Ein Wort zum Mittwoch

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Dipl.Psych. Armin Schulte war nach dem Studium der Psychologie in Gießen und Köln zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut am Lehrstuhl W. Salber und initiierte noch zu Zeiten seines Studiums 1981 die Zwischenschritte, der Mitherausgeber und Chefredakteur er bis 2011 war. Von 1993 bis 2004 war er Geschäftsführer der ‚Kölner Akademie für Markt- und Medienpsychologie‘ (kamm) sowie Leiter der Aus- und Weiterbildung des Kölner rheingold Instituts. Ab 2004 entwickelte er zusammen mit Herbert Fitzek für eine private Hochschule in Potsdam einen morphologisch basierten Studiengang in Wirtschaftspsychologie und ist seit 2012 Professor für Wirtschaftspsychologie an der BSP und Department-Leiter des gleichnamigen Fachbereichs.

Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Psychologie von Alltag und Kultur, Qualitative Methodik, Geischte der Psychologie und Didaktik der Morphologischen Psychologie.

Ein Wort zum Mittwoch

oder

„Things may come and things may go, but the art school dance goes on forever“*

In den 60er Jahren – als die populäre Musik noch „Beat-Musik“ hieß – erfuhr man von neuen ‚Hits‘ erst dann, wenn diese als ‚Single‘ in den Plattenläden zu kaufen waren oder man sie im Radio wie etwa dem Piratensender ‚Radio Caroline‘ (https://de.wikipedia.org/wiki/Radio_Caroline) zu hören bekam. Jedoch bereits im Vorfeld gab es bei gegebenem Anlass Gerüchte, dass etwa Gruppen wie die Beatles, die Rolling Stones, Kinks oder Small Faces wieder im Studio an ihrem nächsten Song arbeiteten und es wurden Mutmaßungen darüber angestellt, mit welchen Kompositionen diese Gruppen ihre jugendlichen Fan-Gemeinden demnächst beglücken bzw. ggfs. auch überraschen würden.

Ende 1967 wurde so gemunkelt, dass auf der nächste Single der Bee Gees ein Stück zu hören sei, in dem der Sänger eine längere Passage ohne jedwede instrumentelle Begleitung (also ein einstimmiges ‚A cappella‘) intoniert – ein damals in der ‚Beat-Musik‘ ungewohntes, ja kühnes Unterfangen und man war entsprechend gespannt ‚wie ein Flitzebogen‘, was da wohl auf einen zukommen würde.

Im Januar 1968 erschien dann in der Tat ein Song, in dem Barry Gibb zwar nicht wie gemutmaßt minutenlang ein Solo anstimmt, wohl aber war bei der letzten Wiederholung des zweizeiligen Refrains nur seine Stimme zu hören, ehe das Stück dann mit einen zarten Ausklang der wieder einsetzenden Instrumente endete.

Der Titel des neuesten Hits der Bee Gees 1968 (Nr. 8 in UK, in Deutschland zeitweilig Nr. 1 der Charts) war (und ist): https://www.youtube.com/watch?v=XgrTPNp-Hdg

Womit ‚wir‘ beim Thema dieser Kolumne wären: Es geht im Folgenden also um Worte, um das Medium ‚Sprache‘ – d.h. um ‚Bezeichnungen‘ und Beschreibungen. Und um deren Funktion und Bedeutung für das Betreiben einer (wissenschaftlichen) Psychologie.

‚It’s only words and words are all I have
to map the truth just fair(oder so ähnlich … Im Original: „… to take your heart away)

Am Anfang war das Wort“ (Joh. 1:1-18).

Ohne sich nun an dieser Stelle in den theologische Auslegungen dieses Satzes zu verlieren, kann man ihn – zumal eingedenk der ihm folgenden Ausführungen „Alles wurde durch das Wort geschaffen; nichts ist ohne das Wort entstanden.“ – für ‚unsere‘ Überlegungen dahingehend übernehmen, dass auch in der Morphologischen Psychologie Worte – sprich: Beschreibungen – am Anfang aller gegen-standsbildnerischen Unternehmungen stehen – dies jedoch eine Markierung bzw. in jedem Fall einen Anbeginn darstellt, der auf den ersten wie auf den zweiten Blick einfacher anmuten mag als es dann bei näherer Betrachtung sowie fach- und sachgemäßer Umsetzung ist.

Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.

J.W. von Goethe

Denn ‚die‘ Phänomene sind zwar die ‚Lehre‘ im Sinne von Maßstab und Maß(vor)gabe, aber keine einfachen Gegebenheiten, die man bloß gebührend ‚zu Wort‘ kommen lassen müsste, um sie zu erfassen und zu analysieren; vielmehr handelt es sich bei den Phänomenen des (menschlichen) Erlebens und Verhaltens wie bei allem, was ‚unsere‘ Wirklichkeit ‚ausmacht‘, eben um Gemachtheiten: ‚Etwas‘ wird (erst durch unser Tun) zu einem Phänomen (gemacht), indem man etwas beob achtet und in Worte fasst. Auch ‚die‘ Phänomene sind folglich nicht einfach ‚da‘, sondern etwas wird zum Phänomen, indem man es (tunlichst angemessen) beschreibt.

„In der [Natur-]Wissenschaft ist der Gegenstand der Forschung nicht die Natur ‚an sich‘, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur. – Wir untersuchen nie ‚die‘ Natur, sondern das Bild, das wir uns von ‚der‘ Natur machen.“   

Werner Heisenberg                                             

Es handelt sich dabei – bei&trotz aller alltäglichen Selbst-Verständlichkeit – zwar um ein höchst komplexes Geschehen, dass sich allerdings gleichzeitig auf einen markant-prägnanten Kern-Gedanken verdichten lässt:

In diesem Sinne beruht die Sicherheit des ‚Faktischen‘ nicht in einer an sich seienden Realität, sondern im Realisierungsprozeß, auf dessen Chancen wir vertrauen können und dessen Begrenzungen wir annehmen müssen. Man könnte das ‚Faktische‘ ‚rein‘ eigentlich nur in der Feststellung gefaßt sehen, ‚daß‘ da etwas ist. Sobald wir das ‚Was‘ des Faktischen verspüren, ist es immer schon ‚unser‘ Faktisches. Andererseits ist das nicht gleichzusetzen mit Subjektivismus; es besagt nur, daß mehrere Prinzipien beteiligt sind, wenn sich ‚Faktisches‘ zeigt.“       

(W. Salber Chancen und Begrenzungen des Faktischen [1965])

Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“

Auch in diesen beiden Formulierungen von Immanuel Kant könnte und kann man sich nach Herzenslust und in aller Ausführlichkeit vertiefen. Für den hier vorgestellten Entwicklungsgang mag der schlicht gehaltene Hinweis genügen, dass dieses Axiom die Forderung nach einer Versinnlichung von ‚Gedachtem‘ und nach einer begrifflichen (Er-)Fassung von sinnlich Erfahrbarem impliziert.

‚Sinnlichkeit‘ und das, was man gemeinhin als ‚Verstand‘ bezeichnet sind demnach im Prozess des Erkennens (von Wirklichkeit) zwar distinkte, aber dennoch aufeinander angewiesene Bewerkstelligungen, denen im Weiteren auch die meist verschiedenen Disziplinen der ‚Ästhetik‘ und der ‚Logik‘ entsprechen – eine Unterscheidung, welche man hie&da auch auf eine strikte Trennung zwischen ‚Kunst‘ und ‚Wissenschaft‘ auszudehnen trachten kann (s.u.).

Dem gegenüber sei bereits an dieser Stelle ein Aperçu eingefügt, mit dem eine (leider nicht mehr auffindbare) Rezensentin in der Faz ihre Besprechung eines Buches über die ‚Morphologie von Zeit‘ – übrigens sicher ganz im Sinne von Oscar Wilde („Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild. Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.“) – auf den ‚Punkt‘ brachte:

Morphologen denken mit den Augen.“

Setzt man nun im nächsten Schritt die Bildung von Begrifflichkeiten wieder mit dem Vorgang des Beschreibens – der Psychologie spätestens seit Dilthey 1884 als eine bzw. die dem Seelischen und seinen Eigenarten angemessene Methode anempfohlen – in Zusammenhang, so kommt man leider und gerade für die Psychologie immer noch nicht umhin, feststellen zu müssen, dass dem Beschreiben als (eine) Qualitative Methode (qualis [lat.] = wie beschaffen) im Unterschied zum Messen und Quantifizieren (quantus [lat.] = wie viel) die Tauglichkeit als wissenschaftlich fundierbare Methode entweder gänzlich abgesprochen (‚unwissenschaftlich‘) oder zumindest mit einem mehr oder weniger großen Argwohn als fraglich bis suspekt erklärt wird.

