf das Weiße als Hintergrund, aus dem die Welle kommt, als käme das alles aus einem Nichts, als hätte es keinen Anfang und kein Ende, keine Geschichte.

Die Umarmung als ein plötzliches, wie aus dem Nichts kommendes Geschehen, das, wie bei einem Knoten, kein Anfang und kein Ende erkennen lässt, sondern nur Verwicklung, Durcheinander, Verknotetes, Festgezurrtes, Überschwemmendes, aus dem man sich befreien will, aber nicht mehr weiß, wie das gehen soll, sodass vielleicht nur noch roher Sex – Penis und Vagina – bleibt.

Das Bild bricht radikal mit allen Vorstellungen, die wir uns von Umarmungen machen. Es lässt nichts Romantisches, Sinnlich-Zärtliches, Anschmiegsames, Aufeinander-Eingehendes aufkommen. Stattdessen Grobes, Verwickelndes, Verschlingendes, Fragmentiertes, Angst, Bedrohung, Einengendes. Das stößt uns ab, das wollen wir nicht sehen, wenn wir an Umarmung denken. Wir wollen Umarmung lieber in einer zärtlichen, reinen Verschmelzung sehen, uns aber nicht auf das einlassen, was an Verwicklungen die Wirkungseinheit „Nähe“ noch alles mit sich bringt.

Picassos Bild „Die Umarmung“ aus dem Jahre 1971 zeigt uns, wenn wir uns auf es einlassen nicht bloß eine andere Seite von Umarmungen, sondern in seinen Wirkungsqualitäten von Verschlingendem, Einengendem, Verwickeltem, Fragmentierten was in Umarmungen gleichsam „dazwischen“ wirkt. „Zwischenwelten“ „Figurationen, die alle einzelnen Dinge durchqueren und durchkreuzen“ und die unser vertrautes Bild von Umarmung stören und es uns so neu sehen lassen (Salber 1994, S. 94). Sie sind nichts Gegenständliches, aber sie „‚sind‘, weil sie Verwandlung(en) und ihre Transfigurationen darstellen“ (ebd., S.95).

Marcel Proust hat in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ die Zwischenwelt der Belle Époque in den Beschreibungen von Spaziergängen, den Gesprächen in den Salons, dem Turm der Kathedrale von Combray, der Darstellungen von Bildern oder Musikerlebnissen zum Ausdruck gebracht. Dies soll hier nun an zwei Bespielen deutlich gemacht werden. So an Giottos Fresko „Caritas“, das als Reproduktion in seinem Arbeitsraum hing. Er hatte lange Zeit kein Vergnügen an diesem Bild, da „deren graues und ausdrucksloses Gesicht genau das gleiche war, wie es in Combray gewissen hübschen, frommen und gefühlsarmen Bürgersfrauen eignete […]. Später erst habe ich begriffen, daß die eigenartige Schönheit dieser Fresken gerade darauf beruhte, daß in ihnen das bestimmte Symbol einen so großen Raum einnahm und daß die Tatsache, daß es nicht als Symbol – da der versinnbildlichte nicht als solcher ausgedrückt war – sondern als Faktum dargestellt wurde, als wirklich erlebt und materiell gehandhabt“ (Proust 1982, S.111ff.).

Gerade die Darstellung der Caritas als eine „derbe Wirtschafterin“ bringt zum Ausdruck, was für eine Last und Arbeit die christliche Nächstenliebe ist.

Ein anderes Beispiel findet sich in der Darstellung einer Abendgesellschaft, in der ein Musikstück für Klavier und Geige aufgeführt wurde:

