König der Zerrissenheit  –  Kulturpsychologische Betrachtungen zur Krönung von King Charles und der Identitätskrise Britanniens

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Dirk Ziems ist tiefenpsychologischer Kultur-, Konsum- und Medienforscher und Gründer der global research agency concept m und der Beratungsagentur flying elephant. Seit 30 Jahren erforscht er in Deutschland, Europa und weltweit die Evolutionen und Revolutionen der kulturellen Werte, der Konsumformen und der Medientrends.

Kontakt: dirk.ziems@conceptm.eu

Armer King Charles: Sichtbar unangenehm drückt die Last der zwei Kilogramm schweren Krone (oder präziser: four pounds) auf sein Haupt. Die Krönungsfeierlichkeiten erzeugen keine Aufbruchsstimmung, sondern sie umweht eine melancholische Atmosphäre. Der ganze Pomp der marschierenden Garden und goldenen Kutschen erstrahlt und beeindruckt, aber erscheint zugleich doch aus der Zeit gefallen. Die republikanischen Proteste sind so laut wie nie („not my king“).

Welches Schauspiel zeigt sich hier der gebannten Welt von hunderten Millionen TV-Zuschauern? Es ist – aus meiner Sicht als Gesellschaftsforscher mit Marketinghintergrund – eine traurige Markeninszenierung, die in eine Vielzahl kommunikativer Dilemmata verstrickt ist.

Hadern mit dem 21. Jahrhundert

Die britische Monarchie ist mit ähnlichen unlösbaren Erneuerungsaufgaben konfrontiert wie die katholische Kirche in der wohlhabenden westlichen Welt. Die Zeit scheint über beide Institutionen hinweggegangen zu sein.

Für die Kirche ist der Volksglaube, in dem Joseph Ratzinger noch aufwuchs, passé. Die meisten Menschen orientieren sich nach individualistischen Werten und haben sich von jeder Spiritualität abgewandt. Der Entwurf der verweltlichten Kirche, wie ihn die evangelische Kirche praktiziert, verspielt die mythische und mystische Macht, die Kirche im Kern ausmacht. Sie ist nur noch ein Ethik-Verein und eine weitere politisch-gesellschaftliche Organisation.

King Charles versucht auch, die britische Monarchie an die Gesellschaft von heute heranzuführen. Er trat schon als Öko-Prinz vor Jahrzenten als Vorreiter für den gesellschaftlichen Wandel zu nachhaltigem Wirtschaften ein und war damit seiner Zeit voraus. Er hat bei der Vorbereitung der Krönungsfeierlichkeiten dafür plädiert, alle Religionen zu Wort kommen zu lassen – auch Hindi, Muslime und Juden. Es wird berichtet, dass er eine Entschuldigungs-rede für die Verstrickung des Königshauses in den blutigen britischen Kolonialismus plant.

Alles sehr lobenswert – aber bei der Krönung gestern erscheinen die weiteren symbolischen Verbeugungen vor der Popkultur von heute eher wie ‚bad taste‘: Einige Vertreter des englischen Uradels wurden ausgeladen, stattdessen wohnen neureiche Pop-Adlige, die Beckhams, Lionel Ritchie und Katie Perry der Krönungszeremonie bei. Die für die Veranstaltung neu komponierte Musik von Andrew Lloyd Weber klingt nach Star-Wars.

Therapeutikum für den Phantomschmerz

Welchen Sinn machen die Traditionen der britischen Monarchie überhaupt noch in Zeiten der Regentschaft von King Charles? Sind deren Rituale wie das Überreichen von Sporen, Ring, Reichsapfel und Zepter als Insignien der königlichen und spirituellen Rolle nicht eigentlich in jeder Nuance und jeder Geste Ausdruck einer Machtsymbolik, die längst obsolet ist?

Bei der Queen fiel es nicht auf, dass all das aus der Zeit gefallen war. Denn die Queen war aufgrund ihres biblischen Alters per se Überlebende aus einer vergangenen Zeit. Sie war die Übergangsfigur vom alten verlorenen Empire zum 21. Jahrhundert. Mit ihrem Tod im letzten Jahr war das 20. Jahrhundert für Großbritannien endgültig vorbei.

Wird King Charles zum Sinnbild für eine Gesellschaft auf verlorenem Posten? Es macht den Eindruck, dass England nicht aufhört, sich nur noch selbst für den Verlust vergangener Glorie zu bemitleiden. Der Brexit erscheint im Rückblick wie eine Trotzreaktion gegen die Anerkennung der realen Machtstellung Englands heute. Die Brexit-Folgen sind offenbar wirtschaftlich verheerend, werden aber von breiten Teilen der Bevölkerung ausgeblendet.

Das vereinigte Königreich steht mit dem möglichen Absprung von Schottland und Nord-Irland vor einer Spaltung. Viele Commonwealth-Länder stehen davor, King Charles als formales Staatsoberhaupt zu canceln.

Die Inszenierung der royalen Krönungs-Glorie erscheint in dieser Lage wie ein noch immer wirksames Therapeutikum gegen den Phantomschmerz des verlorenen Empires. Und der irgendwie gequält aussehende Gesichtsausdruck des armen King Charles wirkt wie ein Hadern eines Intellektuellen damit, dass er sich jetzt doch wieder von dem ganzen Mummenschanz seiner Familiendynastie in die Pflicht hat nehmen lassen.

Kingdom of Gossip

Als Dauerinventar der globalen Unterhaltungsindustrie sind die verschiedenen Repräsentanten der Royals verbrauchte Marken. Der mit der Ungnade der späten Krönung belastetet Charles hat 70 Jahre Verfolgung durch die Klatsch-Medien hinter sich. Sein fast kahler Kopf zeigt, dass dabei kaum ein gutes Haar an ihm geblieben ist. Die Dauersoap der Windsors ermüdet das Publikum.

Alles ist inzwischen noch einmal von der Netflix-Serie „The Crown“ wiedergekäut worden. Aber diese geht nun in die letzte Staffel. Wird King Charles nur eine Übergangsfigur sein, bis sein Sohn William das Zepter übernimmt und den Royals wieder eine Aufbruchsstimmung verleiht? Das ist ungewiss. Denn die nächste Dauer-Gossip-Schlacht William und Kate vs. Harry und Meghan ist schon längst Dauerbestandteil des Programms.

Die Unnahbarkeit der Queen, von der man nie wusste, was sie dachte oder was sie fühlte („never explain, never complain“), hat immer bestätigt: Wahre Macht funktioniert nur, wenn sie mit einem gewissen Mysterium umgeben ist. Es ist unwahrscheinlich, dass die Royals im 21. Jahrhundert noch einmal diese Klasse erreichen.

Nationale Identität im 21. Jahrhundert

Die Briten werden zu einem Paradebeispiel dafür, wie es der Welt im 21. Jahrhundert schwerfällt, einen positiven Anschluss an eigene Traditionen zu erhalten. Das ist keine gute Nachricht, denn eine positive Identität setzt voraus, sich in aufgeklärter Weise auf die eigene Tradition und Geschichte beziehen zu können. Wenn Tradition sich zum gloriosen Phantom und damit zur leeren Hülle entwickelt, wie das in Britannien offensichtlich geschieht, ist das kein Fundament für eine stabile Identität.

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