Der Kunde bleibt König

Selbstbedienungskassen in der deutschen Einkaufskultur.

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Hanna Blümel absolvierte 2020 den Bachelorstudiengang Wirtschaftspsychologie an der BSP Business and Law School. Ihre Bachelorthesis trägt den Titel „Qualitative psychologische Analyse zur Nutzung von Selbstbedienungskassen in Netto-Filialen“. Ihren Masterstudiengang mit Schwerpunkt Personal- und Organisationspsychologie beendet sie im September 2022. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit untersuchte sie das Arbeitszeitmodell der Vertrauensarbeitszeit in deutschen Start-ups.

 

Kontakt: Hanna.Bluemel@t-online.de

Der Kunde bleibt König

Selbstbedienungssysteme als Zwischenschritt zum autonomen Einkauf

Digitalisierung ist ein Schlagwort unserer heutigen Kultur und hält in viele Lebensbereiche Einzug. In zahlreichen Aspekten der gegenwärtigen Gesellschaft sind digitalisierte Services und Angebote neue Möglichkeiten, unser Leben scheinbar noch einfacher, komfortabler und effizienter zu gestalten. Dies verändert nicht nur unseren Alltag, sondern auch unsere Ansprüche und Erlebnisse. Besonders der stationäre Einzelhandel erlebt durch den Vormarsch der Online-Märkte einen Wandel, den es gilt Schritt zu halten, um sich den neuen Kundenbedürfnissen anzupassen. Das bequeme Bestellen von Daheim ist mittlerweile nicht mehr nur für Elektronik, Möbel und Kleidung möglich, sondern betrifft auch das alltägliche, ja fast schon banale ‚Shopping‘: den Einkauf von Lebensmitteln.

Ohne Gedrängel, Lärm und Warteschlangen ermöglichen es Online-Händler die gewünschten Produkte bequem an die Haustür zu liefern. Lediglich das inspirierende Schlendern durch die Gänge und das haptische Erleben der Waren vor dem Kauf, bleiben bei dem Online-Shopping auf der Strecke. Auch wenn es für manche vielleicht nicht vorstellbar ist, dass der stationäre Einzelhandel jemals komplett aus den Innenstädten verschwinden wird, sehen sich Händler mit der Aufgabe konfrontiert, dieser digitalen Konkurrenz entgegenzutreten und auf die neuen Anforderungen und Wünsche der Kunden einzugehen. Eine Fusion der digitalen Experience mit dem analogen Einkauf kann ein neues Shoppingerlebnis erschaffen, welches die Vorteile beider Welten ökonomisch eint und so den Ansprüchen der Konsumenten gerecht wird. ‚Paradoxerweise‘ hat ausgerechnet der Online-Riese Amazon erkannt, dass der Kunde weder auf digitalen Komfort noch auf den klassischen Einkauf im Geschäft vollends verzichten will und führte als Konsequenz das stationäre Laden-Konzept Amazon Go ein. Die Freiheit ohne Kasse und Personal einzukaufen, trifft auf die Überwachung durch neue Technologien und ist am Zahn der Zeit, wo doch das Streben nach Autonomie, Individualisierung und Digitalisierung die heutige Kultur prägen.

Während Amazon Go seit der Eröffnung der ersten Filiale in Seattle weiter expandiert, gibt es in Deutschland bisher nur wenige autonome Stores. Nicht verwunderlich, wenn es der Vorläufer des autonomen Geschäfts, die Selbstbedienungskasse, noch immer nicht geschafft hat, sich vollends in der deutschen Einzelhandelslandschaft zu etablieren. In anderen Ländern ist sie hingegen schon zum festen Bestandteil des Einkaufs geworden. Die neue Technologie verlangt vom Gewohnheitstier ‚Mensch‘ aus den täglichen routinierten Strukturen und Abläufen auszubrechen und etwas Neues auszuprobieren. Doch selbst die Händler zeigen noch Skepsis gegenüber den Selbstbedienungssystemen. Aber: Schon die Geschichte zeigte, ein solcher Wandel von der Bedienung hin zur Selbstbedienung ist in der Einkaufskultur kein neuer, wenn auch langwieriger Prozess. Ist der Kunde es in der heutigen Zeit gewohnt, sich seine Waren im Laden selbst zusammenzusuchen, prägten zu Beginn der 1940er Jahre noch ‚Tante-Emma-Läden‘ das Bild des Lebensmitteleinzelhandels, in welchen die Mitarbeiter das Aufsuchen, Abwiegen und Abkassieren übernahmen und den Konsumenten so einen Rundumservice boten. Das zur damaligen Zeit neumoderne ‚Selbstbedienen‘, manifestiert durch unhandliche Einkaufswägen in überladenen Gängen und zunächst ratlosen, überforderten aber auch neugierigen Kunden wurde dennoch zum vorherrschenden Konzept. Dem amerikanischen Vorbild folgend, etablierten sich in den 1950er Jahren daher die ersten großen Supermärkte, sogenannte Vollsortimenter, im deutschen Einzelhandel. Auch damals schon bestimmten die Kundenbedürfnisse das Geschäft. Die neue Vielfalt und große Auswahl an Produkten gingen mit hohen Preisen einher. Dem Wunsch der Kunden nach mehr Einfachheit, Komplexitätsreduktion und günstigen Alternativen folgend, eröffneten die Brüder Karl und Theo Albrecht, die Gründer der Aldi-Kette, 1962 einen Laden mit – im Vergleich zum Vollsortimenter – wenigen Artikeln zu erschwinglichen Preisen (Deppe 2020).

Die Geburtsstunde der Discounter, die bis heute ein beliebtes Ladenkonzept darstellen und besonders für den schnellen, günstigen Einkauf geschätzt werden. Eine Selbstbedienungskasse könnte nun den Vorgang des Einkaufens gar zusätzlich beschleunigen.

