Das Verständnis des Mitternachts-Lieds scheint keiner großen Anstrengung zu bedürfen …
Nach philosophischen Studien und Wanderjahren in Medien und Industrie arbeitet Dr. Daniel Salber, Jahrgang 1956, heute mit der Morphologischen Psychologie in Forschung, Beratung und Unterricht. Damit setzt er die von seinem Vater, Wilhelm Salber, an der Universität Köln entwickelte Lehre fort.
Kontakt: info@danielsalber.de
„Eins!
O Mensch! Gib acht!
Zwei!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Drei!
„Ich schlief, ich schlief-,
Vier!
Aus tiefem Traum bin ich erwacht:-
Fünf!
Die Welt ist tief,
Sechs!
Und tiefer als der Tag gedacht.
Sieben!
Tief ist ihr Weh-,
Acht!
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Neun!
Weh spricht: Vergeh!
Zehn!
Doch alle Lust will Ewigkeit-,
Elf!
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Zwölf!
Das Verständnis des Mitternachts-Lieds scheint keiner großen Anstrengung zu bedürfen. Es verbreitet Zuversicht, ähnlich wie Udo Jürgens 1967: „Und immer, immer wieder geht die Sonne auf.“ Das berühmte Gedicht steht im „Zarathustra“, dritter Teil, vorletztes Kapitel. Nur wenige Nietzsche-Interpreten haben sich auf dieses Gedicht ausführlich eingelassen, der Sinn erscheint allzu klar. Ebendies muss unseren Verdacht erwecken: Wer oder was spricht hier? Was heißt „Lust“, was „Ewigkeit“?
Was dieser zentralen Stelle im „Zarathustra“ den vertrauten Klang gibt, ist die romantische Allegorik. Sie führt aber auf die falsche Spur, auf die verblichene Metaphysik. Erst wenn man das Gedicht im Kontext des Zarathustra genau liest, wird sichtbar: Die konventionellen Figuren der Allegorie werden umgewertet, zerbrochen, um Raum für ein ganz anderes Denken zu schaffen, das uns heute noch genauso angeht wie zu Zeiten Nietzsches. Die geläufige Form des Mitternachts-Lieds wirkt wie ein Schutz seiner paradoxen Wahrheit vor dem Zugriff weltanschaulicher ‚Drehorgeln‘.
Dieser These geht die folgende Interpretation nach. Sie ist ein Versuch, Nietzsches Text aus morphologischer Perspektive neu zu übersetzen. Dieses Vorgehen kann sich auf Nietzsche selbst berufen, der seine Psychologie als „Morphologie“ bezeichnete:
„Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängen geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht zu fassen, wie ich sie fasse – daran hat noch Niemand in seinen Gedanken selbst gestreift“ (JGB 23).
„Das andere Tanzlied“ heißt das Kapitel, das mit dem Mitternachts-Gedicht schließt. Das ‚andere‘ Tanzlied weist daraufhin, dass hier ein erstes ‚Tanzlied‘ (im zweiten Teil des Zarathustra) verändert wieder aufgegriffen wird. Die Frage ist, welche Wendung das ‚Tanzlied‘ im ‚anderen Tanzlied‘ nimmt – welche Wendung also der Weg Zarathustras nimmt.
Das erste „Tanzlied“ spiegelt noch den unkomplizierten Zarathustra: Er besingt die Liebe zum Leben, die Liebe zu dessen „veränderlicher“, „wilder“ und selbstverständlich weiblicher Natur. Wir kennen diese fröhlichen Lobgesänge auf das Wilde, und als ‚multikulturelle‘ Menschen des 21. Jahrhunderts tanzen wir sie leichten Herzens mit. Im Kapitel „Das andere Tanzlied“ kommt dagegen ein befremdlicher Zwischenton auf. Die Liebe zum Leben kriselt: „Du liebst mich lange nicht so sehr, wie du redest; ich weiß, du denkst daran, dass du mich bald verlassen willst“, klagt das Leben. Zarathustra will aber nicht einfach mit dem Leben Schluss machen, er setzt noch einen drauf: „Nach dem Takt meiner Peitsche sollst du mir tanzen und schrein!“ verkündet er dem verstörten Lebens-Weibchen.
