Endliche Endlosigkeit

Autor:in

Diplom-Psychologe Ralf Debus arbeitet als niedergelassener Psychotherapeut in eigener Praxis in Köln. Er war 18 Jahre lang Paar- und Sexualberater/Therapeut in einer PRO FAMILIA Beratungsstelle. Zwischen 1978 und 1986 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter von Wilhelm Salber, dem Begründer der Morphologischen Psychologie an der Universität zu Köln. Neben seiner Tätigkeit als Psychotherapeut ist die Wirkungspsychologie der Kunst ein weiterer Arbeitsschwerpunkt. Aktuelle Veröffentlichung: Die Gestaltpsychologie der Kunstbetrachtung: Eine Einführung anhand der Werkbeschreibungen von Werner Schmalenbach,  Hamburg 2021.

Kontakt: ralf.h.debus@gmail.com

Zur Wirkung der Drei-Kanal-Projektion Tears in Rain mit 708 Farb- und Schwarzweiß-Fotografien von Damian Zimmermann.
Der Titel der Arbeit spielt auf die berühmten Sätze der technoiden Figur Roy Batty in der Schlusssequenz des Films Blade Runner an, in denen sie davon spricht, dass all die Erfahrungen, die sie gemacht hat, mit der Zeit verloren gehen werden, wie Tränen im Regen.

Als ich vor den ständig im Zehnsekundenrhythmus sich beinahe gleichzeitig abwechselnden Fotografien saß, stellte sich bei mir der Versuch ein, genau das zu verhindern. Die Augen sprangen von Fotografie zu Fotografie, und in mir schrie es ‚Stopp!‘, ich will mich auf das einzelne Bild einlassen, es festhalten, es visuell untersuchen, den emotionalen und ästhetischen Widerhall auskosten. Die Eindrücke und ihre seelischen Niederschläge sollten nicht sofort überschrieben werden von den nächsten Wahrnehmungen und mentalen Reaktionen. Denn die von Damian Zimmermann ausgesuchten digitalen Momentaufnahmen haben expressive Ausdrucksqualitäten. Von Ihnen geht ein besonderer Aufforderungscharakter aus: ‚Hey schau hin, lass dich ein, hier gibt es was zu entdecken.‘ Nicht weil die Motive spektakulär wären. Sie verweisen meist auf Alltagszusammenhänge, wie Gänge durch die Stadt, häusliche Szenen, Reiseschnappschüsse etc. Nein, das Besondere ist die Wirkungsstruktur der Arbeiten. So gut wie jedes Bild wird von einer Spannung getragen: Brüche, Kontraste, Polaritäten und Korrespondenzen zwischen ihnen. Es sind ins Bewusstsein gerückte Verhältnisse. Egal, ob ein trostloses Garagentor gegen eine dramatische Wolkenformation positioniert ist, ein zerbrochenes Rote-Beete-Glas eine blutige Unfallstelle konstruiert, zarte Blütenblätter auf rohen Betonuntergründen vergehen, schlanke Frauenbeine sich gerade noch einem verschlingenden schwarzen Schlammwirbel entziehen können, usw. usw., immer sind es Verhältnisse als solche, die herausgerückt werden.

Allerdings wird dieses Strukturprinzip erst dann bewusst, wenn man nicht mehr festhalten will. Man muss den Wunsch aufgeben, das einzelne Bild durchkauen zu wollen. Sehen ist ein Einverleibungsprozess. Gegenüber der Drei-Kanal-Projektion geschieht das nur über einen Umweg. Indem ich gleichsam in einer meditativen Verfassung Motiv für Motiv durch mich hindurchziehen lasse, stellt sich eine Ruhe ein; und in dieser Ruhe breitet sich plötzlich die Erfahrung eines Reichtums aus. Durch 708 rotierende Fotografien rotieren Beziehungen. Beziehungen zwischen banal und surreal, zwischen brutal und zärtlich, zwischen heillos und lebensbejahend, zwischen erhaben und komisch, zwischen vertraut und rätselhaft, zwischen Klarheit und Geheimnis, zwischen Spontaneität und Inszenierung, zwischen ästhetisch und hässlich, zwischen verschlingend und haltgebend, zwischen Sinnlichem und Strukturellem, zwischen Alltäglichem und Groteskem, zwischen einfach und phantastisch, zwischen nüchtern und dramatisierend, zwischen anziehend und abstoßend, zwischen verführend und schreckend.