Doch was benötigt es, außer der Zeit, dass die Selbstbedienung an Kassensystemen sich etabliert? Was strebt der Kunde durch die Nutzung der Systeme an und was sind unbewusste ‚Wünsche‘ und ‚Bedürfnisse‘, welche das Seelische durch die Verwendung der Selbstbedienungskassen versucht zu behandeln? Es erscheint in diesem Zusammenhang notwendig, die nicht bewussten und unbewussten Prozesse, welche seelische Spannungen und Konflikte hervorrufen, gegenüber den Kassensystemen zu erfassen, um das Phänomen in der deutschen Einkaufskultur verstehen zu können – auch im Hinblick darauf, dass Selbstbedienungskassen lediglich einen Zwischenschritt zu einer zunehmenden Autonomisierung darstellen für die aus einer deutschen Perspektive noch eher futuristisch wirkenden digitalen Einkaufskonzepte.1

Der kurze Einschub zu ‚spontanen Kleineinkäufen‘

Der Einkauf kann sich im Alltag in verschiedenen Facetten zeigen: Von gut geplanten Wocheneinkäufen bis zu spontanen Wochenendbesorgungen, von notwendigen Kleineinkäufen hin zu durchdachten Großeinkäufen, von verlockenden Schnäppchen bis zu großen Investitionen. Doch auch wenn die Art des Einkaufs variieren kann, sind die unterschiedlichen Ausprägungen geeint durch ein Austauschverhältnis. Der Erwerb einer neuen Ressource geht einher mit dem Hergeben einer bisher eigenen Ressource – dem Geld. Präsenter sind hingegen die Unterschiede diverser Einkaufsformen, welche durch Sonderheiten, Gewöhnlichem und Qualitäten verdeutlicht werden. Am Beispiel der durchgeführten Studie von Wolfram Domke zum ‚Kaufen im Sonderangebot‘ (1985) wird deutlich, welche seelischen Eigenarten mit dieser Form des Tauschgeschäfts einhergehen. So missglückt in den meisten Fällen der hoffnungsvolle Versuch, sich vom ‚Entgegenkommen‘ in Form einer Preissenkung bei Sonderangeboten noch mehr verführen zu lassen und resultiert anschließend in dem Gefühl, ausgebeutet worden zu sein. Trotz all der Cleverness, die durch den

rabattierten Kauf verspürt wird, sehen sich die Kunden durch den unausgeglichen „seelischen Haus-Halt“ (Domke 1985, S.11) u.U. als ‚dumm‘ an, auf diese Austauschform überhaupt eingegangen zu sein. Die Etymologie zwischen ‚Tauschen‘ und ‚Täuschen‘ kommt zum Tragen, denn beide Wörter sind auf den „gemeinsamen Sinn von Betrug und Übervorteilung“ (Domke 1985, S.14) zurückzuführen.

Müsste man nun den Einkauf mit der einhergehenden Nutzung von Selbstbedienungssystemen mit einem Etikett versehen, so könnte er als ‚spontaner Kleineinkauf‘ deklariert werden. Bereits vorab kann man somit feststellen, dass die Einkaufsform von einer gewissen Impulsivität und Unabhängigkeit geprägt ist, welche sich durch den gesamten Einkaufsprozess hindurch zieht. Denn die Einkaufsstätte wird hier nur aufgesucht, „wenn es eilt“ und um „Kleineinkäufe“ so schnell wie möglich verrichten zu können. Es besteht keine Notwendigkeit „so weit vorauszuplanen“, denn es scheint, als wäre der Stopp beim nächstgelegenen Supermarkt nur ein kleiner, außer Plan erfolgender Einschub in den sonst eher starren Ablauf des Tages.

Die Einkaufsliste als inneres Navigationssystem

Doch auch Spontanität hat Beschränkungen, welche durch eine doch penible Planung des Prozesses sichtbar werden. Um den Einkauf, der dem „Mittel zum Zweck“ dient, so schnell wie möglich beenden zu können, wird sich vorab ein genauer Plan zurechtgelegt. Die Einkaufsliste ist das innere Navigationssystem und steuert den Menschen zielorientiert durch die Gänge. Um nicht „unnötig lange Zeit im Laden zu verbringen“, haben die Kunden die benötigten Waren schon vor Betreten des Ladens „im Kopf“, und sie überlegen sich genau, wo die notwendigen Artikel stehen und welchen Weg sie dafür einschlagen. Auch der Blick auf andere Märkte zeigt: Digitale Erlebnisse in analogen Formaten scheinen besonders in Discountern einen Anklang zu finden, welche nur eine geringe Auswahl an Waren bereitstellen. Die „simple“ und „aufgeräumte“ Aufmachung einer Netto-Filiale2, welche sich als Discount kategorisieren lässt, unterstützt daher das Vorhaben. Sie ist perfekt für den schnellen Einkauf geeignet, da so Versuchungen und Verwicklungen vermieden werden und die Kunden durchdacht und so schnell wie möglich durch den Laden steuern. Es gilt, nicht vom ‚rechten Wege‘ abzukommen, denn schon das Märchen vom Rotkäppchen zeigt auf, welche Gefahren hinter ungeplanten Abzweigungen lauern können. Ablenkungen in Form von Probierständen oder anderem „Schnick Schnack“ werden als Zeitfresser angesehen, welche es daher zu umgehen gilt. Die Kunden gehen durch die einfache Gestaltung des Ladens „nicht verloren“.

Um sich darauf zu verlassen, den geplanten Ablauf reibungslos vollziehen zu können, ist ein Discounter die richtige Wahl, denn dort „ist alles so auf den Punkt gebracht“.  ‚Auf den Punkt gebracht‘ ist in diesem Zusammenhang auch der zutreffende Ausdruck für die Art der Beschreibungen. So wird nur kurz und knapp darüber berichtet, wie sich der Einkauf bei Netto gestaltet, während in Beschreibungen von Einkäufen in anderen Läden viele Details des Prozesses ausführlich erläutert werden. Die Einkaufsliste als Navigationssystem scheint in solchen Vollsortimentern zu versagen, wo doch die Gestaltung des Geschäfts dafür prädestiniert ist, vom Wege abzukommen, noch einen kleinen Schlenker zu den Probierständen einzulegen oder einen Umweg über die Käse- und Fleischtheke einzuschlagen. Hinter jeder Ecke scheint eine neue Überraschung zu lauern, die nur darauf wartet, gefunden zu werden und die Zeit bis zu Erreichung der Kasse zu verlängern.

Die berechenbaren Faktoren als sicherer Anker

Der Grundriss von Netto-Discountern und das Vorhandensein der Selbstbedienungssysteme sind für die Kunden hingegen „berechenbare Faktoren“. Mit Scheuklappen manövrieren sie sich durch die vorhersehbare Ladengestaltung, ohne nach links und rechts zu schauen. Das Ziel des kleinen Sprints: die Selbstbedienungskasse, an denen die Kunden keine Warteschlange erwarten. Durch den entstehenden Druck, den Einkauf so effizient wie möglich zu gestalten und die Sicherheit der „kalkulierbaren“ Systeme, entsteht der Wunsch, diese so schnell wie möglich aufzusuchen. Vor dem Hintergrund des hektischen Alltagsgeschehens und dem Bedürfnis, den Einkauf so schnell wie möglich zu beenden, da eine bedeutsamere oder freudigere Tätigkeit danach wartet, legen sich die Kunden unmittelbar nach dem Entschluss den Laden zu betreten, eine Last auf die Schulter. Da diese erst wieder nach Verlassen des Ladens abfällt, gehen die Kunden „flotten Schrittes“ durch das Geschäft und „schnappen“ sich die Produkte, als ob keine Zeit bleibt, für einen Moment inne zu halten. Der Sprint durch den Laden mit der anschließenden Nutzung der Kasse wird so lange optimiert, bis das Gefühl entsteht „auch nur zwei Sekunden Zeit zu sparen“. Das System ist ein visueller Anker, den es gilt anzustreben und sobald diese sichere Insel erreicht wird, fällt der Druck von den Schultern der Konsumenten spürbar ab.