Denn nach wie vor folgt und frönt man in weiten Teilen der (im akademischen Milieu veranstalteten) Psychologie – dem sogn. ‚Mainstream‘ – in ihrer oftmals kaum reflektierten Orientierung an den Naturwissenschaften, derer Wissenschafts-Kultur und ihrer Forschungs-Logik – dem Descartesschen ‚Primat der Methode‘. Und auch die Ausbildung bzw. die Lehre in Qualitativer Methodik an deutschen Hochschulen wird in dem mittlerweile immerhin zweibändigen „Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie“ im Kapitel 2.6 in gemäßigter Untertreibung …

Lehre zu qualitative Forschung – eine Leerstelle?“

… als „anhaltend problematisch“ charakterisiert, da man weiterhin davon ausgeht, dass ein(e) jede(r) aufgrund seiner vor-wissenschaftliche Alltags-Praxis hinreichend in der Lage sei zu beschreiben, anstatt sich auch&gerade in den Psychologie-Studiengängen darin einzurichten, den Umgang mit dem Medium ‚Sprache‘ in verschiedenen Hinsichten und auf unterschiedlichen Ebenen auszubauen, einzuüben und nach Maßgabe wissenschaftlicher Standards, Prinzipien und Regeln umfassend zu kultivieren, um im Zuge&Rahmen einer konsequent psychologischen Gegenstandsbildung mit den vielgepriesenen Quantifizierungen das zu vermeiden, vor dem Wilhelm Busch einmal wie folgt gewarnt hat:

Das Feinste fällt durchs Sieb.“

Bestimmt man jedoch in der Tradition Goethes den jeweiligen Gegenstand in seinen Besonderheiten zum obersten Maßstab für das Betreiben einer ange-messenen Wissenschaft (‚Primat des Gegenstandes‘). Denn – wie bereits Michel de Montaigne 300 Jahre zuvor in der Lage war ‚fest’zustellen:

Es ist, wie es ist …, aber es könnte auch anders sein.“

Denn Montaigne als ein bedeutsamer Vertreter des Humanismus ist der Ansicht und vertritt insbesondere in seinen ‚Essays‘ wortreich die Auffassung, dass ‚das Leben‘ – in seiner all-umfassenden Alltäglichkeit – eben so ist, wie es nun einmal ‚ist‘: bunt, vielfältig, vielschichtig, facettenreich, dramatisch, phantastisch und abgründig, (be-)sonderbar und vor allem auch (zum Schrecken aller Formal-Logiker): in hohem Maße doppelsinnig, ambivalent, widersprüchlich und paradox. Mit einem Wort: lebendig.

Wenn die Welt eines Tages zugrunde geht, trägt Jules Verne die Schuld. Er dachte logisch.“

Salvador Dalí

D.h., man sollte diese Wirklichkeit, auch und gerade dann, wenn man sie (wissenschaftlich) ergründen will, so (an-)nehmen, wie sie nun einmal beschaffen ist. Und sie nicht im Dienste einer begrenzt verstandenen Wissenschaftlichkeit reduzieren, zurechtstutzen oder sonstwie begradigen. Und all dieser lebendigen Wirklichkeit entsprechend ist auch und in besonderem Maße das Beschreiben als eine – auch wissenschaftlichen Standards genügende und dieser Wirklichkeit – angemessene Methode des Erfassens, da das Beschreiben in seiner Beweglichkeit und der dem Medium ‚Sprache‘ eigentümlichen Präzision sehr wohl in der Lage ist, auf verlässliche Weise Bilder dieser Wirklichkeit in ihren Entwicklungen und (Ver-)Wandlungen bereitzustellen bzw. zu ermöglichen. Die dazu erforderliche Bereitschaft, den Mut und das zu kultivierende Können freilich vorausgesetzt.