Die Bildkompositionen des Fotografen zeigen eine Meisterschaft im Zusammensehen dessen, was wir in unserem Erfahrungshaushalt als getrennt abgespeichert haben. In dieser visuellen Begegnung wird uns die Wirklichkeit durchlässiger: Aus undurchsichtiger Komplexität und verwirrender Vielfalt wird das Erleben von Reichtum; gegenüber dem unabsehbaren endlosen Nebeneinander von Inhalten und Bedeutungen steigt die Ahnung auf, wie doch alles mit allem zusammenhängt.

Das Erleben dieser durchlässig gemachten Fülle ist eine Überraschung, eine Wendung, mit der wir nicht gerechnet haben, nach dem nervösen Springen der Blicke zu Beginn. Aus einem Hinterherhecheln im Zehnsekundenrhythmus ist die Erfahrung der Wahrnehmung des Wahrnehmens geworden: Drin sein, mitgehen, mitschwingen, getragen werden von der Rotation der Verhältnisse und dieses Getragen-Werden zugleich bei sich selbst beobachten können.

Damian Zimmermann hat es geschafft, mit dem auf den ersten Blick künstlichen Setting, den Betrachter in eine meditative Verfassung zu überführen. Wie bei aller Kunst geht das nicht auf direktem Wege. Erst bauen sich Widerstände auf, Hindernisse, die einen in Kämpfe mit dem Material verwickeln.  Hindernisse, die eine Umstrukturierung der Haltung des Betrachters verlangen. Gelingt es diesem, von seinen ersten Zugriffsversuchen Abstand zu gewinnen, gerät er in eine Mitbewegung, in der er Teil eines „visuellen Kosmos“ wird, um einen Ausdruck des Fotografen zu zitieren.

Damian Zimmermann hat 708 Fotografien aus seinem Bestand von Zweihunderttausend ausgewählt. Es wird wohl so sein, dass auch die Erinnerungen an diese ins Werk gesetzten Motive im einzeln mit der Zeit dem Betrachter verloren gehen, wie die Tränen im Regen. Was bleibt, ist die Erfahrung, wie aus einem experimentellen visuellen Verwirrspiel eine komplexe uns tragende Form der Begegnung wird mit der unendlichen Vielfalt von Bildern der Wirklichkeit.

 

Artist Statement

Die Drei-Kanal-Präsentation ,,Tears in Rain“ habe ich während meines Aufenthalts als Artist in Residence im Atelierhaus Salzamt in Linz begonnen und seitdem ständig ergänzt und uberarbeitet.

,,Tears in Rain“ umfasst zurzeit 708 Bilder aus meinem digitalen Fotoarchiv der
vergangenen 20 Jahre. Mit jedem Durchlauf der jeweils unterschiedlich langen
Projektionsschleifen ergeben sich neue Bildkombinationen und Lesemöglichkeiten. Denn ,,Tears in Rain“ funktioniert nach dem Prinzip der Wunderkammer: ln diesem Vorläufer der modernen Museen wurde (scheinbar) nicht Zusammengehöriges wie Kunstwerke, Artefakte und Naturalien gemeinsam präsentiert und so in einen Dialog gebracht.

Die Projektionen sind der Versuch, mich meinem eigenen visuellen Kosmos und dem Vakuum meiner Erinnerungen zu stellen. Die Wirkung der Bilder wird durch die zufällige Reihung unabsehbar. Jede einzelne Kombination ist einzigartig und fluchtig zugleich – genauso wie die erlebten und fotografierten Augenblicke selbst.
Damian Zimmermann

www.damianzimmermann.de

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