Der königliche Kunde und die treue Kasse

Der Kunde ist König und das System der „ruhige und loyale“ Diener, der seine Aufgabe, die Zeitersparnis, immer gewissenhaft und verlässlich erfüllt. Er steht ihm stets zu Diensten, da es ihm „egal ist, wie das Umfeld ist, egal wie voll der Laden ist, egal wie leer der Laden ist“ – er ist „immer für einen da“. Auch die eigene aktive Teilhabe am schnellen Voranschreiten, manifestiert durch das Umgehen der Warteschlange, ermöglicht den Konsumenten, sich als „unabhängiger und einfach selbstbestimmter“ zu erleben. Allein die Tatsache, dass die Selbstbedienungskasse eine „Ausweichmöglichkeit zur normalen Kasse“ ist, bedingt das Gefühl der Freiheit, da die sonst bedienten Kunden das Abkassieren nun „selbst in die Hand nehmen“. Sie sind nicht nur Herr ihrer Selbst, sondern auch Herr der Lage und empfinden sich somit erhabener als die wartenden Kunden, die sich dem Tempo der Kassierer unterordnen. Die Nutzer der Selbstbedienungskasse bringen deshalb auch kein Verständnis dafür auf, warum sich die Wartenden dieser „passiven“ Abhängigkeit hingeben bzw. ausliefern.

Das Warten an der Kasse ist eine Eigenheit des Einkaufens, die in unterschiedlichen kulturellen Kreisen anders wahrgenommen und erlebt wird. So warten Menschen aus Deutschland beispielsweise anders als Menschen aus dem japanischen Kulturkreis. Der Soziologe Andreas Göttlich führt dies auf die ausgeprägte Individualisierung der westlichen Welt zurück, in welcher die kostbare Eigenzeit und die Fremdzeit einen größeren Gegensatz darstellen als in einer kollektivistischen Kultur, wie sie in Japan vorherrscht. ‚Warten‘ wird in unserer vorherrschenden hektischen Gegenwartskultur, welche sich auch in der deutschen Einkaufskultur wiederfinden lässt, als „leere Zeit“ gewertet. Dies bedeutet für die Kunden, sich aus den gut strukturierten „Alltagsplänen auszuklinken, die uns von Termin zu Termin treiben“ (Göttlich 2021). Betrachtet man unseren Alltag, so kann festgestellt werden, dass wir Menschen in „größeren Wartezusammenhängen“ (Göttlich a.a.O.) stecken – so ‚warten‘ wir doch alle seit fast drei Jahren auf das Ende der Pandemie. Auf kleinere Alltagsepisoden des Wartens kann man hingegen leichter Einfluss nehmen. Zum Beispiel indem man die Warteschlange umgeht und die Dinge an der Selbstbedienungskasse selbst in die Hand nimmt. Auffallend ist, dass keiner der Befragten gerne über den Aspekt berichtet, sich über die Norm hinwegzusetzen und an der Schlange erhobenen Hauptes vorbeizugehen und sich der ‚leeren Zeit‘ zu widersetzen. Nachfragen im Interview ignorieren sie gekonnt wie die Mutter das Kind, wenn die ‚Quengelware‘ an der Kasse die gewünschte Wirkung zeigt. Erst nach vielem Zögern, Innehalten und der Gewissheit, dass kein falscher Eindruck entsteht, geben sie nach und berichten über den gefühlten Triumph, wenn sie das ‚Fußvolk‘ an der Kasse umgehen.

Der beherrschende Umgang

Der gewohnheitsliebende Mensch lässt auch die zunächst neue Erfahrung des selbstständigen Abkassierens schnell zur „Routine“ werden. Schon nach wenigen Nutzungen wissen die Kunden „aus dem FF‘“, welche Texte und Buttons auf dem Display erscheinen werden. Ein regelrechter Stolz überkommt die Probanden, wenn sie ohne Zögern beschreiben, wie die Oberfläche des Displays aussieht und welche Buttons nach welchem Prozessschritt auf dem digitalen Bildschirm auftauchen. Sie beherrschen das System, das ihnen treu dient. Die bargeldlose Zahlung, eine weitere Facette der digitalen Einkaufswelt, untermauert das Gefühl der Macht über die Situation zusätzlich. Die Kartenzahlung wird als „saubere Angelegenheit“ empfunden, was in Zeiten einer weltweiten Pandemie auch durchaus als eine Doppeldeutigkeit verstanden werden kann, da nur die Kunden selbst die Karte „in der Hand haben“. Zahlen sie mit Bargeld, muss dieses auch physisch losgelassen und übergeben werden. Hier fehlt das visuelle Loslösen des Geldes und das daraus resultierende Empfinden, etwas hergeben zu müssen. Die „saubere Angelegenheit“ stellt somit einen vereinfachten Umgang dar, sich vom Geld zu lösen. Das wechselwirkende Gebilde zwischen Einverleibung und Hergabe von Ressourcen erfährt so eine ‚Komplexitätsreduktion‘.

Die Abgabe des Zepters

Tritt jedoch eine Situation ein, in der der ‚königliche‘ Kunde das ‚Zepter‘ abgegeben muss und die Kasse durch selbstverschuldetes Fehlverhalten „ihren eigenen Willen“ bekommt, fühlt er sich „niedergeschmettert“. Es findet ein beidseitiger Wandel von Menschlichkeit und Maschinerie statt. Die Selbstbedienungskasse erlangt durch den „eigenen Willen“ menschliche Züge, während der Kunde scheinbar gedanken- und emotionslos Automatismen und Routinen zu beleben versucht, um wieder selbst Herr der Lage zu werden. Doch es gelingt ihm nicht. Er kann das entstandene Dilemma selbst nicht lösen und ist wieder auf die Mitarbeiter der Filiale „angewiesen“. Durch den Kontrollverlust fühlt er sich „überfordert“ und „dumm“. Er muss sich wieder auf dieselbe Stufe stellen wie die wartenden Mitstreiter an der regulären Kasse und sich dem Tempo der Mitarbeiter unterordnen, sollten diese sich mal „bequemen“ und ihm zur Hilfe kommen. Es wurde in diesem Zuge von einem „Gefühl der Schande“ berichtet, da man nicht im Stande ist, sich selbst abzukassieren. Hier kommt zudem die Doppeldeutigkeit des ‚Abkassierens‘ zum Tragen. Es fällt schwerer, sich das Geld selbst abzunehmen, anstatt jemand anderem, dem Kassierer, diese Aufgabe zu überlassen.