Was ist passiert? „Das andere Tanzlied“ ist das Tanzlied andersherum, bisher führte das Leben, jetzt führt „die Peitsche“. Das schwülstige Bild drückt die Wendung Zarathustras aus, der mit der unendlichen Lebens-Fülle bricht, indem er sie in eine entschiedene Form zwingt. Das Lebens-Weib erklärt die überraschende Wandlung seines Partners: Ihn habe die „alte schwere, schwere Brumm-Glocke“ beeindruckt, die zu seiner Höhle hinaufklinge. Was die Glocke geschlagen hat, erfahren wir schließlich aus dem Mitternachts-Gedicht, mit dem „Das andere Tanzlied“ schließt („Eins! Zwei! Drei!“…).
Einen Hinweis zu dessen Deutung gibt uns die Nachfrage des Lebens: „Du weißt das, o Zarathustra?“, womit im Kontext des dritten Teils wahrscheinlich ‚Der‘ Gedanke gemeint ist, der hier entwickelte Gedanke des „Ringes der Wiederkunft“. Nach diesem ist Zarathustra jetzt „brünstig“, nur von ihm möchte er „Kinder“ haben. Möglicherweise steht hier eine Art Schwangerschaft im Raume, wie Gabriel Zamosc vermutet, allerdings mit dem (oder vom) „Ring der Wiederkunft“. Wobei durchaus nicht klar ist, wer schwanger ist, das Leben oder Zarathustra. Jedenfalls verspricht er sich ‚Kinder‘, d.h. sinnvolle Entwicklungen, Produktionen, von seiner „Brunst“ nach „Wiederkunft“.
Der lebenslustige Tänzer verwandelt sich zum peitsche-schwingenden Herrenmenschen, verwandelt sich durch den Glockenrhythmus des Mitternachts-Gedichtes, der irgendwie den Wiederkunfts-Gedanken anklingen lässt. Diesen Zusammenhang stellt Nietzsche ausdrücklich im nächsten Abschnitt („Die sieben Siegel“) her, womit der dritte Teil des Zarathustra schließt. Zarathustra wiederholt und kommentiert sein Mitternachts-Gedicht für die „höheren Menschen“ im vierten Teil des Zarathustra, im vorletzten Kapitel des ganzen Werkes: „Das Nachtwandlerlied“ (auch: „Das trunkne Lied“). Hier fasst Zarathustra den Sinn des Mitternacht-Liedes ins Wort: „Das Lied, dess Name ist »Noch ein Mal«, dess Sinn ist »in alle Ewigkeit!«“. Spätestens hier gibt es keine Zweifel mehr, dass es im Mitternachts-Lied um die Erfahrung der Wiederkunft geht. Die Selbst-Auslegung im „Nachtwandlerlied“ soll methodisch zur Überprüfung und Abrundung unserer eigenen Auslegung des Gedichtes herangezogen werden.
Halten wir vorläufig fest: 1.) Zarathustra besingt die Liebe zum ‚Leben‘, zum grenzenlosen Sich-Ausleben-Wollen. 2.) Im Glocken-Gedicht geht es um eine radikale Wendung in der Beziehung zum ‚Leben‘. 3.) Diese Wendung hat mit dem Gedanken der „Wiederkunft“ zu tun. 4.) Zarathustra übersetzt sein Gedicht zum Schluss durch ein „Nachtwandlerlied“ – was uns darauf hinweist, entgegen der konventionellen Form des Mitternachts-Gedichtes das Unkonventionelle, Närrische und Paradoxe darin herauszuarbeiten.
Formal bewegt sich das Mitternachts-Lied in den Bahnen romantischer Allegorien. Lyrische Objekte wie „Mitternacht“, „Ewigkeit““, „Weh“, „tief“ lassen sich Eins-zu-Eins auf ein traditionell fixiertes Gedankengut übersetzen. Es spricht die „tiefe Mitternacht“, das klingt nach Novalis‘ „Hymnen an die Nacht“ und scheint die bereits zu Nietzsches Zeit abgedroschene Weisheit zu spiegeln, dass die wesentliche Wahrheit dem Licht des Verstandes entzogen bleibt. Die Welt ist denn auch „tiefer als der Tag gedacht“. In der Tiefe verbirgt sich die Vergänglichkeit aller Dinge, die natürlich mit „Weh“ verbunden ist – da haben wir den alten Weltschmerz wieder. In dieser deprimierenden Lage wundert es nicht, dass der Mensch nach ‚Ewigkeit‘ strebt, womit wir die platonische Idee wiedergefunden hätten. Das passt alles so schön zusammen, dass zum Schluss nur eine Frage bleibt: Wozu Nietzsche dieses banale Gedicht überhaupt verfasst hat? Wo liegt das Umwälzende, die weltverwandelnde Bedeutung?
