Besessenheiten als Sinn-Suche im Un-Sinn

Redigierte Fassung des Vortrags auf der WSG-Tagung „Sinn-Bilder-Sinn“ am 17.-18. September 2021 an der BSP in Berlin

 

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zwingmann

Autor:in

Prof. Dr. Björn Zwingmann ist Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker. Als Professor für
Medienpsychologie an der BSP Business & Law School Berlin leitet er dort den Studiengang
für das Masterstudium. Er promovierte bei Prof. Dr. Herbert Fitzek mit einer empirischen Ar-
beit über morphologisches Kunstcoaching mit den bereits von Wilhelm Salber beschriebenen
Schwarzen Bildern Goyas, die er als Bilder von Besessenheiten verstand.

bjoern.zwingmann@businessschool-berlin.de

Besessenheiten als Sinn-Suche im Un-Sinn

  1. Einleitung

Wilhelm Salber sah in Besessenheiten die Ausgangspunkte seelischer Entwicklung. Als „Mutter aller seelischen Dinge“ (Salber 1994, S. 74) steht die Besessenheit zwischen unbestimmter Unruhe und konkreter Kultivierung. Besessenheiten als erste, einfache Gestalten, die Richtung und Sinn zu geben versuchen, verschwinden nie ganz, sondern wirken auch in komplexeren Kultivierungsbildern weiter. Dort, wo diese an Grenzen stoßen, können Besessenheiten dann wieder deutlich erkennbar hervortreten. Und nicht nur die Morphologen beschreiben die Gegenwart als eine Zeit, in der ein Kultivierungsbild an seine Grenzen stößt. Dabei fällt es leicht, die Besessenheiten anderer als Unsinn zu erleben, über den sich pathologisierend oder moralisch verurteilend sprechen lässt, z.B. bei Radikalen oder bei Verschwörungstheoretikern. Viel schwerer, aber vielleicht auch nötiger, erscheint es, eigene Besessenheiten zu erkennen und zu reflektieren. Aber kann man Besessenheiten überhaupt reflektieren? Und wenn ja, wie?

  1. Was ist mit Besessenheit gemeint?

Bei den ‚Besessenheiten‘ ist es so ähnlich wie mit Freuds Triebbegriff. Freud hat in „Trieb und Triebschicksale“ (1999/1915) darüber geschrieben, dass die Wissenschaft eigentlich verlangen würde, man müsse immer mit sauber definierten Grundbegriffen anfangen. Dagegen wendet er ein:

 „In Wirklichkeit beginnt keine Wissenschaft mit solchen Definitionen, auch die exaktesten nicht. Der richtige Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit besteht vielmehr in der Beschreibung von Erscheinungen, die dann weiterhin gruppiert, angeordnet und in Zusammenhänge eingetragen werde“ (S. 210).

Und dann, so Freud weiter, operiere man mit vagen Begriffen, die man an die Erscheinungen herantrage und die mit der Zeit sogar Ihre Bedeutung verändern. ‚Trieb‘ war für ihn so ein vager Begriff. Und die Besessenheit, über die ich heute sprechen möchte, und die, wie wir sehen werden, sogar einen Bezug zum Triebbegriff hat, ist ebenfalls ein solch‘ vager Begriff.

Vermutlich werden Ihnen jeweils sehr unterschiedliche Dinge unter dem Stichwort ‚Besessenheiten‘ einfallen. Und es fällt schwer, allgemeine Merkmale von ‚Besessenheiten‘ definitorisch festzulegen. Zum Beispiel macht es keinen Sinn, Besessenheiten nur als etwas Gutes oder nur als etwas Schlechtes anzusehen. Jemand kann durch Besessenheit zu großen Leistungen oder Erkenntnissen getrieben werden, aber auch sich selbst und anderes zerstören. Besessenheiten scheinen außerdem sowohl mit Lust als auch mit Unlust zu tun zu haben.