„Zunächst hatte ihn nur der materielle Reiz der von den Instrumenten entsandten Töne entzückt, und es war bereits ein großer Genuß für ihn gewesen, als unter der zarten, aber zäh sich durchsetzenden, lückenlos führenden Geigenstimme auf einmal der Klavierpart sich erhob, mit einem feuchten Plätschern, vielfarbig, in ungebrochenem Fluß, aber rhythmisiert wie das meergraue Wogen der vom Mondschein in eine weichere Tonart transponierten Brandung. Von einem gewissen Augenblick an aber hatte er, ohne daß er, was ihm eigentlich so gefiel, deutlich sich abzeichnen sah oder hätte benennen können, wie verzaubert die Melodie oder Harmonie – er wußte es selber nicht – festzuhalten versucht, die an sein Ohr drang und ihm die Seele auftat, so wie gewisse Rosendüfte in feuchter Abendluft die Eigentümlichkeit haben, die Nasenlöcher zu weiten. Vielleicht war es, weil er von Musik nichts verstand, daß er einen so unklaren Eindruck haben konnte, einen jeder Eindrücke jedoch, die vielleicht die einzigen rein musikalischen sind, da sie an keine Dimension gebunden, da sie ursprünglich sind und nicht auf andere Eindrücke rückführbar. Ein Eindruck dieser Art ist einen Augenblick lang wirklich sine materia“ (ebd., S. 277 f, kursiv im Orig.).

In dieser Beschreibung des Hörens eines Musikstückes erfahren wir, wie wir es nicht nur im Hören wirklich erfassen, sondern erst, wenn wir uns auch anderen sinnlichen Eindrücken, den Rosendüften in feuchter Abendluft, öffnen.

Die Zwischenwelt ist eben eine Wirklichkeit „sine materia“, die sich in Wirkungsqualitäten zeigt.

Die Zwischenwelt in psychotherapeutischen Behandlungen

Die Zwischenwelt in psychotherapeutischen Behandlungen[3] ist ebenfalls, weil sie nichts Gegenständliches ist, nicht sichtbar, aber als ein gemeinsam sich herstellender Wirkungszusammenhang sinnlich-materiell spürbar. Gegenüber dem ästhetischen Zusammenhang der Alltagserfahrung, der erst in mehreren methodischen Schritten herausgearbeitet werden kann, wird die Ästhetik der psychotherapeutischen Behandlungssituation von Anfang an durch die Herstellung einer besonderen seelischen Verfassung erfahren. Diese Verfassung entwickelt sich aufgrund der Grundregel für psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Verfahren, auf die sich beide Seiten des Prozesses verpflichten: Sich den freien Einfällen zu überlassen für die Patientin und eine gleichschwebende Aufmerksamkeit walten zu lassen für die Psychotherapeutin. Das setzt einen seelischen Prozess in Gang, der beide Seiten überformt, logisch nicht mehr zielgerichtet ist, aber trotzdem nicht ziellos ist. Er verläuft ähnlich wie bei der Herstellung eines Kunstwerks. So beschreibt der Maler Matisse den Anfang des Bild-Malens wie folgt:

„Wenn ich auf einer sauberen Leinwand mit jedem Pinselstrich in bestimmten Abständen blaue, grüne und rote Farbtupfer setze, so verliert jede vorige an Bedeutung. […] Die Beziehungen der Farbtöne untereinander müssen so festgelegt werden, daß diese nicht ab-, sondern aufgebaut werden. Eine neue Kombination von Farben wird der ersteren folgen und die Gesamtheit meiner Konzeption zeigen“ (Matisse zit. n. Dewey 1988, S. 158, kursiv im Orig.).

Von Anfang an ist also ein Formzusammenzusammenhang da. Dieser zeigt sich in psychotherapeutischen Behandlungen unmittelbar in der szenischen Begegnung, der über das dabei Gesagte hinaus geht. Folgende Szene verdeutlicht das:

„Bevor ich die Tür richtig öffnen kann, stürmt Frau M. in den Flur. Sie greift stürmisch nach meiner Hand, nimmt sie in einer merkwürdig sexuell stimulierenden Weise zwischen ihre eigenen Hände und tritt mir dabei sehr nahe, meine normale Intimdistanz überschreitend: ‚Hallöchen … Ich bin so froh, dass ich mit Ihnen sprechen kann.“ (Leuzinger-Bohleber 2014, S. 925).