Wer die romantische Emblematik schon für den ganzen Inhalt nimmt, muss Nietzsche verkehrt, reaktionär, historisierend verstehen. Eine ganze Dichter- und Denker-Tradition hält sich bis heute an die klischeehaften Formeln, an die romantischen Fetische. Der ‚Brumm-Ton‘ der Glocke wird beispielsweise bei Albert Sergel, einem populären Dichter der 1920er Jahre, aufs Beste imitiert. „Eine Glocke singt / tieftraurig in den Abend hinein. / Ein Sternlein blinkt / blaß zuckend in den Abend hinein …“ und so weiter. Die Lyrik im Buch „Glockentraum“, ein Bestseller von 1926, klingt ähnlich wie Nietzsches Glocken-Dichtung – doch alles Trunkene und Widersprüchliche im Inhaltlichen ist verschwunden. Die ironischen Zwischentöne und verstörenden Paradoxien von Nietzsches Dichtung kommen erst dann ans Licht, wenn die Allegorien im Kontext gelesen werden. Dann beginnt die Dichtung wie eine Glocke zu schwingen.
Lesen wir das Glocken-Lied noch einmal, diesmal im Zusammenhang des ‚Zarathustra‘. „O Mensch! Gieb Acht!“ – die Aufforderung zum Aufpassen, zum Hin-Hören verspricht, dass etwas Neues, Unerhörtes und höchst Bedeutsames zu Wort kommt. Die Mitternacht spricht. Wer ist das? Es heißt nicht einfach: Nacht, wie bei Novalis, sondern genau: Mitte der Nacht. Zwölfmal schlägt die Glocke. In der Mitter-Nacht wendet sich etwas, ein neuer Tag bricht an, die Glocke weckt aus dem Traum. Der Augenblick des Erwachens, der Übergang vom Traum zum Tag, ist ein Augenblick umfassender Einsicht und Wandlung. Hier spricht nicht Zarathustra, hier spricht überhaupt kein Mensch, hier spricht auch nicht das sog. Unbewusste: hier ‚tagt es‘. Eine bisher verdeckte Erfahrung des Seins fordert vom Menschen Gehör und Gehorsam.
In diesem Zusammenhang bedeutet ‚Tiefe‘ eben kein mystisches Geraune, keine Unergründlichkeit des Lebens – was eine Banalität wäre – sondern eine umfassende, auf das Ganze des Seins gerichtete Erhellung. ‚Tiefe‘ steht im Gegensatz zur ‚Seinsvergessenheit‘ des flachen All-Tags. Das Mitternachts-Gedicht will also nicht ins romantische Dunkel führen, sondern im Gegenteil aus der alltäglichen Selbstverständlichkeit aufrütteln, den Menschen ins Licht bringen. Dazu passt Zarathustras Absicht, „das Licht der Zukunft (zu) zünden“, die er im folgenden Abschnitt anspricht. Er selbst deutet das Bild von der sprechenden Mitternacht im „Nachtwandlerlied“ am Ende seines Weges: „Da hört sich manches, das am Tage nicht laut werden darf.“ Was sich da selbst zu Gehör bringt, richtet sich an „nächtliche, überwache Seelen“. Mitternacht übersteigt die Helle des kulturell geformten Alltags: „Lass mich, du dummer tölpischer dumpfer Tag! Ist die Mitternacht nicht heller?“
So wie das Wort Mitternacht nur vordergründig Dunkles, Schummriges oder Irrationales bedeutet, in Wirklichkeit aber den Über-Tag, die höchste Klarheit meint, so kippt auch die Bedeutung aller anderen Grundworte ins Gegenteil des allegorisch Festgelegten um: die Bedeutungen schwingen wie Glocken. Eben deswegen kommen die ineinander umschwingenden Bedeutungen des Glocken-Liedes später als „Nachtwandlerlied“ zur Sprache. Zarathustra stellt hier fest:
„Mitternacht ist auch Mittag, – Schmerz ist auch eine Lust, Fluch ist auch ein Segen, Nacht ist auch eine Sonne – geht davon oder ihr lernt: ein Weiser ist auch ein Narr.“
Das Mitternachts-Lied ist ein Narren-Lied. Sein Sinn leuchtet auf, indem die zentralen Bedeutungen in ihr Gegenteil umschwingen. Die Paradoxie ist sozusagen das ‚System‘ des Glocken-Liedes – wie des Seins-Geschehens im Ganzen. Mit dieser Dechiffrierung im „Nachtwandlerlied“ sind Zarathustras Reden an ihr Ende gekommen – am Ende versagt die Sprache. „Denn ihr versteht mich nicht“, sagt er seinen Zuhörern, den „höheren Menschen“.