So ist sexuelle Besessenheit naturgemäß auf den ersten Blick mit einem Lustobjekt verbunden, kann aber leicht in Unlust kippen. Die Mehrdeutigkeit macht auch vor den Objekten der Besessenheit nicht halt. Diese können nämlich ganz Unterschiedliches sein: Lebewesen oder Dinge, Handlungen oder Ideen ganz verschiedener Art. So Unterschiedliches wie Macht, Geld, Liebe, Gewalt, Sex, Kunst oder Rauschmittel kann ein Objekt von Besessenheit werden. Besessenheit ist aber vor allem auch mehrdeutig, insofern wir mit dem Wort einerseits etwas bezeichnen, was uns zutiefst ausmacht – unser Leidenschaften, also das, was uns antreibt. Und obwohl unsere Leidenschaften so viel darüber sagen, wer wir sind, erleben wir uns in unseren Besessenheiten zugleich auch fremdbestimmt. Dieses Fremde, das da von uns Besitzt ergreift, vergegenständlichten die Menschen immer wieder als Dämonen, Teufel oder Götter.

Für Wilhelm Salber ist eine Besessenheit: „… was Seelisches in Besitz nimmt, was auf uns lauert und was uns bewegt, ohne daß wir es wissen“ (Salber 1994, S. 72). Und wir verspüren solche Besessenheiten an dem „… wohin wir im Leben immer wieder geraten, was wiederkehrt (…), was wir zu verstecken suchen“ (Salber 1994, S. 13).

Salber beschreibt z.B. auch, dass wir Besessenheiten bei anderen meist leichter erkennen als bei uns selbst. Er nennt Phänomene wie die Begeisterung für Aufmärsche, Prozessionen und Umzüge oder auch für Ideologien, Glaubenssätze, Literatur und Musik – oder auch für Fußballspiele. Salber erinnert sich weiter an seine eigene unreflektierte Begeisterung für die Nazi-Aufmärsche in seiner Jugend, aber auch für Karnevalsumzüge. Häufig werden diese Besessenheiten leichter von außen bemerkt, als vom Betroffenen selbst – oder erst dann, wenn sie ihm selbst zu extrem werden oder er ihre unangenehmen Konsequenzen bemerkt:

 „Wenn wir dann merken, wer mit in unserer Prozession ist, und wenn uns das dann einmal zu viel, zu dick, zu fantastisch, zu ‚besessen‘ ist – dann ahnen wir vielleicht etwas von der Besessenheit, die in unseren Vorlieben für Literatur, für Ideologien oder für Grüppchen ihre Gestalt gefunden hat“ (Salber 1994, S. 12f.).

Es ist also leichter, die Besessenheiten anderer zu erkennen als die eigenen: Bei den Verschwörungstheoretikern, bei Radikalen und Fundamentalisten oder bei Süchtigen springen uns die Dämonen der anderen deutlich ins Auge. Und wie oft stehen wir im Alltag vor anderen Menschen und denken uns: ‚Es wäre doch viel leichter, wenn Du das einfach lassen würdest, wenn Du das nicht immer wiederholen würdest.‘ Das ist auch deswegen leicht, weil wir uns auf den ersten Blick meist distanzieren können, denn bei den anderen geht es scheinbar um etwas, was uns zum Glück nicht im Griff hat.

Aber Besessenheiten sind aus morphologischer Sicht gar nicht durch bestimmte Inhalte definiert, sondern vielmehr durch ihre Form. Besessenheiten sind besondere Formenbildungen des Seelischen. Sie haben bestimmte Qualitäten, z.B. dass Sie sich überwältigend anfühlen, dass sie entschieden und kompromisslos sind, erwartungsvoll, sehnsüchtig und absolut schicksalshaft unveränderlich erscheinen. Besessenheiten sind roher und unfertiger als die kultivierten Formen des Alltags, aber sie sind auf der anderen Seite auch viel entschiedener und bewegender. Denn Besessenheiten haben keinerlei Kompromiss-Charakter. In Ihnen will das Seelische aufs Ganze gehen. Darin steckt eine Radikalität, bei der wir sofort ahnen, dass damit Gefahren verbunden sind.

  1. Besessenheiten in Goyas schwarzen Bildern

Wilhelm Salber hatte eine spezifische Vorstellung von der Entstehung und Funktion solcher Besessenheiten und auch davon, wie man damit umgehen kann – und diese Umgangsweis hat natürlich etwas mit Bildern und mit Kunst zu tun. Für Salber ist jede „… Lebensgeschichte ein Fall von Besessenheit, mit der die Menschen zurechtzukommen suchen“ (Salber 1994, S. 125).