In dieser kurzen Szene zeigt sich ein Formzusammenhang im Ausdrucksphänomen des Stürmischen, den Anderen sexuell stimulierend Überrollenden, das die Beteiligten gleichsam gefangen nimmt (Intimgrenzen überschreitend). Zugleich aber taucht im „Hallöchen“ und in dem Satz „Ich bin so froh, dass ich mit Ihnen sprechen kann!“ am Horizont auch ein „Anders-Sein-Können“ auf. Wir sehen also in dieser Szene die Wirkungsqualität einer Gestalt (Stürmisches), die zugleich im Übergang zu noch unbestimmten Gestaltentwicklungen ist.

Die seelische Verfassung psychotherapeutischer Behandlungen bildet wie bei der Herstellung von Kunst einen Rahmen, durch den ein Ganzes als Entwicklungsprozess verspürt wird, ein Entwicklungsprozess, in dem sich die Wirkungsqualitäten von Gestalten in andere Gestalten fortsetzen. Am Beispiel der oben dargestellten Szene lässt sich zum Beispiel fragen, wie weit lässt sich diese Gestalt leben, wo findet sie in der Behandlung ihre Drehgrenze und wo muss sie sich auf Verwandlungen einlassen.

Sowohl im Verlauf einer Stunde als auch im Verlauf einer kompletten Behandlung vollzieht sich der Prozess im Sinne ästhetischer Gesetze, wie sie oben Matisse beschrieben hat. Ein Prozess, der sich herstellt durch Abstimmungen, Ergänzungen, Polarisierungen, Steigerungen, Verdichten, Verschieben, Verrücken und in dem sich Gestalten in anderen Gestalten fortsetzen. Zugleich zeigen sich darin „Zwischenwelten“ in Form das Geschehen quer durchziehender Wirkungsqualitäten.

Der amerikanische Psychoanalytiker Thomas Ogden hat in einem kleinen Aufsatz (Ogden 2006) eine Behandlungsstunde beschrieben, in der sich eine Zwischenwelt entfaltete. Die Behandlungsstunde begann damit, dass ihm ein Brief auffiel, der schon seit Tagen neben seinem Behandlungsstuhl lag und auf dem er sich zahlreiche Notizen gemacht hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass dieser Brief von einem italienischen Kollegen stammte und eine vertrauliche Angelegenheit behandelte, die er vergessen hatte. Aus dieser ganz anderen Aufmerksamkeit „erwachend“, frage er sich, wie das zum aktuellen Geschehen der Stunde passte. Aber zunächst blieb seine Aufmerksamkeit doch bei dem Brief, seinem vertraulichen Inhalt, der aber gar nicht zu der Form des Briefes, nämlich eine Postwurfsendung, passte. Eine Reihe von Assoziationen tauchten auf, die aber gar nicht zu dem Geschehen zwischen ihm und dem Patienten passte. Als er dann seinem Patienten bewusst zuhörte, nahm er Wirkungsqualitäten wahr: die Stimme des Patienten klang müde und hoffnungslos, er schien sich zu quälen, um freie Einfälle produzieren zu können, was in Ogden die durchgängige emotionale Gleichgültigkeit des Patienten wachrief. Es folgten dann bei Ogden eine Reihe von mehr theoretischen Überlegungen zu dem Geschehen, die aber ihm immer unpassend und klischeehaft erschienen, das in Grübeleien über berufliche Probleme sich fortsetzte, aus denen er wieder herausgerissen wurde als ihm einfiel, dass er seinen Wagen noch aus der Werkstatt abholen musste und dass er es nicht rechtzeitig schaffen könnte. Das löste Gefühle von Hilflosigkeit und Zorn aus, von Verlassenheit und Isolation in Verbindung mit körperlichen Empfindungen „von der Härte des Straßenpflasters, dem Gestank der Auspuffgase und der Grobheit der schmutzigen Glasfenster des Werkstatttores“ (ebd., S. 40f). Das versuchte er nun mit dem in Verbindung zu bringen, worüber der Patient gerade sprach: „dass seine Frau so sehr in ihre Arbeit vertieft war und sie sich beide am Ende des Tages erschöpft fühlten; dass sein Schwager einen finanziellen Rückschlag erlitten hatte und nun der Konkurs über ihm schwebte; dass er bei Joggen beinahe einen Unfall mit einem rücksichtlos fahrenden Motorradfahrer gehabt hatte“ (ebd., S. 41). Nun wurde die Stunde sogar noch von einem Anruf auf den Anrufbeantworter gestört, was in ihm die Erwartung weckte, vielleicht nach der Sitzung eine fröhliche Stimme hören zu können. Diese Erwartung verband sich zugleich wieder mit dem körperlichen Empfinden eines „kühlen Luftzugs“, der bis in seine Lungen drang, was ihm Erleichterung verschaffte. Im weiteren Verlauf fiel ihm dann ein, dass der Patient vor einiger Zeit erwähnt hatte, dass er sich ihm eher dann nahe fühle, wenn er mit seinen Deutungen im Unrecht sei. Auch weitere Szenen aus der Vergangenheit des Patienten fielen ihm ein und in Verbindung mit der Assoziationskette des Patienten kam es ihm nun vor, als versuche der Patient mit ihm über das Gefühl zu sprechen, dass die Analyse erschöpft, bankrott sei und im Sterben liege, dass die Analyse „nichts Lebendiges an sich hatte“ und dass er in den Augen des Patienten unfähig sei, „ihm anders als auf mechanische Art zu begegnen“ (ebd., S. 43).