Der verspielte Kaufmannsladen

Diese potenziellen Fehlleistungen verdeutlichen den Ernst der Angelegenheit. Dennoch ist die Bedienung auch von „spielerischen Elementen“ geprägt, welche den Stress des Einkaufs und die einhergehende Verantwortung für den Prozess für einen kurzen Moment vergessen lassen. Die Kunden „schnuppern“ mal in die Tätigkeit als Kassierer rein, was sich nicht mit ihrer eigentlichen beruflichen Tätigkeit deckt, aber den unerfüllten kindlichen Wunsch bedient, „später selber mal Kassierer zu sein“. Assoziationen zum kleinen ‚Kaufmannsladen‘ der Kindheit werden wachgerufen. Die Spielerei geht ebenfalls mit kleinen „Mini-Wettbewerben“ einher. Ziel dieser „Wettkämpfe“ en miniature ist es dann, schneller zu sein als die anderen Nutzer oder aber seine eigene Bestzeit an den Kassen immer wieder zu toppen, um so einen gewissen „Spaßfaktor“ in den Prozess zu bringen und selbst bei diesem ‚infantilen‘ Verhalten die Machtposition nicht aufgeben zu müssen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sowohl die Reibungslosigkeit als auch die Autonomie die Qualitäten sind, welche alle Phänomene einen und sich durch den gesamten Prozess des Einkaufens ziehen.

Diese Grundqualität einer ‚reibungslosen Unabhängigkeit‘ bringt allerdings auch diverse Spannungen mit sich, welche das Seelische durch den Umgang mit den Systemen nun versucht zu behandeln.

Das Verlassen auf die situativen Faktoren

Ambivalenzen zeigen sich bereits in der Entscheidung für die „funktionale“ Netto-Filiale und das „intuitive“ Kassensystem, die als „berechenbare“ Faktoren angesehen werden und den störungsfreien Ablauf sichern. Erst durch den Zwang, sich von den situativen Faktoren abhängig zu machen, kann die Erwartung auf ein möglichst autonomes reibungsloses Vorgehen gesichert werden. Sollten die Sicherungen in Form des Geschäfts und der Selbstbedienungskassen nicht gegeben sein, kommt es zu einem „Vermeidungsverhalten“. Unter diesen Umständen wird der Kleineinkauf nicht ausgeführt. Paradoxerweise ist ein störungsfreier und unabhängiger Ablauf daher nur möglich durch die Unterwerfung gegenüber dem Aufbau der Filiale und der Bereitstellung der Systeme.

Der sich unterordnende König

Auch die Verortung im schnelllebigen Alltag und der Ablauf während des Einkaufs unterliegt gewissen Ordnungsprinzipien, welche in die genannten berechenbaren Faktoren eingebettet sind. Durch die flexible Entscheidung für das Betreten des Ladens, die wiederum abhängig von der zur Verfügung stehenden Zeit ist, wird gewährleistet, dass die weitere Tagesplanung ohne größere Unterbrechungen vom Einkauf wahrgenommen wird. Der berechenbare Faktor der Ladenaufteilung hilft zudem, dass die Grundqualität in eine Routine eingebettet ist, da bei jedem „Zwischeneinkauf ja immer die gleichen Waren“ erworben werden. Die Routinen ermöglichen einen Einkauf, der „viel klarer strukturiert ist“, denn das schnelle Auffinden der Produkte durch die gewohnten Abläufe gewährleistet erst die reibungslose Unabhängigkeit. Des Weiteren wird der Vorgang des Einkaufens und Bezahlens in einen Arbeitskontext eingegliedert. Der königliche Kunde wird zum Arbeiter, denn wie am „Fließband“ werden die immer wiederkehrenden selben „Handgriffe“ an den Selbstbedienungskassen vollzogen. Nur wenn die Handhabung in automatisierten Bewegungen erfolgt, kann ein fließender selbstbestimmter Ablauf entstehen, der schlussendlich zum Gefühl von ‚Freiheit‘ führt.

Die beruhigende Aktivität

Das „aktive“ Handeln trägt dazu bei, dieses Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Abhängigkeit aufzulösen. Kunden bleiben im gesamten routinierten, „fortschreitenden Prozess“ nicht stehen und kassieren abschließend auch eigenständig ihre Waren ab. Zwar muss sich der Kunde durch die selbst auferlegten Routinen stark kontrollieren, doch durch die so erlangte Autonomie hat er nun selbst ein Gefühl der kontrollierten Einflussnahme, da der „passive“ Vorgang des Wartens umgangen wird. Das Warten manifestiert visuell, dass jemand anders über das eigene Voranschreiten bestimmt. Der Kunde ist fremden Einflüssen ausgesetzt, denen er sich nicht entziehen kann. Das Gefühl der Selbstbestimmung und der flüssige Handlungsablauf wirken sich wiederum „beruhigend“ auf ihn aus. Schon vor Betreten des Ladens haben die Kunden „nicht mehr den Stress“, da sie durch die unbehinderte, freiheitsgeprägte Qualität des Einkaufs die „Sicherheit“ erlangen, keine Zeit zu verlieren. Die reibungslose Unabhängigkeit „nimmt das Hektische raus aus der ganzen Situation“, da der „Stressfaktor“ des Wartens entfällt.