Ein besonderes Beispiel für Kunstwerke, die Besessenheiten behandeln, waren für Salber die ‚Schwarzen Bildern‘ Goyas, mit denen er sich in seinem Buch „Undinge – Goyas Schwarze Bilder“ von 1994 auseinandergesetzt hat, aus dem ich hier bereits mehrfach zitiert habe. Darin analysiert er die vierzehn Gemälde, die der spanische Maler Francisco de Goya (1746 1828) zwischen 1820 und 1823 in seinem Haus, der Quinta del Sordo (‚Landhaus der Tauben‘), auf die Wände gemalt hatte. Goya selber hatte diesen Bildern keinen Titel gegeben. Man nannte sie später Pinturas Negras („Schwarze Bilder“), übertrug sie auf Leinwände und brachte sie in den Prado von Madrid, wo sie heute zu sehen sind. Für Salber machen diese ‚Schwarzen Bilder‘, so schreibt er wörtlich, „Besessenheiten beschaubar“ (ebenda, S. 69).

Salbers Buch über die ‚Schwarzen Bilder‘ Goyas ist eine ganz ungewöhnliche Kunstanalyse. Sein Zugang ist natürlich von der Psychologischen Morphologie geprägt, mit der er über mehr als drei Jahrzehnte hinweg ein Bild vom Seelischen entwickelt hatte und welches er in den Bildern Goyas dargestellt fand: „…da machte ich die Erfahrung, daß Goya ein Bild des Seelischen – überhaupt – malt, wie es bis dahin noch nie gemalt worden war“ (Salber 1994, S. 9).

Salbers Stil ist in diesem Buch aber außerdem auch persönlich. Er selbst erklärt ausdrücklich, dass er versuchen wollte, hier einmal anders als wissenschaftlich zu schreiben. Und ich meine, im gesamten Text wird gut erkennbar, wie fasziniert und bewegt Salber von den ‚Schwarzen Bildern‘ war:

 „Ich habe zwölf Jahre gebraucht, um diesen Text zu schreiben. Als ich die Bilder die ersten Male sah, war ich überwältigt, verblüfft, angegrinst. Ich konnte sie nicht fassen und nicht auf irgendeinen Begriff bringen. Vielleicht sollten sie einfach so unübersetzt stehen bleiben?“ (Salber 1994, S. 8).

Salbers Werkanalyse entstand zudem während einer persönlichen Umbruchszeit, da er 1993 seinen psychologischen Lehrstuhl in Köln nach dreißig Jahren verließ und als Professor emeritierte. Ganz ausdrücklich beschreibt er seine Auseinandersetzung mit den ‚Schwarzen Bildern‘ auch als eine Art von Selbsterfahrung, die ihn an eine Psychoanalyse erinnert habe und die ihm half, den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt zu meistern:

 „Als ich 65 war, wurde es noch etwas dramatischer; denn ich fragte mich damals, wie und ob es ginge, anders zu leben. Daß ich mit der Goya-Geschichte zu Rande kam und daß seine Bilder den Psychologen etwas beibringen könnten, das brachte schon Dramatik mit sich. Weit aufregender aber war die Wirkung für mein Leben. Je mehr ich den Wendungen der Besessenheit auf Goyas Bildern folgte, desto mehr ging los, desto mehr ließ sich aber auch ertragen und verstehen – von dem alten Leben und von dem Anders-leben-Können“ (Salber, 1994, S. 10).

Ich denke, hier wird deutlich, dass Salber sich in der Auseinandersetzung mit den Bildern wirklich tief persönlich eingelassen hat, um sich auch mit den eigenen ‚Besessenheiten‘ zu beschäftigen.

Es ist auch meine Erfahrung als Psychotherapeut, dass man diejenigen Besessenheiten, auf denen man selbst als ‚Fall‘ gründet, zumindest ein paarmal deutlich spüren und vielleicht sogar ein bisschen in den Blick bekommen haben muss, um mit anderen Fällen arbeiten zu können. Um zu verstehen, wie schwierig dieses Anders-Machen wirklich ist und eben nicht nur davor zu sitzen, und zu sagen: Mach‘ es doch mal anders!