Wie bereits erwähnt, steht das Mitternachts-Gedicht nicht isoliert im Text, es ist Glied inmitten einer Entwicklungs-Reihe: Das Tanzlied – Das andere Tanzlied – Mitternachts-Gedicht – Das Nachtwandlerlied. Der Sinn des Liedes enthüllt sich, indem es im Laufe des Zarathustra mehrfach gedreht wird – die „Wiederkunft des Gleichen“ als Formprinzip! Dieser Entwicklung gilt es nun im Einzelnen weiter zu folgen. Zentral ist das Gegensatz-Paar ‚Vergehen / Ewigkeit‘, dem das Paar ‚Weh / Lust‘ entspricht. Für das Verstehen des Gedichtes entscheidend ist die innere Verflechtung dieser Begriffe, die auf den ersten Blick als simple Gegensätze erscheinen, tatsächlich aber Gegensatz-Einheiten bilden. Wie kommt Zarathustra zum Schluss seiner Wanderung auf den Satz: „Schmerz ist auch eine Lust“? Um das zu verstehen, reicht es nicht, von der ‚Ambivalenz‘ des Lebens zu plappern. Aus welcher Sache kommt es, dass Schmerz auch Lust sein kann?
An der Wende zum Licht, beim Erwachen, begegnet das ‚Weh‘ des Werdens und Vergehens. Der Schmerz bringt das „Vergeh!“ zum Ausdruck, der Schmerz möchte nicht beharren. Während das „Weh“ sich selbst hinter sich lassen möchte, verlangt Lust immer wieder nach sich selbst, insofern nach ihrer eigenen Verewigung. Erster Blick: Hat hier Nietzsche seine eigene Lehre vergessen? Ersetzt er die Ewigkeit des Gottes durch das Lustprinzip? Rückfall in hedonistische Metaphysik? So scheint es, hält man den einfachen, hergebrachten Sinn der Kategorien fest. Doch mit ‚Lust‘ ist nicht ‚Triebentspannung‘ gemeint; in Nietzsches Psychologie ist ‚Lust‘ Ausdruck des schöpferischen Gestaltens. Sehen wir „Lust“ als (Um)Gestaltungs-Freude, so wird verständlich, warum sich gerade im „Vergeh!“ die Lust „ewig“ – immer wieder – bejaht.
Die Glocke schlägt Zwölf, Zeitpunkt des Liedes ist der Augenblick des Wachwerdens und des Neu-Anfangens. Im Moment des Anfangens wirkt das „Vergeh!“ als etwas, das den Neubeginn lähmt. Das ‚Weh‘ der Welt macht jeden Anlauf zu einer Gestaltung sinnlos. Warum sollte der Schläfer oder die Schläferin überhaupt aufstehen? Soll sich ein neuer Tag wirklich durchsetzen, muss sich im verzehrenden ‚Weh‘ eine entschiedene (‚tiefere‘) Gestaltungs-Lust ausbreiten. Gerade im ‚Weh‘ des Vergehens erwacht die Lust des Gestaltens. Diese Lust will nicht irgendetwas ‚Ewiges‘, sondern sich selber endlos wiederholen. Nicht eine feste Gestalt ist ewig, sondern das freudvolle Werden, Hervorbringen, Bilden, Organisieren einer Gestalt möchte nie aufhören.
Lust ist Formen-Bildung, doch das Tanzlied geht auch anders herum: Jede Gestalt muss zerbrechen. „Weh spricht: Vergeh!“ ist kein einfacher Gegensatz zur Gestaltungslust, keine bloße Negation, sondern Anstoß zur Produktion. Das beschreibt Zarathustra ausführlich im „Nachtwandlerlied“: „Alles was leidet, will leben, dass es reif werde und lustig und sehnsüchtig.“ Mit „Weh“ und „Herzeleid“ meint Nietzsche die produktive Brechung, in der Gestalten zerfallen – indem sie zu einem anderen Ganzen hin, zu einer verwandelten Gestalt übergehen. „Weh spricht: ‚Brich, blute Herz! Wandle, Bein! Flügel, flieg! Hinan! Hinauf! Schmerz!‘ Wohlan! Wohlauf!“ Aus Leiden und Zerstörung heraus schwingt die Verwandlung in ihr Gegenteil um, in die ‚Ewigkeit‘ des Immer-neu-Gestaltens. Von da aus ist der nächste Schritt der Gedanke der Wiederkehr, auf den wir noch ausführlich eingehen werden.