Der erwachsene Umgang

Der Umgang mit den Kassen belebt die Tendenz des Seelischen, etwas besitzen zu wollen. Dies spiegelt sich in Form der sicheren Eigenverantwortung wider, die sich die Kunden durch die Verwendung aneignen. Das selbstbestimmte Vorgehen prägt maßgeblich das Erleben der Nutzung der Kassensysteme, da die Kunden „eigenständiger“ sind. Mit der Eigenverantwortung geht somit auch das Gefühl der „Sicherheit“ einher, denn die Kunden müssen sich an den Selbstbedienungssystemen nur auf ihren automatisierten Umgang mit den Kassen verlassen. Doch wenn die Kunden Eigenverantwortung, Sicherheit und Selbstbestimmung erleben und diese auch wünschen, bringt die Verantwortung für das eigene Handeln eine Kehrseite mit sich, die die Kunden durch die Selbstbedienungskassen eigentlich umgehen wollen. Haben sie an den regulären Kassen das Gefühl, dass sie „schnell, schnell“ machen müssen, um den Verkehr nicht aufzuhalten, müssen sie an den Selbstbedienungssystemen nun fehlerfrei agieren. Begehen sie einen Fehler, sind sie dafür verantwortlich, dass andere Kunden und sie selbst keinen störungsfreien Ablauf mehr haben. Die Kehrseite beinhaltet daher die Erkenntnis, dass trotz eigener Autonomie andere Personen von ihrem Verhalten abhängig sind und den daraus resultierenden Druck, dass die ganze Schuld in solch‘ einer Situation auf einem lastet.

Die kindlichen Züge

Durch die Gewährleistung, dass der Ablauf an den Systemen ohne Komplikationen und Einflussnahme anderer vonstattengeht, werden die Kunden dazu verleitet, den Vorgang des Scannens und Bezahlens nicht mehr so ernst zu nehmen. Die Facetten der Eigenverantwortung und der infantile Umgang stehen sich daher herausfordernd gegenüber, bedingen sich aber auch gegenseitig. Zum einen wird ermöglicht, dass die Probanden an den Selbstbedienungssystemen kindlich werden können, zum anderen wird das „spielerische Element“ der Bedienung als „Belohnung“ für den fließenden, autonomen Ablauf des Einkaufens angesehen. Das Piepen der Kasse symbolisiert dabei akustisch, dass das Vorgehen zum „Erfolg“ geführt hat und ruft bei den Probanden die Freude hervor, dass ihr ‚richtiges‘ Handeln auch anerkannt wird. Doch auch wenn der verspielte Umgang mit den Systemen durch sichere Eigenverantwortung erst entstehen kann, besteht die Gefahr, dass die kindliche Komponente so präsent wird, dass der Ernst der Lage und die Verantwortung völlig in Vergessenheit geraten. Die Anfälligkeit für Fehler ist nun höher und die sonst so wichtigen Automatismen werden ausgeblendet. Werden die Kassen durch Unachtsamkeiten falsch bedient, wird nicht nur die Schuld auf sich geladen, sondern die Regression in ein infantiles Verhalten findet seine Zuspitzung. Der Kunde ist nun wieder abhängig vom verantwortungsvollen, responsiven und verlässlichen Verhalten der Mitarbeiter. Dies wiederum erinnert an das Beziehungsverhältnis zwischen hilfsbedürftigem Kind und fürsorglichen Elternteil.

Die wunschhafte allumfassende Macht

Schlussendlich resultiert der Umgang mit den Systemen in dem Wunsch, „der eigene Herr“ zu sein und zudem über allen anderen Personen und situativen Gegebenheiten zu stehen. Der Kunde will alles allein „in der Hand“ haben, und es besteht das Bedürfnis, dass „man keinen anderen Menschen braucht“ und auf nichts und niemanden angewiesen ist. Das Streben nach Macht wird besonders dann deutlich, wenn sich die Kunden der eigentlichen Norm, sich in einer Schlange anzustellen und bedienen lassen zu müssen, widersetzen und erhobenen Hauptes an den Wartenden vorbei gehen. Da das eigenständige Abkassieren als „idiotensicher“ angesehen wird, herrscht Unverständnis darüber, wie man sich von den regulären Kassen und den Mitarbeitern abhängig machen kann. Die Nutzer der Selbstbedienungssysteme schreiben den Wartenden dadurch Unfähigkeit zu, sich selbst abzukassieren.

Das Bedürfnis nach kompletter Autonomie steht dabei allerdings in einem Spannungsverhältnis zur Unterwerfung gegenüber den Kassen und dem Aufbau der Filiale. Nun zeigt sich das Paradoxon, dass der Kunde für die Gewährleistung eines autonomen störungsfreien Ablaufs auf diese Gegebenheiten zählen muss, um sich im Anschluss nur noch auf „sich selbst zu verlassen“.

Sollte es durch die Kehrseite der kindlichen Spielereien zu fahrlässigem Fehlverhalten kommen, bedeutet dies für die Kunden nicht nur einen Verlust der Kontrolle und eine Abhängigkeit von den Mitarbeitern, sondern es entsteht ein „traumatisierendes Erlebnis“, da der Wunsch nach ‚totaler Selbstbestimmung‘ nicht mehr erreicht wird. Fühlt man sich im Moment der Nutzung viel schlauer als die Personen, die sich an der regulären Kasse anstellen, entwickelt sich dieses zu einem Schuldgefühl, die anderen Menschen verurteilt zu haben. Hielt man die anderen Leute für unzurechnungsfähig, sich selbst zu bedienen, fühlt man sich nun selbst „dumm, weil man so etwas Simples wie Kassieren nicht hinkriegt“. Zudem wird durch den Wunsch der allumfassenden Kontrolle auch der Respekt vor der Arbeit der Kassierer untergraben, denn laut den befragten Kunden kann jeder Kassierer werden, der „halbwegs geradeaus laufen kann und die Grundschule abgeschlossen hat“. Diese Schuld der vorurteilsbehafteten Denkweise lastet auf den Probanden und wird während der „traumatischen Erlebnisse“ besonders bewusst.

Der Wunsch, sein „eigenes Ding“ zu machen, weckt natürlich auch die Versuchung, dass an Stelle des Tauschgeschäfts eine Täuschung des Geschäfts in Form von Diebstahl tritt. Die Möglichkeit, das Etikett der Waren beim Scannen zuzuhalten, um eine Listung auf dem Bon zu umgehen und dennoch den Anschein zu bewahren, die Waren gescannt zu haben, scheint verlockend. Die Moralvorstellungen der Käufer lassen diese wunschhafte Vorstellung, an der Selbstbedienungskasse zu klauen, allerdings nicht zu. Das Gefühl, „dass jemand denken könnte, dass man was mitnimmt“ lastet in solchen Momenten auf den Kunden. Sie fühlen sich in „eine Schublade“ gesteckt und „abgestempelt“. Die Tatsache, dass sie dazu verleitet werden, ein – wenn auch ‚kleines‘ – Verbrechen zu begehen wird durch routinemäßige Beobachtungen und Kontrollen von Mitarbeitern nochmals besonders deutlich und ruft ein „unangenehmes“ Gefühl hervor. Der schuldhafte Rest, fast in Versuchung gekommen zu sein, kann allerdings nicht durch das konforme Bezahlen beglichen werden, sondern begleitet die Kunden über das Abkassieren hinaus bis zum endgültigen Verlassen des Ladens.