Über das Verspüren von Wirkungsqualitäten wie »bestürzt«, »überrascht«, »misstrauisch«, »hilflos und zornig«, »Härte und Grobheit«, einen »kühlen Luftzug« im Gegensatz zu einer »stickigen Ruhe«; »Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit«, sich »verbissen« quälend, gelang es ihm nun, die „Zwischenwelt“ dieser Stunde mitzuteilen: „Ich dächte, unsere Zeit zusammen müsse ihm wie eine freudlose Pflichtübung vorkommen, als eine Art Fabrikarbeit, bei der man mit einer Zeitkarte ein- und aussticht. Ich hätte den Eindruck, so fuhr ich fort, als empfinde er die Analysestunden mit mir manchmal dermaßen hoffnungslos und erstickend, dass er sich vorkommen müsse, als werde ihm die Luft abgedrückt – und zwar in einer Umgebung, die nur scheinbar die Luft zum Atmen enthalte, eigentlich aber aus einem Vakuum bestehe“ (S. 43; kursiv W. P.).

Die Antwort des Patienten auf diese Intervention war folgende:

„Ja, aus Angst, nachts zu ersticken, schlafe ich bei weit geöffnetem Fenster. Öfter schrecke ich mit dem Gefühl auf, jemand wolle mich ersticken, als ob man mir eine Plastiktüte über den Kopf gezogen hätte“ (ebd.).

Danach „trat eine Stimmung ausgesprochener Gelassenheit und Erleichterung ein“ und zugleich wurde ihm „die kolossale Anstrengung bewusst, mit der Herr L. und ich regelmäßig versucht hatten, die Analyse vor dem Sturz in die Hoffnungslosigkeit zu bewahren“ (ebd., S. 44).

In seiner Nachbetrachtung der Stunde betont Ogden zum einen, dass alles, was ihn in dieser Stunde seelisch bewegt hat, auch wenn es nicht auf den Patienten bezogen war, zu der Wirkungsqualität der Sitzung gehört, und zum anderen, dass er so etwas wie eine Verwandlung dabei verspürte (ebd., S. 47). Dann waren es aber wohl vor allem die oben beschriebenen sinnlich erfahrenen Wirkungsqualitäten, die sich zu einem Bild des Mechanischen und Erstickenden vereinheitlichten, das aber im Schweigen am Ende der Stunde einen „fernen Donner“ als „abgewehrten Ärger“ für den weiteren Verlauf ankündigte. Hier zeigt sich, wie die Gestalten einer Zwischenwelt immer im Übergang zu anderen Gestalten zu sehen sind.