Ich verdanke Herbert Fitzek die Idee zu untersuchen, ob man diese ‚Schwarzen Bilder‘ von Besessenheiten auf der Grundlage von Wilhelm Salbers Analyse nutzen kann, um tatsächlich eine psychologische Auseinandersetzung mit den je eigenen Besessenheiten anzustoßen, was ja besonders für Psychologen, Therapeuten, Coaches und andere psychosozial Tätige so enorm wichtig ist. Genau dies hat sich dann auch als möglich erwiesen und wird nun auch in Kunstcoachings anhand genau dieser ‚Schwarzen Bilder‘ in Madrid umgesetzt (Zwingmann 2019). Und zwar mit sechs dieser insgesamt vierzehn Gemälde, von denen Salber meinte, dass bei ihnen „die Besessenheit im Zentrum“ stehe (Salber 1994, S. 71). Wie es sonst Mythen tun, würden in diesen Bildern seelische Grundmuster ohne direkten Alltagsbezug – aber darum vielleicht zeitloser – dargestellt. Auch deswegen, weil diese sechs ‚Schwarzen Bilder‘ mythische oder biblische Sujets der Kunstgeschichte aufgreifen.

Ich werde jetzt im Folgenden eine Vereinfachung versuchen und so tun, als könnte man aus diesen sechs ‚Schwarzen Bildern‘, bei denen Salber Besessenheiten im Zentrum sah, ein Hexagramm der Besessenheiten machen. Damit möchte ich einen Gedanken veranschaulichen, den Salber bereits in den Wirkungseinheiten 1969 angedeutet hat. Hier schreibt er:

 „Die verschiedenartigen Gestaltkomplexe wirken im Ganzen des seelischen Geschehens zusammen. Ihre ‚ideale‘ Gestaltlogik ist jeweils durch eine Extremisierung zu erschließen. Die Extremisierung kann uns ‚Tendenzen‘ verdeutlichen, der gemäß die Gestaltkomplexe seelische Zusammenhänge zu produzieren suchen. Das Extrem der Aneignung ist die Unverrückbarkeit des Habens, das Extrem der Einwirkung unabweichliche Ausrichtung; die Anordnung sucht in extremer Weise, alles idealen Gesetzen zu unterwerfen, die Ausbreitung zielt auf extremes Ausleben. Extrem der Ausrüstung ist die uneingeschränkte Konsequenz eines Formzwangs, Extrem der Umbildung totale Umgestaltung und Lösung. Derartige Extreme treffen wir in den phänomenalen Gestalten nicht an, da sie stets Produktionen sind, in denen die verschiedenartigen Gestaltkomplexe zusammenwirken“ (Salber 1969, S. 75).

Der Gedanke ist also, dass es die Gestaltfaktoren im Alltag nie in einer Reinform erkennbar werden, sondern immer nur in einer vermittelten Kompromissform, eben im Wirkungszusammenhang miteinander. Ich verstehe Salber so, dass er, wenn er von Besessenheiten spricht, genau solche extremen und radikalen, noch-nicht- oder nicht mehr (ausreichend) vermittelten Tendenzen der Gestaltbildung stärker realisiert sieht, als sonst im Alltag. Er schreibt, Besessenheit ist „… eine erste Gestalt eine explosive Gestalt , ein erster Anfang der Geschichte des Seelischen“ (Salber 1994, S.72).

Besessenheiten sind eben deswegen explosiv, weil sie versuchen, die ganze Wirklichkeit radikal in ihrem Sinne umzugestalten bzw. zu verwandeln. Es handelt sich um noch unkultivierte, unvermittelte Extrem-Formen, die aber in der Entwicklungsgeschichte des Seelischen notwendig sind. Die folgende Passage bringt Salbers Verständnis von Besessenheit auf den Punkt:

 „Besessenheiten sind unvermeidbar: als Anfang seelischen Gestaltwerdens, das uns Inhalt und Richtung gibt sie sind etwas wie die Mutter aller seelischen Dingen. Sie sind ein besonders auffälliger Anteil am Menschlichen des Menschen; sie lassen uns bewegende Lebensaufgaben verspüren, die unmöglich zu lösen sind. In der Entwicklung von Seelischem sind sie ‚normal‘ – erst ihre zwanghafte Wiederholung, ohne Umbildung, läßt sie verkehrt laufen. Besessenheiten sind Phänomene und Urphänomene …“ (Salber 1994, S. 74).