Psychologisierende Fragestellung

Mit dem ständigen Drehen zwischen Unabhängigkeit und Abhängigkeit und dem widersprüchlich erscheinenden Wechselspiel zwischen den sichereren Ankern und der daraus entstehenden Freiheit, sind die Nutzer der Selbstbedienungskassen in ihrem Leben nicht zum ersten Mal konfrontiert. Die Gestalt zeigt Parallelen zum Grundkonflikt der ‚analen Phase‘ der psychodynamischen Entwicklungstheorie auf. Versinnbildlicht wird die Parallelerscheinung in der Regression, dem Zurückschreiten auf einen kindlichen Umgang mit den Systemen. Innerhalb dieser Phase erlernt ein Kind durch die Reinlichkeitserziehung die Kontrolle über den eigenen Körper und erfährt, dass durch diese Steuerung der Sauberkeit auch Kontrolle und somit Macht auf andere ausgeübt werden kann. Die Machtdemonstration wird durch den Wunsch bedingt, den ‚eigenen Willen‘ durchzusetzen. Neu erlernte Handlungsmuster und ein Zuwachs an motorischen Fertigkeiten geben dem Kind zudem das benötigte Selbstvertrauen und ermöglichen Selbstständigkeit.

Auch die Kunden werden durch den Umgang mit den Systemen dazu befähigt, neue Handlungsfelder zu erproben, da sie sich selbst abkassieren. Das Umgehen der Warteschlange und die eigenverantwortliche Bedienung schenken zudem das Selbstvertrauen, die Situation selbstständig und ohne Einflussnahme Außenstehender bewältigen zu können. Eine strikte Regulierung der eigenen Verhaltensweisen trägt dazu bei, die Situation zu kontrollieren und es entsteht ebenfalls der Wunsch, nur seinen eigenen Willen zu verfolgen und soziale Macht auszuüben. Durch die Freiheit an der Kasse bestimmen die Kunden allein, ob sie den Laden sinnbildlich ‚beschenken‘ und ihre Schuld begleichen oder aber die Bezahlung ‚einbehalten‘, um der Macht Ausdruck zu verleihen. Festzustellen ist auch, dass das Seelische während des Einkaufs und der Nutzung der Systeme dennoch bemüht ist, ein Gefühl der Sicherheit zu erlangen. Diese Ausprägungsform der Wirkungseinheit kann ebenfalls mit den Zügen der ‚analen Phase‘ in Verbindung gebracht werden. Nur wenn das Kind weiß, dass es eine gute Bindung zu den Eltern hat, welche abhängig vom verlässlichen Verhalten der Elternteile ist, kann es dem Wunsch nach Autonomie nachgehen. Um die Unabhängigkeit im Zuge des Einkaufs bei Netto und der damit einhergehenden Nutzung der Systeme zu erlangen, bedarf es ebenfalls einer festen Bindung an die Gegebenheiten des Ladens. Da sich die Kunden auf den einfachen Aufbau der Filiale und die berechenbaren Systeme verlassen, um autonom agieren zu können, übernehmen diese metaphorisch die Aufgaben der Elternteile und schenken dem Kunden die benötigte sichere Basis, derer er für die Erprobung neuer Handlungsweisen bedarf. Nur durch das Vorhandensein dieser beiden Aspekte traut sich der Kunde, seinen Handlungsspielraum zu erweitern und somit seine Unabhängigkeit zu erlangen. Basierend auf diesem vorherrschenden Spannungsverhältnis kann die psychologisierende Fragestellung daher wie folgt abgeleitet werden:

Wie kultiviert das Seelische die Spannung zwischen dem Autonomie-Wunsch und dem Bedürfnis nach sicherer Bindung im Alltag?

Des Teufels rußiger Bruder

Im Umgang mit den Selbstbedienungssystemen beim Discounter Netto drehen sich die Verhältnisse von Macht und Ohnmacht. Kunden müssen sich den Bedingungen der Filialen unterwerfen und den Versuchungen des Betrügens widerstehen, um ihren Lohn in Form von Freiheit und Unabhängigkeit zu erhalten. Ein Märchen, dass diese Eigenschaften widerspiegelt ist Des Teufels rußiger Bruder der Gebrüder Grimm.

Ein abgedankter verarmter Soldat geht einen Pakt mit dem Teufel ein, um seine Lebtage genug an Geld und Essen zu haben. Er muss dem Teufel dafür versprechen, diesen sieben Jahre zu dienen und sich in dieser Zeit weder zu waschen noch zu kämmen oder die Nägel zu schneiden. Das Machtverhältnis zwischen Teufel und Soldat wird sichtbar und auch das Unterwerfen unter bestimmter Bedingungen spielt dabei eine bedeutsame Rolle. Während der Kunde im Laden dazu verleitet ist, Waren ohne eine Gegenleistung mitgehen zu lassen, steht der Soldat im Märchen der Versuchung gegenüber, in drei Höllenkessel zu schauen. Dies hatte der Teufel ihm untersagt, doch der Soldat kann der Verlockung nicht widerstehen und wagt einen Blick hinein. Er erblickt in diesen seinen ehemaligen Unteroffizier, seinen alten Fähnrich und zuletzt seinen früheren General. Die Macht-Verhältnisse drehen sich, verkehren sich. „Du hast mich gehabt, jetzt habe ich dich“ frohlockt der Soldat, der Jahre seines Lebens unter den Bestimmungen dieser Personen arbeiten musste. Nun hat er die Kontrolle und kann über das Schicksal entscheiden. Wie der Kunde ist auch der der Soldat nun ‚Herr der Dinge‘. Nach sieben Jahren, in denen der Soldat gewissenhaft seinen Aufgaben in der Hölle nachkam und stets darauf achtete, dass die Feuer unter den Kesseln noch loderten, erhält er als Lohn sein versprochenes Gold. Wie auch die Nutzer der Selbstbedienungskassen wandelt sich das Unterwerfen bestimmter Bedingungen in Freiheit und Autonomie. Der Soldat zieht gewaschen und gekämmt als Musikant durch das Land und verzückt den König so sehr mit seinen Gesängen, die ihm der Teufel einst lehrte, dass er die jüngste Tochter des Königs zur Frau nehmen darf. So wird der einst verarmte Soldat genauso wie der Kunde im Laden selbst zum König.3

Automatisierte Menschen und menschliche Maschinen

Maschinen begleiten uns schon hunderte Jahre. Der Versuch, ein digitalisiertes Abbild des menschlichen Wesens zu erstellen, prägt die industrielle Entwicklung. Roboter, die nun ehemals menschliche Arbeitsabläufe übernehmen, kennzeichnen besonders das Bild der Fabriken und Manufakturen. Die neuesten Roboter können allerdings nicht nur die Arbeit des Menschen ersetzen oder scheinbar vereinfachen, sondern sie nehmen auch selbst immer menschlichere Wesenszüge an. So unterstützte der kleine Roboter Pepper während der Corona-Pandemie die Mitarbeiter einer Edeka-Filiale und sprach die Kunden gezielt an, den Abstand an den Kassen zu wahren, um sich vor einer Infektion zu schützen.

