Sven Giebel berichtet über Stephan Grünewald. Der Diplom-Psychologe aus Köln ist Gründer des Markt- und Medienforschungsinstituts rheingold. Grünewald ist ein gefragter Speaker und Bestseller-Autor, u.a. mit den Büchern „Deutschland auf der Couch“ (2006) und „Die erschöpfte Gesellschaft“ (2013) sowie „Wie tickt Deutschland“ (2019). (Mehr über Stephan Grünewald unter: https://stephangruenewald.de/)
Kontakt: gruenewald@rheingold-online.de
Von einer Aufbruchstimmung ist bei dieser Wahl nichts zu spüren. Stattdessen dominieren Enttäuschung und Ratlosigkeit die Gesellschaft. Der Berg an Sorgen und angestauten Problemen ist riesig: Vor allem die Folgen der Migration überschatten alle anderen Themen. Die Attentate der letzten Monate unterhöhlen das Sicherheitsempfinden im Land. Zudem schwächt die hohe Inflation die Kaufkraft und schürt Verlust-Ängste. Gleichzeitig erschwert die desolate Infrastruktur den Alltag der Menschen. Der in den letzten Jahren praktizierte Rückzug ins Private funktioniert daher nicht mehr als Beruhigungs-Strategie. Zudem wird das einst so erfolgreiche Vorzeigeland Deutschland als marode erlebt. Die Verteidigungsfähigkeit ist nicht gegeben und der Wirtschaftsmotor stockt. Viele Bürger quer durch alle Parteien fragen sich enttäuscht und traurig: „Was ist mit unserem schönen Land passiert?“
Mit dem Blick auf die Politik scheint keine Rettung in Sicht. Vielmehr herrscht ein Gefühl der Ausweglosigkeit auf mehreren Ebenen. Es fehlen erstens die großen Ideen und Visionen, wie der Problemstau aufgelöst werden kann. Zweitens erfüllen die Kandidaten nicht das Wunschprofil eines fürsorglichen und durchsetzungsstarken Krisenmanagers. Schließlich erleben die Wähler nach der ernüchternden Ampelerfahrung auch keine überzeugenden Koalitionsoptionen.
Dies sind Ergebnisse unserer Wahlstudie, die wir im rheingold Institut nun seit mehr als 20 Jahren regelmäßig vor den Bundestagswahlen durchführen. Ziel der Studie ist es, ergänzend zu den täglich neu vorliegenden demoskopischen Daten, die Stimmung bei den Wählern zu verstehen und ihre tieferliegenden Sichtweisen und oft unbewussten Beweggründe zu ermitteln.
Angesichts der riesigen Problemberge und Bedrohungen, die die Wähler in den letzten Jahren verspürten, gab es eine große Sehnsucht nach einer richtungsgebenden Geschlossenheit. Diese Sehnsucht ist von den Lenkern der Ampel bitter enttäuscht worden. Statt einer verlässlichen „väterlichen“ Schutzmacht erlebten die Wähler einen steten Bruderzwist. Sie hatten das Gefühl, dass die Ampel hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt waren und weniger auf das Land und die Leute bezogen waren. „Das Land ist verwaist und wir wurden alleine gelassen.“ Viele Wähler sind daher fassungslos, dass dennoch alle drei Spitzenpolitiker der Ampel erneut antreten.
Als Wunschkanzler suchen die Wähler den bodenständigen und durchsetzungsstarke Macher mit Blick für deutsche Interessen. Diesem Wunschprofil entspricht jedoch keiner der Kandidaten. Olaf Scholz gilt als führungs- und kommunikationsschwacher Zauderer. Für viele wird er zur Projektionsfläche für alles, was schief läuft. Friedrich Merz trauen zwar viele zu, dass er der Aufgabe gewachsen ist und dass er Deutschland repräsentieren kann. Er wirkt aber mitunter auch als kapitalnah, arrogant und impulsiv und man weiß nicht wohin erst steuern wird. Sein Bild changiert zwischen Blackrock und Blackbox . Robert Habeck verströmt zwar Wärme und gilt als integer und vermittelnd, wird aber nicht als durchsetzungsstark empfunden. Vor allem das Heizungsgesetz weckt Bedenken an seiner Kompetenz. Mit Alice Weidel werden eher stiefmütterliche Qualitäten verbunden. Ihr Bild schwankt zwischen einer unterkühlten Eiskönigin und einer unerbittlichen Scharfrichterin.
Das Gefühl in einem riesigen Problemstau festzustecken, während Trump in Amerika scheinbar radikal durchregiert, verschiebt die Erwartungen in eine konservative und mitunter radikale Richtung – und verstärkt die Spaltungstendenzen in der Gesellschaft. Mitunter hat man den Eindruck, dass die befragten Wähler in komplett unterschiedlichen Wirklichkeiten leben.
Das eher links-bürgerliche Lager fürchtet den Untergang des Abendlandes, wenn die AfD an die Macht kommen sollte. Dieses Lager beschwört die Normalität, kämpft für den Erhalt des Status Quo – mitunter idealisiert es die Zustände. Es ringt um Demokratie, sieht sich als Bollwerk des Guten und hofft, dass sich durch ihren demokratischen Einsatz der Problemstau letztlich wieder in Wohlgefallen auflöst.
Das andere eher konservative oder AfD-nahe Lager hat das Gefühl, dass Deutschland sich bereits mitten im Untergang befindet. Dieses Lager zeigt sich wütend und wetternd, fordert den radikalen Durchgriff und eine entschiedene Wende zurück zu alter Stärke.
Die gefühlte Ausweglosigkeit in einer festgefahrenen Situation verstärkt jedoch nicht nur bei begeisterten Anhänger der AfD eine latente Sehnsucht, den Problemstau entschieden oder radikal aufzulösen. Angesichts der riesigen Probleme erscheinen Stillstand und ein bloßes „Weiter so“ zunehmend bedrohlicher.
Von der zukünftigen Politik wird daher zumindest erwartet, dass sie eine sachorientierte und umsetzungsstarke Zusammenarbeit trotz der zu erwartenden inhaltlichen Differenzen an den Tag legt. Müde von parteigetriebener Taktik und Machtspielen fordern die Menschen jetzt Pragmatismus, um den Problemstau zu lösen. Der verspürte Ernst der Lage soll klar benannt und mit konkreten Handlungsaufforderungen für alle verbunden werden. Die Brandmauer zur AfD ist richtig und wichtig, doch sie funktioniert nur, wenn die demokratischen Parteien Probleme jetzt wirklich lösen und liefern. Wenn es in der nächsten Regierung erneut so dicke Luft wie in der Ampel geben sollte, dann führt dies zur Erstickung der Demokratie.