Der „volle Weinstock“ ruft nach einem „grausamen Winzermesser“: „Was vollkommen ward, alles Reife – will sterben!“ Die Extreme der Verwandlung schwingen ineinander um: Zerstörung ruft nach Gestaltung – und Gestaltung bedingt Zerstörung. Gestaltung und Zerstörung äußern sich in ihren Wirkungsqualitäten Lust und Weh. „Sagtet ihr jemals ja zu einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt...“ Daher gilt es auch dem Weh zu sagen: „Vergeh, aber komm zurück!“ (Nachtwandlerlied). Der Satz „Alle Lust will Ewigkeit“ ist ein Paradox: Indem sich die lustvolle Formen-Bildung ‚ewig‘ wiederholen will – verlangt sie immer wieder nach Schmerz und Zerstörung. „Denn alle Lust will sich selber, drum will sie auch Herzeleid! O Glück, o Schmerz! Oh brich Herz!“ Die Paradoxie liegt darin, dass sich lustvolles Gestalten nur permanent fortsetzen kann, indem es das Gestaltete schmerzvoll zerbricht. Und zerbrechen kann nur, was zuvor gebildet wurde. Ein ‚ewiger‘ Kreislauf – in dem sich die Gestaltungs-Lust verwirklicht, und darum ist sie „tiefer noch als Herzeleid“.
Im Unterschied zu Hegels Dialektik und zur ‚Digitalisierung‘ verspricht Nietzsches Entwicklungslehre keinen geschichtlichen Fortschritt; die Grundform der Geschichte ist der schöpferisch-zerstörerische Kreislauf oder die Spirale. Im Laufe der Zeit wird nicht alles gut, das Böse ist nicht nur eine List des siegreichen Guten, sondern das Böse muss ständig wiederkehren, ja das ‚Böse‘ ist das Gute. Ohne Hoffnung auf ‚Happy End‘ bleibt uns nur die Liebe zur Welt, wie sie ist: „So reich ist Lust, dass sie nach Wehe durstet, nach Hölle, nach Hass, nach Schmach, nach dem Krüppel, nach Welt, – denn diese Welt, o ihr kennt sie ja!“ (Das Nachtwandlerlied).
Nun kommt das Schwerste – für das Leben wie für seine Interpretation. Wenn um Mitternacht das „Licht der Zukunft“ anbrechen soll, stellt sich die Frage: Wie kann Nietzsche inmitten des ziellosen Werdens und Vergehens einen solche Zukunfts-Entwurf ans Licht bringen, der für sich beansprucht, der weiterhin-wirkende, der ‚Kinder‘ bzw. Sinn schaffende zu sein? Sind nicht alle Formen gleichwertig, ist nicht alles erlaubt? Oder kommt jetzt eine neue Metaphysik? Nietzsche benennt aber kein Ewig-Seiendes jenseits des Werdens – kein neuer Gott – das Bilden-Umbilden selber ist das Seins-Geschehen. Götter kommen und gehen, aber das Kommen-und-Gehen bleibt. Seine Form ist der „Ring der Ringe“, die „ewige Wiederkunft“ Was bedeutet das?
Bekanntlich versucht Nietzsche die „ewige Wiederkunft“ in ganz unterschiedlichen Ansätzen zu fassen: in Form naturwissenschaftlicher Beweise, in Analogie zu Alltags-Erfahrungen, als metaphysischen Glaubenssatz – und als existenziellen Imperativ: „War das das Leben? Um Zarathustra willen, wohlan! Noch einmal!“ (Das Nachtwandlerlied) Beschränken wir uns auf diese Linie. „Noch einmal!“ – und jeden Tag grüßt das Murmeltier? Nein. In jedem Augenblick habe ich die Wahl, mich für mich selber zu entscheiden, indem ich meine Vergangenheit vor mich bringe und sie noch einmal gestalte. Nietzsche spitzt diese Haltung zum ‚amor fati‘ zu, was bedeutet, auch das Getan-Werden durch das Schicksal als das eigene Tun zu übernehmen. Keine Reue, keine Rache, keine Schuldzuweisung.