4.  Formenbildungen von Besessenheit

Dass Besessenheiten Extrem-Formen sind, lässt sich sehr gut an den sechs mythischen ‚Schwarzen Bildern‘ Goyas verdeutlichen. Hier geht es um geläufige Sujets der Kunstgeschichte, man könnte auch sagen: um Klischees. Goya hat diese Klischees jedoch aufgebrochen und neu belebt.

4.1 Saturn: Extrem der Aneignung

Im Saturn, der seine Kinder verschlingt, kann man die Aneignung erkennen, aber eben in der Extrem-Form eines überwältigenden Verschlingens, ohne dabei angeeignet und umgebildet zu werden. Wir erkennen hier etwas von einer ungeheuren Gier, die jeder Besessenheiten zu eigen ist und besonders bei Liebes-Besessenheiten oder bei Süchten deutlich wird. Wir haben das vielleicht auch beim ersten Corona-Lockdown gesehen, wo die Angst die Menschen zu Hamsterkäufen getrieben hat. Wir können natürlich auch auf einer größeren gesellschaftlichen Ebene denken und sehen im Saturn vielleicht den unstillbaren, selbstsüchtigen Konsumzwang der westlichen Industrieländer, der die Ressourcen des Planeten unbeschränkt verschling und sich selbst damit auf einen Kollaps hin bewegt.

 

 

 

 

4.2 Judith: Extrem der Einwirkung

Die biblische Judith, die mit einem entschiedenen Schwerthieb einen im Dunkeln liegenden Holofernes enthauptet, steht für eine Extremform der Einwirkung. Hier werden Probleme von Entschiedenheit, Macht und Ohnmacht, Führen und Geführt-Werden extremisiert behandelt. Auch davon sind wir manchmal besessen und wünschen uns radikale Entschiedenheiten, endgültige Trennungsschnitte oder harte Urteile. Kastration oder Todesstrafe für Pädophile! Oder auch der Wunsch in der Pandemie nach einem ganz entschiedenen Durchregieren, mit harter Hand.

 

 

 

 

 

4.3 Kämpfer: Extrem der Anordnung

Demgegenüber thematisieren die Kämpfer, in denen die biblische Geschichte von ‚Kain und Abel‘ belebt und gebrochen wird, die Anordnung, die durch Besessenheit entsteht, nämlich in Form einer Spaltung: Je entschiedener und härter die Besessenheit, desto kompromissloser der Umgang mit anderen Ordnungen und Tendenzen. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Da gibt es kein Sowohl-als-Auch, sondern nur noch ein Entweder-ich-oder-der-Andere. Das kennt jeder vom Streiten in der Partnerschaft. Und wir kennen das leider immer mehr auch aus verhärteten Auseinandersetzungen wie z.B. in den sozialen Medien. Die amerikanische Gesellschaft scheint bereits sehr tiefgehend von einer solchen Spaltung erfasst zu sein. Auch bei uns ist deutlich, dass es den Menschen immer schwerer fällt, sich auch einmal auf diejenigen einzulassen, die nicht den eigenen Standpunkt teilen.

 

4.4 Asmodea: Extrem der Ausbreitung

Die Ausbreitungsseite kann man meines Erachtens mit diesem Gemälde verdeutlichen: Asmodea, so wurde es erst später genannt, wenn auch wie alle anderen Gemälde nicht von Goya. Aber dennoch ein passender Name für das Bild. Asmodeus ist ein biblischer Dämon, der die Menschen mit dem unzufrieden sein lässt, was sie schon haben, und sie immer anderes ersehnen lässt – was er ihnen aus der Luft zeigt. Ein Bild vom Abheben und Fliegen-Können, sich erheben über die Kämpfe am Boden, auf ein Sehnsuchtsziel hin, so wie wir das in unseren Größenvorstellungen, Flucht- oder Rettungsphantasien machen. Auch in der heutigen Zeit sehen wir, wie die Menschen von „digitaler Allmacht“ (Grünewald 2019) träumen, in virtuelle Welten fliehen und dabei eine wachsende Angst  entwickeln, wieder auf dem harten Boden des Alltags aufzuprallen.