Wir erfassen die Ästhetik des Alltags, der Kunst oder einer Behandlungsstunde in den das Geschehen übergreifenden Wirkungsqualitäten, Wirkungsqualitäten wie Härte und Grobheit, Stickiges, Mechanische, (Ogden), Verschlingendes und Einengendes (Picasso), Derbes und Anstrengendes oder das Verspüren einer duftenden Weite (Proust), die die Atmosphäre der Werke jenseits der konkreten Inhalte bestimmen. Sie wirken wie unbewusste Strukturen, die nicht nur die Richtung eines analytischen Geschehens bestimmen, sondern auch das Verstehen der Kunstwerke. Die Wirkungsqualitäten sind die sinnlichen Ausdrucksformen von Zwischenwelten. Sie vereinheitlichen die verschiedenen Momente eines Kunstwerks, einer Behandlungsstunde oder auch unsere alltäglichen Handlungen in ein tragendes Bild, das das Geschehen zusammenhält und zugleich auch seine weitere Richtung bestimmt. In ihnen erfahren wir etwas, was unseren „wirklichen“ Austausch mit sich und den Dingen bewegt, der uns aber in der Regel nicht unmittelbar bewusst wird, sondern erst in einem Prozess, der in einer psychotherapeutischen Behandlung gezielt herbeigeführt wird.

Daniel Stern hat darauf aufmerksam gemacht, dass die psychotherapeutische Arbeit hauptsächlich von den „impliziten regulatorischen Erinnerungen“ bestimmt wird (Stern 2005, S. 129). Das Implizite verweist auf die Chancen und Begrenzungen des intersubjektiven Feldes und damit der „expliziten Agenda“ (ebd., S. 130). Das, was er das intersubjektive Feld nennt, ist die jeweils sich entwickelnde Handlungseinheit einer Behandlungsstunde oder eine Wirkungseinheit, wenn der gesamte Behandlungsverlauf in den Blick genommen wird.

Die Ausführungen Sterns zeigen, dass der Austausch von Worten in der psychotherapeutischen Behandlung eingebettet ist in eine „implizite Agenda“, die sich in verschiedenen Versionen zum Ausdruck bringt (Stern 2005, Blothner 2018). Dirk Blothner (2018) hat diese Versionen von Handlungseinheiten folgendermaßen beschrieben: die erste Version lässt sich im Sinne Rothackers als Umgangswelt kennzeichnen, in der wir die Dinge einfach tun, ohne darüber nachzudenken, wir „wissen“ einfach, was wir zu tun haben. Erst wenn wir in diesem Handlungsablauf gestört werden, verspüren wir den Handlungsablauf. In der zweiten Version holen wir „das Unbemerkte in den Vordergrund“ und nutzen es, um unseren Handlungseinheiten eine bewusste Richtung zu geben, was allerdings nicht selten eine Tendenz zu Polarisierungen und Spaltungen zutage fördert. In der dritten Version machen sich die Handlungseinheiten selbst zum Gegenstand. Damit verbunden ist ein Innehalten, eine Distanzierung von einem Sich-Treiben-Lassen, so dass wir verspüren können, wie wir in die Situation und in die Probleme geraten sind, die uns leiden lassen. Wir merken dabei, wie wir selber ein Teil dieser Probleme sind, aus welcher Not wir sie als vermeintliche Lösung hergestellt haben. Erst in dieser Version haben Deutungen im psychotherapeutischen Behandlungsprozess ihren Stellenwert und ihre Wirksamkeit. Es gibt aber noch eine vierte Version, in der die Handlungseinheiten verspüren, worin das Problem ihrer Konstruktion liegt, das aber nicht aus der Welt zu schaffen ist. Freuds Arbeit über Konstruktionen in der Behandlung verweist auf diese vierte Version (Freud 1937d).

Mit dem Konzept von Wirkungseinheiten blicken wir anders auf die Wirklichkeit. Indem wir auf Wirkungsqualitäten achten, kommt ein Zusammenhang, wenn auch oft nur vage, von Anfang an in den Blick. Aus diesem Zusammenhang lassen sich dann die Einzelheiten ableiten: wie passen sie dazu, wie ergänzen sie sich, was läuft dem Zusammenhang zuwider, wo drängt er vielleicht in eine ganz andere Richtung, die uns unangenehm wird? Von solchen Produktionen her können wir erst erfassen, was das Geschehen zusammenhält, in welche Richtung es drängt und was dabei ausgeschlossen werden soll. Der entscheidende Gesichtspunkt dabei ist jedoch, dass in dem Moment, in dem das Geschehen sich ereignet, es sich in seiner Entwicklung unbewusst selber versteht. Der Ablauf einer Behandlungsstunde ist aus sich heraus verständlich, wir müssen, sie nicht auf eine „geschichtliche Zeit“, eine erinnerte oder verdrängte Zeit, zurückführen, um sie zu verstehen.