Hochmoderne Roboter können mittlerweile hören, sehen und antworten sowie Anweisungen erteilen, wo sie doch eigentlichen vom Menschen entwickelt wurden, um Handlungsanweisungen zu (be-)folgen. Doch nicht nur neumoderne Maschinen zeigen menschliche Züge. Auch scheinbar alte Gerätschaften begleiten uns schon seit Jahrzehnten in unserem Alltag. Navigationsgeräte manövrieren uns durch unbekannte Gefilde und Anrufbeantworter sind unser Sprachrohr, sollten wir mal nicht persönlich erreichbar sein (vgl. Heubach 2003).

Der Umgang mit den ‚vermenschlichten‘ Maschinen verlangt vom Menschen jedoch automatisierte Abläufe. Der Mensch wird zur scheinbar emotionslosen Maschine mit den immer wiederkehrenden selben Routinen, um der komplexen Digitalisierung Herr zu werden. Die zunehmende Parallelerscheinung zwischen Maschine und Mensch zeigt sich auch in umgangssprachlichen Redewendungen. „Der Computer im Kopf“ dient so beispielsweise als Sinnbild für unseren Gedächtnisspeicher, das Gehirn. Doch es bleibt nicht bei alltäglich Phrasen, denn der Mensch „hat schon ziemliche Fortschritte gemacht […], einen objektgleichen Menschen zu schaffen“ (Heubach 2003, S.147). Medizinische Errungenschaften wie Herzschrittmacher oder Hörgeräte werden sich von den Menschen wortwörtlich ‚zu eigen‘ gemacht – die Verschmelzung zwischen Menschen und Maschinerie findet hier eine erste Zuspitzung.

Es scheint daher eine logische Konsequenz zu sein, dass neue technische Geräte in immer mehr Lebensbereiche Einzug nehmen. Auch der scheinbar banale Einkauf ist davon nicht ausgenommen. KI-basierte Einkaufswägen, wie sie der Discounter Aldi nun in Deutschland testet, gehen sogar noch einen Schritt weiter als die Selbstbedienungskassen. Kameras erfassen die gewählten Produkte, die im Einkaufswagen landen und setzten diese automatisch auf den Einkaufsbon, der an der Kasse ohne das lästige Scannen der Produkte nur noch beglichen werden muss.

Einen Schritt weiter geht gar der Einkaufswagen, der vom Forschungszentrum für künstliches Intelligenz (DFKI) getestet wird. Dieser erfasst nicht nur die in den Wagen gelegten Waren, sondern kann auch die Einkaufsliste als Navigationssystem erstsetzen. Der selbstfahrende Einkaufswagen folgt dem Kunden nicht nur, sondern kann auch den Weg vorgeben und den Kunden durch das Wirrwarr der vielen Gänge navigieren, um die gewünschten und gesuchten Produkte aufzufinden. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz ist in allen Bereichen des Einzelhandels denkbar: Von Logistik und Transport bis zur sogenannten ‚letzten Meile‘ – der Kaufentscheidung des Kunden. Es wird vermittelt, dass das hohe Gut der Individualisierung durch Künstliche Intelligenz vordergründig bestärkt wird, gehen Roboter und neuste Technologien doch viel stärker auf die persönlichen Präferenzen und Bedürfnisse ein. Bei genauerer Betrachtung der Künstlichen Intelligenz auf unsere Gesellschaft, wie sie der französische Philosoph Gaspard Koenig vornahm, lässt sich allerdings eine Gefährdung des Individualismus feststellen.  Mittels eines phänomenologischen Ansatzes, „ausgehend von Alltagsbeobachtungen, Zitaten und einer Betrachtung seiner eigenen Launen und Befindlichkeiten“ (Minkmar 2021), stellte er sich die Frage, wie unsere Gesellschaft auf die Entwicklung der künstlichen Intelligenz reagieren sollte. Der Name des Buches verrät indes schon die vorstellbaren Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz: „Das Ende des Individuums“. Das, was den Menschen auszeichnet, die täglichen unzähligen zum Teil unbewussten Abwägungen, werden durch KI-basierte Alltagshelfer nicht abgedeckt. Das hohe Gut der eigenständigen Entscheidungsfindung oder der Freiheit, sich (unbewusst) für ein neues Produkt zu entscheiden, werden durch neue Technologien gar unterbunden. Wer die vollautomatisierten Roboter nutzen will, um sich den Alltag augenscheinlich zu vereinfachen und effizienter zu gestalten, muss selbst zum ‚gefühllosen‘ Roboter werden, um den klaren Handlungsanweisungen zu folgen. Es ist kaum mehr möglich oder gewünscht, vom Wege abzukommen. Und auch Friedrich Wolfram Heubach stellte bereits fest: „Allemal hält das, was da konkret als großer Schritt in der Vermenschlichung der Maschinen vorgestellt wird, keinen Vergleich aus mit den Schritten, die inzwischen in punkto Mechanisierung des Menschen schon getan sind“ (2003, S.147).

Unbeachtet blieben in der Studie die ‚Motive‘ für die Nicht-Verwendung der Selbstbedienungssysteme. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Wartenden an der regulären Kasse nicht den Wunsch nach Unabhängigkeit hegen, ist das Bedürfnis nach ‚Autonomie‘ doch natürlicher Bestandteil der ‚menschlichen Natur‘. Obwohl es gelingt, ‚das‘ Menschliche in die Maschinen zu bringen, wird es nie vollends gelingen, dass ‚der‘ Mensch vollkommen automatisiert und emotionslos handelt. Auch nicht an der Selbstbedienungskasse im Supermarkt. Der Wunsch nach Machtdemonstration, Freiheit und Selbstbestimmung kommt zum Ausdruck.