Wer aber, der sich mit solchen Untersuchungen ernstlich abgab, hat nicht erfahren, daß eben dieses Schwanken von Form zu Unform, von Unform zu Form, den redlichen Beschauer in eine Art von Wahnsinn versetzt. Denn für uns beschränkte Geschöpfe möchte es fast besser sein, den Irrtum zu fixieren, als im Wahren zu schwanken.“

J.W. v. Goethe

Gewiss in profunder Kenntnis dessen, was Heraklit seinerzeit mit dem bekannten πάντα ῥεῖ (‚alles fließt‘) als Kennzeichnung seiner Lehre prägte, charakterisiert Goethe die ‚Gestalten-Lehre‘ als ‚Verwandlungs-Lehre‘. In seinen beiden Gedichten „Dauer im Wechsel“ und „Eins und alles“ bezieht Goethe sich gar ausdrücklich auf Heraklit „… denn alles muß in Nichts zerfallen, wenn es im Sein beharren will“ und erklärt (bzw. versteht) das Prozesshafte der Wirklichkeit, den Wandel, den Übergang und damit ein stetes ‚Dazwischen‘ dies- wie jenseits strikter Trennungen, Abund Ausgrenzungen zu ‚der‘ Wirklichkeit, in der es sich einzurichten gilt und die rücksichtsvoll zu gestalten sich lohnt.

Anstelle eines starr-sturen ‚Entweder-Oder‘ empfiehl sich in vielen Fällen also ein bewegliches ‚Sowohl-als-Auch‘. Denn schließlich ist auch jede Psychologie ‚im Großen‘ (einer bestimmt Auffassung) wie ‚im Kleinen‘ (einer jeden empirischen Untersuchung) eine Gegenstands-Bildung, durch die & mit der ‚die’ Wirklichkeit in einer (konsequent) psychologischen Perspektive sowohl erfasst als auch gemacht wird.

(aus: Salber, W. [1975] Konturen einer Wissenschaftstheorie der Psychologie)
(aus: Salber, W. [1975] Konturen einer Wissenschaftstheorie der Psychologie)

Ein Bild sagt mehr als (hundert)tausend Worte“ (Peter Panter alias Kurt Tucholsky)

Als eine Psychologie in und mit Bilder(n) arbeitet die Psychologische Morphologie in eben diesem Sinne sowohl mit Beschreibungen (also Worten) als auch mit Bildern. Beides sogar in mehrfacher Hinsicht und Weise, denn sowohl Sprache verwendet Bildern – etwa in Verwendung von Metaphern oder im Beleben von Bildlichkeiten z.B. bei der Lektüre eines Romans oder in der Gewährleistung von Anschaulichkeit – als auch beim Einsatz von Werken der Bildenden Kunst (auf einer ergänzenden Ebene bei der Darstellung und Entwicklung von Gestalten – sowie beim Ins-Bild-Rücken von Strukturellem bei einem Austausch mit Märchen-Bildern) werden diese Medien in ihren Möglichkeiten und Begrenzungen genutzt. Beides in einem geht ‚selbstredend‘ auch:

Skizze von Wilhelm Salber zum Grimmschen Märchen vom ‚Rotkäppchen‘ mit folgender Er-läuterung: Ansatz zu Spiralfigur = I. Figuration (1, 3, 5, 7) – Rechteck = II. Figuration (2, 4, 6, 8). Wie man sieht, können auch Zahlen dabei eine durchaus sinn-stiftende Rolle spielen.

Wörter und Bilder arbeiten bei einer Morphologischen Gegenstandsbildung folglich ‚Hand in Hand‘, verweisen aufeinander und ergänzen sich bestens. Eine distinkte Unterscheidung oder ein ausschließendes Setzen auf das eine oder das andere ist nicht nur nicht erforderlich, sondern ginge sogar mit einer unnützen Ein- bzw. Beschränkung einher. Das Problem ‚Ein Bild sagt mehr…‘ stellt sich für die Morphologische Psychologie zum Glück auch dann&dort nicht, wo beispielsweise (ein Umgang mit) Bilder(n) auch in Worte gefasst, also beschrieben werden können – und Beschreibungen vice versa in Bilder zu fassen und zu verdichten sind.