 

4.5 Parzen: Extrem der Ausrüstung

Eine extremisierte Ausrüstung könnte meines Erachtens durch diese Gemälde vertreten werden: die Parzen. Schicksalsgöttinnen, die wie in einem großen Knoten miteinander verwickelt sind und gefesselt in der Luft hängen. Ein Bild dafür, wie gern wir Dinge stilllegen, in der Schwebe halten oder auf Eis legen und dabei heimlich Schicksalsgötter spielen, ganz verstrickt und verknotet. Prokrastinieren wie ein Dornröschen ist so eine Besessenheit, aber vielleicht auch der Wunsch, das Schicksal komplett vorhersehen und berechnen zu können und notfalls allen Gefahren durch einen persönliche oder kollektive Stilllegung zu bannen: Ewiger Lockdown, bis wir jedes Restrisiko eines ungewissen Schicksals eliminiert haben.

4.6 Hexensabbath: Extrem der Umbildung

Zuletzt natürlich die Umbildung. Was heißt das im Extrem? Die Hoffnung, dass alles anders wird. Dass man um ein Wunder beten kann. Dass man sich einem Anführer unterwerfen kann, der einem die Macht des Teufels verleiht, einen zur Hexe macht. Hexen-Können, war für Salber der zentrale geheime Wunsch des Seelischen überhaupt: Alles verwandeln zu können. Das kann gefährlich werden, wenn einem Propheten und Führer ein Erwachen oder andere Arten von Er- und End-Lösungen versprechen. Gefährlich, wenn man sich mitreißen und packen lässt von solchen Erwartungen, einmal alles zu drehen und auf den Kopf zu stellen. Man kann hier die Leichtgläubigen wiederfinden, die den Populisten oder den ‚Wahrheiten‘ aus dem Internet ins Netz gehen. Darunter gefährliche Verschwörungstheorien, die auch mit dem Kitzel spielen, alles mal ‚anders‘ zu sehen und auf den Kopf zu stellen.

Packen wir uns an die eigene Nase, wissen wir, dass das auch den Morphologinnen und Morphologen nicht fremd ist: Die Freude daran, die Dinge einmal ganz anders zu betrachten, aus einer ‚alternativen‘ Perspektive. Können wir es jemandem ganz verübeln, der hier den Eindruck gewinnt, auch in der Morphologie hätte sich ein Hexenkreis um eine zentrale Gestalt geschart und aufs Zaubern-Können gehofft? Wilhelm Salber hat sich gut davor gehütet, jemals zu behaupten, er habe eine einzige oder allgemeingültige Wahrheit, der nun alle folgen sollten. Er war, vermute ich, imprägniert durch die Schrecken nationalsozialistischer Gräueltaten. Vielleicht hat die Morphologie schon mit der Besessenheit des Drehen-Könnens zu tun, um die es in diesem Bild geht. Aber ich möchte die Morphologinnen und Morphologen viel eher in dieser etwas abseits sitzenden Frau am rechten Bildrand sehen: Sie ist nah am Geschehen, und doch haben wir das Gefühl, sie wird nicht ganz von diesem Kreis aufgesogen, steht ein bisschen am Rand, schaut sich das Ganze an und beschreibt vielleicht.

Das wäre also das Hexagramm in fundamentalistischer Besessenheitsform. Das ist auch eine Vereinfachung. An anderer Stelle hat Salber einmal in einem Vortrag gesagt, die Besessenheiten seien die Explosivformen der Märchen, das ist vielleicht noch treffender. Und ich bin auch der Meinung, dass man jedem der gezeigten Bilder tatsächlich ein bestimmtes Märchen zuordnen kann, was hier aber zu weit führen würde (vgl. Zwingmann 2019).

Aber Sie haben natürlich selbst längste gesehen: Goyas Bilder zeigen nicht nur reine Besessenheiten, sondern auch etwas, was darüber hinaus geht. Es war Salber sehr wichtig, dass Goya hier Besessenheiten darstellt, die sich verrücken. Das heißt, dass in den Bildern immer auch etwas anderes auftaucht, was zu einer Entwicklung führen könnte oder sie zumindest andeutet: So wie z.B. die Frau am Rande des Hexenkreises. Oder dass der Saturn auch einen Schrecken im Blick hat, dass er doch vielleicht auch selbst angefasst ist, von dem, was er da tut. Dass er vielleicht würgen muss. Oder dass die Judith vielleicht etwas zögert, dass sie das Schwert doch nicht so entschieden fallen lässt und so weiter.