Noch einmal! Was für den Einzelnen immer wiederkehrt, ist die Aufgabe der Gestaltbildung – Weh und Lust – es kehren aber auch die Gebilde immer wieder, die in diesem Geschehen bereits entstanden. Gestaltung setzt sich ständig mit sich selbst auseinander. Im „Noch Einmal!“ flüchte ich nicht vor mir selbst in ein beliebiges Werden, sondern komme auf mein bisher Gestaltetes im Ganzen zurück. Indem ich mein Gestaltetes immer wieder aufgreife und es immer wieder zum Leitmotiv meiner künftigen Lebensgestaltung mache, arbeite ich wie ein Künstler an meinem Lebenswerk. Ich selbst werde erst ich selbst, wenn ich der ‚Mitternacht‘ folge und meinen Schöpfungen in meinem Schaffen selbst ‚ewige‘ Bedeutung verleihe. Eine allgemeine Moral, konventionelle Werte oder kulturelle Vorbilder brauche ich dann nicht mehr als Sinn-Instanzen: ausdrückliche Aneignung und konsequente Fortsetzung meines Werks implizieren eine eigene ‚Moral‘.
In der Mitte zwischen Gestern und Morgen steht der Mensch – er hat acht zu geben auf die Stimme der Mitter-Nacht, da er morgen von seiner Lage her dieselben Verwandlungsprobleme neu bedenken muss, die er gestern geschaffen hat. Nietzsche versucht zusammenzudenken, dass sich lebensgeschichtlich alles in Entwicklungskreisen wiederholt, und dass dabei doch ständig etwas Neues, Niedagewesenes herausspringt. „Ewige Wiederkehr“ ist ein Gegenzug zum gleichgültig kreiselnden Lebenswirbel, insofern derjenige, der vom „Ring der Wiederkunft“ schwanger ist, nicht mehr beliebig drauflos agiert. Er stellt sich seinen eigenen, selbstgeschaffenen ‚Werten‘ und deren Konsequenzen und versucht, sie schöpferisch immer wieder umzusetzen. Kein starres Befolgen einer Lebenslinie: Nietzsche versteht geschichtliche Entwicklung als „Selbstüberwindung“. „Was ich auch schaffe und wie ich’s auch liebe, – bald muss ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille“ (Von der Selbst-Überwindung). Wiederkehr ist zugleich Selbst-Überwindung, und in Selbst-Überwindung steckt auch Wiederkehr: ein weiteres Paradox.
Das Mitternachts-Lied will keinen allgemeinen Trost spenden, sondern den Einzelnen ermutigen, sein Leben wie ein Kunstwerk zu gestalten: in einem beständigen Spiel zwischen Gestaltung, ihrer Überwindung, ihrer Wiederholung, Variation usf. Ich finde zu meiner eigenen Gestalt nur, indem ich sie aufs Spiel setze, sie umwandele und in anderer Gestalt wiederfinde. Im lustvoll-schmerzlichen Formen und Umformen erklingt die Musik des Lebens, das ist sein ‚Sinn‘ – was auch immer dabei herauskommen mag. Das erinnert an Goethes Formel: „Gestaltung, Umgestaltung, – des ewgen Sinnes ewge Unterhaltung.“ – In seinem Nietzsche-Buch hat Heidegger dieses sinnbildende Geschehen bedauerlicherweise als ein „Seiendes“ interpretiert, vielleicht um selber über die angebliche Metaphysik Nietzsches zu triumphieren.
„Wer soll der Erde Herr sein?“ Auf diese Frage Zarathustras, die alte metaphysische Frage, gibt das „Nachtwandlerlied“ Antwort: „Die Reinsten sollen der Erde Herr sein, die Unerkanntesten, Stärksten, die Mitternachts-Seelen, die heller und tiefer sind als jeder Tag.“ Das Mitternachts-Gedicht überantwortet die Erde neuen ‚Herren‘ – im Gegensatz zur Metaphysik aber keinem Gott, auch keinem Ersatz-Gott, sondern „Mitternachts-Seelen“, die Acht geben auf das Lied der „ewigen Wiederkehr“. Diese These entfaltet Nietzsche keineswegs ‚zweckfrei‘, sondern im Hinblick auf die konkrete kulturgeschichtliche Situation seiner Zeit, die immer noch die unsrige ist.