„Worte, Worte nichts als Worte.“

Sigmund Freuds oftmals überlieferte Antwort auf die Frage, wie und wodurch denn etwa eine Psychoanalyse ihre ‚heilende‘ Wirkung entfalten könne, verweist – Shakespeare zitierend – darauf, dass das Medium ‚Sprache‘ nicht bloß die auf sie bezogene ‚Etwasse‘ erfassen, sondern – indem Worte dies tun – immer auch ‚etwas‘ anrichten bzw. bewirken kann. ‚Wirklich‘ ist, was wirk-lich ist bzw. was und wie es wirkt. Was ‚ist‘, das ist, indem es wirkt.

Worte waren ursprünglich Zauber, und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt. Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt der Lehrer sein Wissen auf die Schüler, durch Worte reißt der Redner die Versammlung der Zuhörer mit sich fort und bestimmt ihre Urteile und Entscheidungen. Worte rufen Affekte hervor, und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der Menschen untereinander. … Es ist unmöglich, die Menschen zu kennen, ohne die Macht der Worte zu kennen.

Sigmund Freud                                                              

In durchaus vergleichbarer Weise wird auch Bildern i.e.S. eine Magie zugesprochen (vgl. etwa den „Bildersturm“ zu Zeiten der Reformation, das strikte Verbot, Menschen oder Tiere abzubilden im [vor allem sunnitischen] Islam, der Kampf um ‚Bildrechte‘ in der medialen Kultur der Gegenwart – oder), indem man etwa annimmt, sich das, wovon man (sich) ein Bild macht, auch aneignen zu können (s. die ausdrückliche Vorbehaltlichkeit in einigen Kulturen, fotografiert zu werden u.a.m.).

Hinzu kommt (bzw. allen Medien immanent ist) über gewisse Gemeinsamkeiten hinaus eine ihnen je eigentümliche – d.h. ihren jeweiligen Chancen und Begrenzungen entsprechende – Logik. Wobei der Verwendung von Sprache und Bildern im Zuge&Rahmen einer Morphologischen Gegenstands-Bildung in hinreichender und dem Seelischen angemessener Weise Spiel-Räume eröffnet und zugebilligt werden, die Begrenzungen einer formal-rationalen Logik zu überschreiten.

Damit etwas phantastisch wird, muss man es [nur] genau beschreiben.“

Franz Kafka

Im Unterschied zu Descartes, den die Niedergänge der Scholastik und die Verheerungen eines 30jährigen Krieges um Glauben und Macht dazu getrieben hatten, Wissenschaft(en) durch die Befolgung von ihm aufgestellter Regeln und Setzungen auf eine neue – d.h. verlässliche, d.h. ewig währende, d.h. ‚wahre‘ Erkenntn  isse schaffende – Grundlage zu stellen, ist die Morphologische Psychologie in Tradition anderer Welt-Anschauungen und ‚Menschen‘-Bilder ent- wie gespannt und mitbewegend genug, um ‚die‘ Wirklichkeit als vielfältig, lebendig, widersprüchlich, abgründig, unendlich, phantastisch und märchenhaft zuzulassen, zu entdecken und zu erkunden.

Auch muss sie ihre Unternehmungen nicht wie Descartes in seiner selbstbekundeten Besessenheit „das Wahre vom Falschen scheiden zu lernen“ auf ein dem Menschen angeborenes „lumen naturale“ gründen, mit dem der Gott (des abendländischen Christentums) uns in seiner Güte wohlwollend ausgestattet hat.

Zwar stellt sich auch Descartes die Frage, ob ‚der‘ Mensch gemäß seiner ‚conditio humana‘ überhaupt, d.h. prinzipiell, in der Lage ist, zu ‚wahren‘ Einsichten in sich und die Welt gelangen zu können, nach einem eigens (auch) zu diesem Zwecke durchgeführten ‚Gottes-Beweis‘ kommt „der Philosoph hinter der Maske“ jedoch zu den beruhigenden Schluss („Gott ist kein Betrüger.“), dass dies sehr wohl möglich sei – vorausgesetzt freilich, man hält sich an die Vorgaben und Regeln, die Descartes in die Welt gebracht und der Nach-Welt vermacht hat und welche unsere Bilder von Wissenschaft und Welt bis in die Gegenwart maßgeblich prägen und bestimmen. Uns zum Troste und zur Beflügelung hält Nietzsche bundesgenoss&genüsslich einmal mehr dagegen:

Gott mag [durchaus] ein Betrüger sein, aber als Betrüger ist er ein Künstler.“

In einem solchen Sinne – ‚Ja?‘ oder ‚Nein?‘ – gibt es so manche Frage, die man zwar stellen kann, aber nicht stellen muss. Bzw. für die das Bemühen, hier jeweils eine klare – d.h. eindeutige Antwort – zu geben oder zu (er-)finden einigermaßen müßig ist. So etwa pflegte Wilhelm Salber die zu Zeiten ‚seines‘ Instituts an der Universität zu Köln des Öfteren an ihn gerichtete Frage, ob die Psychologie – bzw. ‚die‘ Morphologie – denn nun in Angrenzung von einer naturwissenschaftlichen Ausrichtung eine ‚Geisteswissenschaft‘ sei, dahingehend zu ‚erledigen‘, dass eine solche schubladöse Einordnung (wie gleichfalls die in andere Wissenschaftsfamilien) nicht notwendig von Nöten sei: Denn ‚Psychologie‘ (als Morphologische Psychologie) sei – so Salber – in erster&letzter Linie ‚Psychologie‘ oder ein wenig sibyllinischer formuliert: eine ‚psychologische Psychologie‘. Und als solche: eigenständig (autonom), konsequent, entschieden, systematisch und radikal!

Eine Position bzw. ein Stand-Punkt, dem man sich gerade in Zeiten, in denen im Zeichen von überbordenden Multismen eine jede Aufassung – und sei sie auch noch so abwegig oder hirnverbrannt – von irgendeinem oder -einer postuliert wird und man sich ansonsten gerne darin verliert bzw. verheddert, dass letztlich jede(r) ‚irgendwie‘ Recht hat, kontrapunktisch (bildungssprachlich) anschließen mag. Nicht zuletzt deshalb, um einem zunehmenden Umkippen von Gleich-Gütigkeit in Gleichgültigkeit entgegenzuwirken.

Und somit ist auch die in letzter Zeit hie&da gestellte Frage, ob ‚die‘(se) Morphologie nun eine Kunst oder eine Wissenschaft ‚ist‘ oder sei – oder als Wissenschaft eine Kunst oder als Kunst eine Wissenschaft oder eine Wissenschaft mit ‚künstlichen‘ Zügen oder eine Kunst mit wissenschaftlichem Anspruch oder … –, selbst eine reichlich frag-würdige Frage. Die man so oder so (für sich [und seine Follo-wer]) behandeln bzw. beantworten kann. Aber die man sich, so man sich für eine Morphologische Gegenstandsbildung in einem ‚Dazwischen‘ heimisch zu fühlen und einzurichten vermag, erst gar nicht stellen muss.

Geschrieben steht: ‚Im Anfang war das Wort!’

Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
ich muss es anders übersetzen,
wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
dass deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh‘ ich Rat
und schreib’ getrost: Im Anfang war die Tat!

Faust – Der Tragödie erster Teil – Studierzimmer

Der Worte sind genug gewechselt,
Laßt mich auch endlich Taten sehn!
Indes ihr Komplimente drechselt,
Kann etwas Nützliches geschehn.

… Vorspiel auf dem Theater

Nun mag man jedoch einwenden, dass ein gewichtiger Unterschied doch sehr wohl darin bestehe, dass ein(e) Künstler:in (gleich ob, malend, dichtend oder musizierend) recht gänzlich anders verfasst ist als ein(e) (morpho-logisch veranlagte[r]) Wissenschaftler:in zu Beginn ihrer und seiner Aktivitäten. Auch bei der konkreten Umsetzung von Werke kommt es zu verschiedenen Tätigkeiten vermittels diverser Gerätschaften. Und wenn sich das Betreiben von Wissenschaft darin von z.B. vor-wissenschaftlichem Tun unterscheidet, dass man bei Ersterem ‚weiß (oder wissen sollte), was man tut‘, ist Absicht (resp. Vorsatz, Vorstellung oder Entwurf) bei Allem nicht alles, wenngleich für die Kunst in konsequenzenreicherem Ausmaß, das gelten mag, was Max Ernst einmal wie folgt umschrieben hat: „Ein Maler mag wissen, was er nicht will. Doch wehe, wenn er wissen will, was er will.