Dennoch bleibt ein seelischer ‚Rest‘, der nicht beglichen werden kann. So sind beispielhaft die belanglosen Unterhaltungen am Kassenband bei den Selbstbedienungssystemen nicht anzutreffen. Auch die Ärgernisse über die langsame ältere Dame, die vor einem an der Reihe ist, entfallen beim selbstständigen Abkassieren. Zunächst scheint es von Vorteilen zu sein, diese eher negativ behafteten ‚Assoziationen‘ von der regulären Kasse umgehen zu können, doch sie haben einen Nutzen für das Seelische. „So kann Warten zum Zeitfenster für eine veränderte Wirklichkeitswahrnehmung werden“ (Göttlich 2021), welches es uns ermöglicht, die Dinge einmal anders zu betrachten. Das Warten bietet einen Unterhaltungswert und ermöglicht es dem seelischen Haushalt, auch den negativen Gefühlen und Emotionen Ausdruck zu verleihen. Das Seelische drängt nach Ausdruck, und wenn es sich nicht in dieser Situation zeigen kann, so wird es sich doch in anderen Bereichen des Lebens widerspiegeln. Zudem hat es einen gewissen Unterhaltungswert, sich über andere auslassen zu können, urteilen zu dürfen, den eigenen Einkauf mit anderen Anschaffungen auf dem Kassenband zu vergleichen. Hier zeigen sich daher die Grenzen und das, was einem die Selbstbedienungskasse nicht bieten kann und mit fortschreitender Digitalisierung auch nicht bieten wird.

Betrachtet man die Entwicklung anderer Märkte, kann man annehmen, dass der Aspekt der Selbstbedienung die deutsche Einzelhandelslandschaft auch zukünftig in Form von Kassen prägt. Die Historie der Einkaufskultur hat aufgezeigt, dass die Selbstbedienung bereits in den 1940er Jahren ihren Einzug in die deutschen Geschäfte gefunden hat, sich jedoch erst in den 1960er Jahren vollends durchsetzen konnte. Dem neuen Konzept wurde Skepsis entgegengebracht, und doch ist diese Art des Einkaufens aus der heutigen Zeit nicht mehr wegzudenken. Zudem veranlasst die schnelllebige und hektische Gegenwartskultur den Menschen dazu, nach Lösungen zu suchen, die mehr Effizienz mit sich bringen. Die Nutzung der Selbstbedienungssysteme zeichnet sich unter anderem durch diese Facette aus und verhilft den Konsumenten, den Einkauf reibungslos in ihr schnelllebiges Leben integrieren zu können. Der nächste Schritt zur Autonomie wird sich jedoch wahrscheinlich erst durchsetzen können, wenn Selbstbedienungssysteme genauso zum Einkauf gehören wie der Einkaufswagen, der zur Einführung seiner Zeit genauso kritisch beäugt wurde, wie die Selbstbedienungskasse heute. Die Skepsis gegenüber den Systemen sollte daher Gehör finden, doch viel wichtiger könnte es sein, das Kundenerleben an den Selbstbedienungskassen zu nutzen, um auf Basis dessen eine wirksame, da den Umständen angemessene Implementierungsstrategie zu entwickeln. Abschließend lässt sich jedoch festhalten, dass der Umgang mit neuen Technologien nicht individuell, sondern ‚gesellschaftlich‘, d.h. kulturell erlernt werden muss (Minkmar 2021).

Literaturverzeichnis

Deppe, K. (2020). Geschichte des Supermarkts. Abgerufen am 10.08.2020 von https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/wirtschaft/konsum/geschichtedes-supermarkts-100.html

Domke, W. (1985). Kaufen im Sonderangebot. Zwischenschritte (4)2. 5-15.

Göttlich, A. im Interview mit Weidt, B. (2021). Gleich passierts! Psychologie Heute (10). S. 68-71.

Heubach, F.W. (2003). Roboter-Menschen-Automaten – und Talibane. Zwischenschritte. S. 145-151.

Minkmar, N. (2021) „Das Ende des Individuums“ von Gaspard Koenig Fehler helfen. Abgerufen am 30.09.2021 von: https://www.sueddeutsche.de/kultur/kuenstliche-intelligenz-gaspard-koenig-neuerscheinung-1.5404599?reduced=true

Salber, W. (1987). Kulturpsychologie – Wie und Warum. Zwischenschritte (6)2, S.41- 49.

Salber, W. (1989). Der Alltag ist nicht grau. Bonn: Bouvier Verlag

 

Anmerkungen

1Im Rahmen der Bachelorarbeit „Qualitative psychologische Analyse zur Nutzung von Selbstbedienungskassen in Netto-Filialen“ wurde mittels fünf morphologischen Tiefeninterviews das Erleben und Verhalten im Umgang mit Selbstbedienungskassen erfasst. Die in diesem Artikel aufgeführten Zitate sind wörtliche Aussagen aus den Tiefeninterviews.

2Um einen einheitlichen Kontext der Nutzung zu gewährleisten, wurde lediglich die Verwendung von Selbstbedienungskassen in Netto-Filialen beleuchtet. Die Zielgruppe stellten Nutzer im Alter zwischen 14 und 29 Jahren dar, die die Systeme regelmäßig verwenden.

3An dieser Stelle möchte ich einen Dank an Dr. Wolfram Domke aussprechen, welcher den Input für das Märchen lieferte.

Die in diesem Beitrag vorgestellten Erkenntnisse sind Ergebnisse einer empirischen Studie, die als Bachelor-Thesis zum Abschluss des Studiums der ‚Wirtschaftspsychologie‘ an der BSP durchgeführt wurde (s.u.). Im Falle einer morphologischen Studie basiert eine solche i.d.R. auf 5-8 morphologischen Interviews (s. Tabelle zur Stichprobe), die im Zuge der weiteren Gegenstandsbildung über die beiden ersten Versionen (nach Fitzek: Grundqualität [1. Version] und Wirkungsraum [2. Version] entwickelt werden und mit einer ‚Psychologisierenden Fragestellung‘ abschließt. (Die Fortsetzung einer Morphologischen Gegenstandsbildung über die 3. und 4. Version ist einschließlich des ‚Ins-Bild-Rückens‘ im Austausch mit einem Märchen für Master-Arbeiten vorgesehen.) (Anmerkung A.S.)

 

Autor:in

Hanna Blümel absolvierte 2020 den Bachelorstudiengang Wirtschaftspsychologie an der BSP Business and Law School. Ihre Bachelorthesis trägt den Titel „Qualitative psychologische Analyse zur Nutzung von Selbstbedienungskassen in Netto-Filialen“. Ihren Masterstudiengang mit Schwerpunkt Personal- und Organisationspsychologie beendet sie im September 2022. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit untersuchte sie das Arbeitszeitmodell der Vertrauensarbeitszeit in deutschen Start-ups.

 

Kontakt: Hanna.Bluemel@t-online.de

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