Die Mitternachts-Glocke schlägt der Gegenwarts-Kultur, die für Nietzsche durch Ausbreitung des Nihilismus geprägt ist: durch Beliebigkeit, Austauschbarkeit aller Produktionen, Sinnlosigkeit. „Warum? Wofür? Wodurch? Wohin? Wo? Wie? Ist es nicht Torheit, noch zu leben? – Ach, meine Freunde, der Abend ist es, der so aus mit fragt“ (Das Tanzlied). Diesen ‚Abend‘ lebt die ‚globalisierte‘ Welt heute fast besinnungslos weiter. Unbemerkt erschuf sie sich in der Geldwertsteigerung einen übernationalen Götzen, der das freie Flottieren des Austauschs von allem gegen alles heiligt und außer sich selbst keinerlei Werte zulässt. Leere breitet sich aus, die von vielfältigen Zwängen, Medienlärm und Panik überdeckt wird. Eine Extremform war und ist der Totalitarismus, wo nur noch der willkürliche Terror Halt gibt (H. Ahrendt). Heute verbirgt sich Nihilismus unter ‚cooler‘ Leidenschaftslosigkeit und ‚smartem‘ Emporkommen ohne Ecken und Kanten. ‚Intelligentes‘ Durchgleiten als oberste Tugend in Erziehung, Führung, Medien, Wissenschaft und Politik. Glatte Formlosigkeit verspricht Schuldlosigkeit.
Dem kulturellen Formverlust schlägt die Mitternachts-Glocke. Obwohl es kein festes Oben, kein Unten in der Welt gibt, fordert die Gestaltungs-Lust zumindest Einzelne doch immer wieder zu einer entschiedenen Prägung des Lebens heraus. „Mitternachts-Seelen“ brechen aus dem Verfließen der Beliebigkeits-Kultur aus, indem sie konsequent ihre Lebensgestalt ins Werk setzen. Im Gegensatz zum ‚Mainstream‘ scheuen sie weder Risiken noch Schuldigwerden der Gestaltbildung. ‚Kinder‘ der Wiederkehr sind Gestalten, die sich selbst immer wieder infrage stellen, sich überwinden und in ihrer Wiederkehr produktiv werden. Das Noch-einmal-Bestehen-Können wird zum ‚Siegel‘ der Gestaltung. ‚Herr der Erde‘ wird also nicht, wer großen Erfolg hat oder alle anderen beherrscht, sondern – drücken wir es zugespitzt aus – wer seine Kindheit im Erwachsenenleben produktiv wiederholt.
Die Bedeutung Zarathustras für die Gegenwart lässt sich an einem konkreten Fallbeispiel ablesen. Ein junger Mann, Mitte 20, hat eine Menge probiert – Bankkaufmann, Klavierspiel, Kraftsport, Buddhismus, Psychologiestudium, Kunst, Philosophie, Consulting – kann sich aber für nichts entscheiden und springt vom einen zum anderen. In der Liebe sieht es genauso aus. Viele Anfänge, aber sobald es eine Frau „ernst meint“, flüchtet er. Er möchte sich gerne „alles offen halten“, immer unschuldig bleiben, zugleich aber etwas ganz Großes und Bedeutendes darstellen, Guru oder wenigstens Autor erfolgreicher Podcasts. Natürlich auf Anhieb, ohne anstrengende Vorarbeit. Irgendwie hat er das Gefühl, sein Leben zu verplempern.
Nihilismus hat heute oft diese Form des Steckenbleibens inmitten zu vieler gleichwertiger Wandlungs-Optionen. Alles wird zu Nichts, weil die Wiederholung als Voraussetzung (und Ergebnis) einer Gestaltbildung vermieden wird. Was sich im Beispiel des jungen Mannes wiederholt, ist nur das Springen und Nicht-Festlegen, ein unproduktives Kreiseln, das ständig vor der Tat bleibt. Um in Entwicklung zu kommen, wäre es nötig, schuldig zu werden, eine bestimmte Gestalt festzuhalten und konsequent zu wiederholen, um sie nach allen Seiten auszuloten und weiterführende Umbildungen zu wagen. Welche dann wiederum geduldig wiederholt werden, usf. Das fällt jedoch äußerst schwer in Zeiten, da das Smartphone als Kultur-Ideal gilt. Alles Tun muss sofort, leidens- und schuldfrei zum ‚Erfolg‘ führen. Scheitern, ‚Weh‘ und Durcharbeiten, Nicht-Aufgeben, sind uncool.