Und so kann es wohl sein, dass das Sich-Einlassen (Sich-Überlassen oder gar Sich-Ausliefern) auf die- bzw. an die immanenten (‚autopoieitschen‘) Wirksamkeiten bei der Gestaltung von Werken bei hinreichend ‚selbst-bewussten‘ Künstlern stärken&mehr ausgeprägt ist als in der Morphologischen Psychologie – aber bei beiden Kultivierungs-Formen von Wirklichkeit sollten Rücksichtnahmen, Offenheit (etwa im Umgang mit [fälligen] Zu-Fällen), Beweglichkeit, Konsequenz u.a.m. eine tragend-konstitutive Rolle spielen, so dass diesseits wie jenseits von allseitig anerkannter ‚Kunstanalogie‘, ‚Bild-Logik‘ oder ‚Psychästhetik‘ die Gemeinsam- und Vergleichbarkeiten überwiegen. D.h. nach Maßgabe einer Lehre von Gestalten in Bildung und Um-Bildung führt auch ein macht-volles ‚Entweder-Oder‘ (in Tateinheit mit einem ‚So-ist-Es!‘) im Unterschied zu einem konstruktiveren ‚Sowohl-als-Auch‘ zu dem ‚Mehr und Anders‘, auf das sich ‚die‘ Morphologie mit Fug und Recht etwas ‚ein-bilden‘ kann – zumal ‚das‘ Seelische in seinen Eigenarten, Strukturzügen und Mechanismen bei sämtliche Produktionen tragend wie prägend ‚ist‘ – und was sie von anderen Psychologien unterscheidet (https://www.youtube.com/watch?v=C9vZL-xE4CQ) – man ersetzte ‚I’m not…‘ natürlich durch ein ‚We are not…‘.

Zu Beginn des Kapitels „Drehfiguren – Vorlieben und Abneigungen“ (in: „Kleine Werbung für das Paradox“ [1988]) schreibt Wilhelm Salber „Das Buch schreibt mich. Was es zur Sprache kommen läßt, bringt seine Bewegungen, seine Figürchen und seinen Rhythmus mit – gegen provisorische ‚Inhaltsverzeichnisse‘, in denen ich zunächst einmal die Werbung für Morphologie zu fassen suchte. Besonders bei Büchern, die sich in ein paar Wochen schreiben ließen – ‚Die Kunst der Charakterschilderung‘; ‚Kunst-Vermittlung‘; ‚Anna Freud‘ –, habe ich den Rhythmus verspürt, in dem eine Gestalt sich zu entfalten sucht. Die Ent-Wicklung des Ganzen diktiert gleichsam das Voranschreiben.“

Selbstredend ist ein Roman oder ein Werk der Bildenden Kunst keine Gegenstandsbildung, wie sie im Rahmen von Wissenschaft bewerkstelligt wird, noch hat eine morphologische Studie Aufgabe und Anspruch, ihren jeweiligen Gegenstand allzu wörtlich ‚ins Bild zu rücken‘; aber eine Welt-Anschauung wie die Morphologie, die von fließenden Übergängen ausgeht, kann ‚Kunst‘ und ‚Wissenschaft‘ anstatt durch ein ‚Oder‘ zu trennen ebenfalls als Pole betrachten, zwischen denen sich auch die Wirklichkeiten dieser beiden Kultivierungsformen ereignen.

Schließlich wird Seelisches auch durch Opern, Filme, Bücher und Gemälde bewegt und behandelt, also Entwicklungen, die durchaus mit wissenschaftlichen Prozessen vergleichbar sind, zumal diese sich wie im Fall der Morphologischen Psychologie bei Forschung, Beratung und Behandlung (i.e.S.) ausdrücklich auf gemeinsame Prinzipien, Regularien und Gestalt-‚Faktoren‘ beziehen.