Um Besessenheiten in Richtung einer Kultivierung weiterzuentwickeln, braucht es solche Vermittlungen mit Gegenbewegungen, die die Extremformen brechen. Denn eigentlich, so hat Salber es ja in den Wirkungseinheiten beschrieben, haben wir es bei funktionierenden seelischen Formenbildungen eben nie mit diesen Extremen zu tun. Und die Kunst Goyas kann helfen, Besessenheiten zu verstehen und auch über sie hinaus zu gehen. Das ist das, was wir im Kunstcoaching mit diesen Werken versuchen.

Als nächstes und letztes möchte ich mich aber der Frage zuwenden, wie wir eigentlich verstehen können, warum und an welchen Stellen Besessenheiten als seelische Formen in unserem persönlichen Leben oder in der Kultur auftauchen.

  1. Konstruktion von Besessenheit

Um zu verstehen, warum Besessenheiten uns nicht loslassen (oder wir sie nicht), warum sie uns immer wieder packen und warum sie in unserer Geschichte ebenso wie in ‚der‘ Geschichte immer wieder auftauchen, muss man, meine ich, die ständigen Wiederholungen von Besessenheiten zusammen sehen mit ihrem Scheitern. Salber ging davon aus, dass Besessenheiten in der individuellen Entwicklung normal und notwendig sind: Ursprünglich tauchen die Besessenheitsformen auf, um überhaupt irgendeine Ordnung oder einen ersten Entwurf von Gestalt in diese Wirklichkeit zu bringen. Ich komme daher noch einmal auf das Zitat zurück, das ich bereits weiter am Anfang gebraucht habe:

 „Besessenheiten sind unvermeidbar: als Anfang seelischen Gestaltwerdens, das uns Inhalt und Richtung gibt – sie sind etwas wie die Mutter aller seelischen Dingen. Sie sind ein besonders auffälliger Anteil am Menschlichen des Menschen; sie lassen uns bewegende Lebensaufgaben verspüren, die unmöglich zu lösen sind. In der Entwicklung von Seelischem sind sie ‚normal‘ – erst ihre zwanghafte Wiederholung, ohne Umbildung, läßt sie verkehrt laufen. Besessenheiten sind Phänomene und Urphänomene …“ (ebenda, S. 74).

Die Besessenheiten greifen dort zu, wo es in dieser fließenden Wirklichkeit etwas festzuhalten, etwas zu wiederholen gibt. Für Freud waren es die frühen Formen, Lust zu gewinnen, an denen das Seelenleben Halt findet. Um diese Fixierstellen kreist es immer wieder.

 „Jeder einzelne für sich würde wahnsinnig in einer verfließenden Wirklichkeit, in ihrer inflationären Vielfalt – so gesehen ist die Besessenheit eine Gegenwirkung; sie sucht den Wahn einer Gestalt, die verwandeln kann, als Richtlinie einer Ordnung in dieser Wirklichkeit um jeden Preis durchzusetzen“ (Salber 1994, S. 22).

Aber gerade, weil die absoluten Versprechen, die in der Besessenheit stecken, ein Wahn sind und scheitern müssen, versucht das Seelische es immer wieder. Das Scheitern, also die Unvollkommenheit der seelischen Konstruktion, wird der Motor für ihre Bewegung. Das hat ja auch Freud so gesehen: Weil der Trieb darin scheitert, die geforderte Befriedigung zu finden, dringt er, wie Goethes Faust, „ungebändigt immer vorwärts“ (Freud 1999/1920, S. 45).

Salber ist sich mit Freud einig, dass das Seelische immer das Unmögliche will, eben Hexen können. Und dass die seelische Wirklichkeit eigentlich im Kern aus ‚Undingen‘ besteht. ‚Undinge‘ sind gerade keine Dinge wie wir sie normalerweise verstehen, sondern werden erst durch Wiederholungen zu den Immer-gleichen-Dingen und strukturieren und stabilisieren damit parallel auch unsere Subjektivität (vgl. Heubach 1996). Ohne solche Selbst-Behandlungen, gibt es auch nach Salber gar keine festen Dinge, sondern nur paradoxe ‚Undinge‘. Doch auch unsere Behandlungsversuche sind unvollkommen und letztlich zum Scheitern verurteilt – weswegen sich die Kulturen ja auch verwandeln, weswegen die Märchen in der Seelenrevolution einander ständig ablösen (vgl. Fitzek 2021).