In dieser Begegnung des Seelischen mit sich selber ereignet sich das „Dazwischen“ (Buber), ereignen sich die Zwischenwelten, in denen sich die Einzelmomente zu einem bildhaften Gefüge vereinheitlichen. Seelische Zusammenhänge entfalten sich in solchen Zwischenwelten, in denen nichts für sich alleine steht, alles gibt es nur in einem Zusammenhang mit Anderem, in dem es sich notwendig fortsetzt, ergänzt, ausbreitet, ordnet, umbildet. Solche Zwischenwelten haben jedoch nichts mit Harmonie zu tun, sie lassen sich vielmehr als „Drehpunkte“ (Salber) beschreiben. Zwischenwelten sind Drehpunkte, weil sie Übergangswelten sind. Es ist in diesen Zwischenwelten immer mehr „drin“ als wir auf den ersten Blick sehen. Das verbindet die Zwischenwelt mit dem Traum und mit der Kunst. (Salber 2015) Das „Mehr“ und das „Anders“, das die Zwischenwelten charakterisiert, lässt sich aber nur, wie schon erwähnt, über mehrere Versionen entfalten. Bezogen auf die Phänomene bedeutet das, dass wir uns nicht in den Einzelheiten verlieren, sondern zunächst das Ganze sehen, wie es sich uns in den Wirkungsqualitäten in einer ersten Version zeigt. Wenn wir uns das dann in einer zweiten Version genauer ansehen, bemerken wir, wie sich in diesem Ganzen Polaritäten bemerkbar machen, die auf mögliche Entwicklungsrichtungen des Ganzen aufmerksam machen. In einer dritten Version sehen wir dann diese Polaritäten als die bewegenden Verhältnisse dieses Ganzen bis wir dann in einer vierten Version verstehen können, dass diese Verhältnisse ein unvermeidliches Paradox sind, das wir annehmen und mit dem wir umgehen müssen.

Das Paradox, das sich in diesen Versionen immer wieder zeigt, ist, dass es einen Zusammenhalt im Seelischen nur gibt, indem es sich in andere bricht und dadurch zugleich auch immer entzweit.

Zwischenwelten sind Verwandlungswelten, weil sie immer im Übergang zu anderem hin sind, im Grunde, wie Goethe das über Gestalten sagte, dass sie ein für einen Augenblick Herausgehobenes aus einem ständigen Prozess der Bildung und Umbildung sind. Es gibt sie nur, wenn wir ihre Verwandlung, ihr Anderswerden schon mitdenken. Aber zugleich brauchen die Verwandlungen einen festen Halt in Gestalten. Eine Zwischenwelt zeigt sich also als ein gestalthafter Sinn-Zusammenhang, als ein bewegendes und bewegtes Bild, das sich in seiner Entwicklung selbst versteht. Wenn wir solche gestalthaften Verwandlungswerke zur Grundlage des Verstehens seelischer Zusammenhänge machen, sehen wir die Welt wirklich anders.

[1] Ich verwende in diesem Text das generische Femininum.

[2] Es wäre sicher spannend, eine Ausstellung der Bilder Picassos zu diesem Thema „Umarmung“ zu machen, um herauszuarbeiten, wie sich diese Wirkungseinheit verschieden und zugleich doch in seinen durchgängigen Zügen darstellen lässt.

[3] Ich schließe alle psychotherapeutischen Behandlungen ein, egal welcher Fachrichtung, auch wenn sie sich nicht, wie z.B. die Verhaltenstherapie, auf die Herstellung einer besonderen seelischen Verfassung explizit beziehen.

Literatur

Bakewell, S. (2016): Das Café der Existenzialisten. Freiheit, Sein & Aprikosencoctails. München: Beck.