Zu jedem Bild gehört ein Stuhl.“

Paul Klee

© Staatliche Museen zu Berlin/Achim Kleuker

https://www.youtube.com/watch?v=PTAdQaKVHog

Zu dieser Thematik vgl. man – bei verspürtem Interesse – z.B. auch den Beitrag von Wolfram Domke „Über das richtige oder falsche Seligwerden in der Kunst – Ein Problem für Gebildete (In: Zwischenschritte 1/82) oder Petra Runge „Das Monströse am Machbaren – Zur Wirkung zweier Zeichnungen von George Grosz“ (Zwischenschritte 1/94) sowie weitere Morphologische Studien zum Umgang mit Kunst.

Aber von all dem einmal abgesehen bzw. darüber hinaus ist die&als Frage zu stellen, ob es die Morphologie überhaupt geben muss, kann und soll(te). Denn wer will (besser: kann oder soll) der ‚Große Bestimmer‘ sein? …

Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Marcel Reich-Ranicki nach B. Brecht

Zum Ende dieser Kolumne hin jedoch noch einmal zurück zum ‚Wort‘. Zwar bezeichnete Hegel die Sprache als den „Leib des Denkens“, jedoch führt einmal mehr Nietzsche, der große Zertrümmerer von Selbstverständlichkeiten, frommen Glaubens-Sätzen und allzu starren Haltungen, diese Überlegung in Anspielung auf Sokrates („Alles was wir in Worte fassen können, können wir hinter uns lassen.“) weiter aus, indem er (wie es so seine Art ist) zugespitzt anmerkt:

Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus.“

Auch das Beschreiben, der Umgang mit Worten und das Auskosten der Möglichkeiten des Mediums ‚Sprache‘ ist und besorgt also eine unendliche Geschichte …

… die insofern stets auf Fortsetzungen drängt: Und ganz in diesem Sinne eröffnet W. Salber im ‚Kleinen Paradox‘ (übrigens in überaus trefflicher wie kunstvoller Weise von seiner Tochter Sanna gestaltet) das Kapitel „Wirkungsräume des Alltags – ein unabgeschlossenes Kapitel“ mit den Worten:

„Ein Buch kann weitergehen, auch, wenn mehrere Menschen daran arbeiten; eine Morphologie wirkt dadurch, daß andere sie fortsetzen können.“ …

Also: Aan het werk!

PS 1: Die Subhead dieser ein wenig länger ausgefallenen als zunächst beabsichtigten Zeilen (Kolumne [lat. columna ‚Stütze‘, ‚Säule‘] bezeichnet in der Presse einen kurzen Meinungsbeitrag als journalistische Kleinform) zitiert eine 1970 von der englischen Gruppe „Pete Brown and Piblokto“ veröffentlichte LP:

https://www.youtube.com/watch?v=8ob_jjWK_bs

In freier Übersetzung könnte man diesen Titel aber auch wie folgt in Worte fassen:

Dinge kommen, Dinge gehen, aber der Tanz (des Lebens) geht immer weiter.‘ …

… oder aber auch: „Ars longa – vita brevis“ (in umgekehrter Abfolge Hippokrates zugeschrieben).

https://www.youtube.com/watch?v=Tt99wLDaTVg

PS 2: Die ‚Head dieser Kolumne ist ebenfalls eine Anspielung – und zwar auf die am 8. Mai 1954 zum ersten Mal im „Deutschen Fernsehen“ ausgestrahlte Sendung „Das Wort zum Sonntag“, die in den letzten Jahrzehnten mit über 2.400 ausgestrahlten Folgen (immer wieder samstags nach den „tagesthemen“) und knapp zwei Millionen Zuschauern pro Sendung nach wie vor zu den quotenstärksten kirchlichen Sendungen in Deutschland zählt. … Soviel ‚Theologie‘ kann sein.

PS 3: Und hier noch eine nebenbildnerisch-kulturkritische Anknüpfung an die 1. Kolumne für Zwischenschritte online von Wolfram Domke:

Und manch‘ anderes mehr. Wen wundert es also?

https://www.youtube.com/watch?v=oVOFK9zYwtY

 

 

 

 

 

 

 

 

*Auch ein kleiner Beitrag zur musikalischen Späterziehung.

Insofern noch ein ‚da capo‘ aus nach wie vor bestürzend-aktuellem Anlass:

https://www.youtube.com/watch?v=StDnFwcNkRM (aus dem Jahr 2014!)

https://www.youtube.com/watch?v=StDnFwcNkRM

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