Entgegen der geschichtslosen Kultur des Klickens und Zappens kann jedoch der Einzelne versuchen, die Logik seiner eigenen Entwicklung herauszuarbeiten, sie zu lieben und ihr zu gehorchen. Das eigene Lebens-Bild ‚herausmeißeln‘ inmitten der kulturellen Bild-Inflation. Nicht in der Vielfalt disparater Bilder, sondern im geduldigen Bilden des Einen Lebens-Bildes zeigt sich der Reichtum des Lebens. Zarathustras ‚Gestalt-Therapie‘ funktioniert im Prinzip auch für Organisationen, Gruppen oder Kulturen, wenn sie analog zu Individuen geschichtlich betrachtet werden. Offenbar hoffte Nietzsche auch darauf, dass einzelne „Mitternachts-Seelen“ wie er einen Umschwung der Beliebigkeits-Kultur herbeiführen können (das Licht der Zukunft zünden).
Der „Übermensch“ braucht keinen Gott mehr, er selbst ist auch kein Ersatz-Gott, sondern ein Bild für das Wagnis, im Übergang zwischen Gestalten seine eigene Gestalt ins Werk zu setzen und zu wahren. Nicht Despoten und smarte Technokraten sind es, sondern Dichter, Sänger, Narren, Tänzer und „Nachtwandler“, die sich selber und andere aus der Nacht des Nihilismus führen können. Die lachenden Herren der Erde.
Sylvain de Bleeckere, Commentaar op Zarathustra’s Nachtwandelaarslied, Nietzsches positieve verwoording van de eeuwige terugkeer, in: Tijdschrift voor filosofie 39 (1977), S. 624–655
Martin Heidegger: Nietzsche I und II. Neske, Pfullingen 1961
Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. De Gruyter, Berlin/New York 1981 (Erstauflage 1935)
Wolfgang Müller-Lauter: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie. De Gruyter, Berlin/New York 1971
Konrad Paul Liessmann: Alle Lust will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen. Zsolnay Verlag, Wien 202
Daniel Salber: Ihr werdet sein wie Gott. Verheißung und Wirklichkeit der Globalisierung (2.,verb.Aufl. von „Moneytheismus“) Bouvier, Bonn 2018
Wilhelm Salber: Morphologie des seelischen Geschehens. Werkausgabe Bd. 3. Bouvier, Bonn 2009
Werner Stegmaier: Zarathustras philosophische Auslegung des Mitternachts-Lieds. In: Katharina Grätz / Sebastian Kaufmann (Hg.), Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur. Von der „Fröhlichen Wissenschaft“ zu „Also sprach Zarathustra“. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2016
Nina Tolksdorf: Zu den Figuren und Strukturen der Wiederholung – das Nachtwandler-Lied, in: Murat Ates (Hg.): Nietzsches Zarathustra Auslegen. Thesen, Positionen und Entfaltungen zu „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche, Marburg o.J. (2015), S. 191-205
Gabriel Zamosc: What Zarathustra Whispers, in: Nietzsche-Studien 44 (2015), S. 231-266
Claus Zittel: „Nachtwandler des Tages“. Traumpoetik und Parodie in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, in: Gabriella Pelloni / Isolde Schiffermüller (Hg.), Pathos, Parodie, Kryptomnesie. Das Gedächtnis der Literatur in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, Heidelberg 2015, S. 125-169
∙ Besuch im Atelier (1/1983)
∙ Die Titanic der Medizin. Seelische Probleme eines Großklinikums (Aachen) (2/1984)
∙ Das Museum als Kunstwerk. Die Stuttgarter Staatsgalerie – ein Gegenmodell zum Kölner Doppel-Museum (2/1988)
∙ Alte Lust will Ewigkeit )1/1995)
∙ Der familiäre Kleinfaschismus (2/1995)
∙ mit Wilhelm Salber: Anarchie und Diktat (1/1999)
∙ Ist Entfremdung überholt? (2004)
Nach philosophischen Studien und Wanderjahren in Medien und Industrie arbeitet Dr. Daniel Salber, Jahrgang 1956, heute mit der Morphologischen Psychologie in Forschung, Beratung und Unterricht. Damit setzt er die von seinem Vater, Wilhelm Salber, an der Universität Köln entwickelte Lehre fort.
Kontakt: info@danielsalber.de