Blothner, D. (2018): Zeitgenössische Medienwirklichkeit und Politik – Leben in der zweiten Version? In: anders – Zeitschrift für Psychologische Morphologie, S. 5-17.

Buber, M. (1994): Das dialogische Prinzip. Gerlingen

Cassirer, E. (1994): Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Cassirer, E. (1996): Versuch über den Menschen. Hamburg: Meiner.

Dewey, J. (1988): Kunst als Erfahrung. Frankfurt/M. (Suhrkamp)

Fitzek, H., Salber, W. (1996): Gestaltpsychologie. Geschichte und Praxis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Goethe, J. W. v. (1998a): Morphologie. Die Absicht eingeleitet. In: Goethes Schriften Hamburger Ausgabe, Bd. 13, S. 54-59. München (Beck-Verlag)

Goethe, J. W. v. (1998b): Zur Farbenlehre. In: Goethes Schriften Hamburger Ausgabe, Bd. 13. München (Beck-Verlag)

Hagner, M. & Wahrig-Schmidt, B. (Hg.) (1992): Johannes Müller und die Philosophie. Berlin: de Gruyter.

Leuzinger-Bohleber, M. (2014): Den Körper in der Seele entdecken. Embodiment und die Annäherung an das Nicht-Repräsentierte, in: Psyche- Z Psychoanal 68, 2014, 929-950.

Merleau-Ponty, M. (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter.

Merleau-Ponty, M. (2004): Das Sichtbare und das Unsichtbare. München: Wilhelm Fink.

Ogden, Th. H. (2006): Das analytische Dritte, das intersubjektive Subjekt der Analyse und das Konzept der projektiven Identifizierung. In: Altmeyer, M., Thomä, H. (Hg.): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse,. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 35-64

Rothacker, E. (1966): Zur Genealogie des menschlichen Bewusstseins. Bonn (Bouvier)

Salber, W. (1971): Metpsychologie. In ders.: (Hg.): Perspektiven morphologischer Psychologie, Bd. 2. Ratingen: Henn Verlag. S. 53-72.

Salber, W. (1988): Der psychische Gegenstand. Bonn: Bouvier.

Salber, W. (1997): Traum und Tag. Werkausgabe Wilhelm Salber Bd. 15, Bonn (Bouvier)

Salber, W. (1994): Undinge. Goyas schwarze Bilder. Köln (Verlag Buchhandlung Walther König)

Salber, W. (2003): Fünfundsiebzig Notizen zur Metapsychologie. Bonn: Bouvier.

Salber, W. (2009): Morphologie des seelischen Geschehens. Werkausgabe Wilhelm Salber, Bd. 3. Bonn: Bouvier.

Salber, W. (2015):Radikale Ganzheitspsychologie. Medium Wirkungs-Einheit. Berlin: HPB University Press.

Seel, M. (2000): Ästhetik des Erscheinens. München/Wien: Hanser

Soldt, Ph. (2007): Das Problem der ästhetischen Erfahrung zwischen Philosophie und Psychoanalyse, in:  ders. (Hg.): Ästhetische Erfahrungen. Neue Wege zur Psychoanalyse künstlerischer Prozesse, S. 7-32. Gießen: Psychosozial Verlag

Stern, D. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart (Klett-Cotta)

Stern, D. (2005): Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Frankfurt/M. (Brandes & Apsel)

Steiner, G. (2014): Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens. Berlin: Suhrkamp

Winnicott, D. W. (1979): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta.

Zirfas, J. (2018): Ästhetische Erfahrung. In: Gödde, G./Zirfas, J. (Hg.): Kritische Lebenskunst. Analysen – Orientierungen – Strategien. S. 134-142. Stuttgart: Metzler

 

Artikel und Beiträge von Werner Pohlmann in Zwischenschritte

  • Zum 100. Geburtstag von Donald W. Winnicott (2/97)

Autor:in

Diplom-Psychologe Werner Pohlmann ist niedergelassener Psychanalytiker in Köln, Dozent am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie in Düsseldorf und Lehranalytiker der DGPT und der DPG.

Kontakt: pohlmann.werner@web.de

Nach oben