 „Wenn sich erschöpft, was eine Kultur in ihren Bildern verstehen und behandeln kann, beginnt sich das ungeheure Loch einer ungestalteten Wirklichkeit zu vergrößern. In den Schöpfungsspiralen der Seelenrevolutionen haben die verschiedenen Kulturen immer wieder Bilder produziert, die aus dem ‚dunklen‘ Loch einen Wirkungsraum gestalten“ (Salber 2002, S. 121).

Diese Löcher in der Wirklichkeit verlangen nach neuen Formen und Gestalten. ‚Undinge‘ werden besonders dort sichtbar, wo unsere Kulturen versagen, wo eine alte Kultur zerfällt aber noch keine neue Kultur da ist. Auch im persönlichen Leben fallen wir besonders leicht in solchen Übergangs-, Zwischen-, oder Umbruchszuständen auf Besessenheiten zurück. Sie lassen sich aus Salbers Sicht aber nicht etwa nur als Störungen oder Defekte, sondern eher als erste Behandlungsversuche verstehen. Genau in diesem Sinne sind Besessenheiten ein Suchen nach dem Sinn im Un-Sinn. Besessenheiten sind der Versuch, das Ungeheure der Verwandlungswirklichkeit, in das die Menschen geraten, wenn das Netz ihrer Kulturen zerreißt, wieder in den Griff zu bekommen. Sie sind die Wirbel, die sich um die ‚schwarzen Löcher‘ der Wirklichkeit herum bilden.

 „Es hat sich eingebürgert, von Goyas ‚schwarzen Bildern‘ zu sprechen. Das kann man aber noch ganz anders verstehen, als nur von bestimmten dunklen Farbwerten her. Mit seinen ‚Überfrachtungen‘ unternimmt er es, die ‚schwarzen Löcher‘ der Wirklichkeit zu behandeln. So zu behandeln, daß der unverständlichen und ungeheuren Wirklichkeit noch irgendeine Art von Verstehen abgerungen wird“ (Salber 2002, S. 131).

  1. Konstruktionsprobleme unserer Zeit und Besessenheiten

Was sind nun die ‚schwarzen Löcher‘ unserer heutigen Zeit, unserer aktuellen Kultur? Ich glaube, dazu haben gerade Morphologinnen und Morphologen viel Klärendes gesagt und auch geschrieben. Auch andere außerhalb von Morphologie sprechen längst von einer Zeitenwende und von dem Eindruck, dass die Probleme der derzeitigen Kultur immer deutlicher werden und es zu Veränderungen kommen muss.

Wilhelm und Daniel Salber haben mit dem Begriffspaar „Anarchie und Diktat“ schon 1999 eine zentrale Spannung benannt, die heute umso deutlicher hervortritt: Es scheint in der aktuellen Kultur wirklich immer schwerer zu werden, die Spannung zwischen individuellen Freiheitsrechten und Sorgen um ein Gemeinschaftswohl dialektisch auszugleichen und zu vermitteln. Augenfällige Beispiele dafür sehen wir jeden Tag: Abwägung von Freiheitsrechten und Gemeinwohl in der Pandemie, wirtschaftliche Sorgen gegen existenzielle Vorsorge in der Klimakrise oder Systemwettbewerb zwischen individualistisch-demokratischem Westen mit schwerfälligen Entscheidungsprozessen einerseits und kollektivistisch-autoritärem China mit der Möglichkeit des Durchregierens. Die Extremform individualistischer Freiheit ist Anarchie, die extremform kollektivistischer Ordnung ist das Diktat. Natürlich tauchen auch diese fundamentalen Besessenheiten immer wieder auf, wo Kultivierungsbilder es nicht mehr schaffen, die ‚schwarzen Löcher‘ der Wirklichkeit zu verdecken.

Die Morphologie hat Umgangsweisen ausgebildet, die beim Umgang mit Besessenheiten helfen können: Sorgfältiges Beschreiben, Offenheit, Zulassen von Gegenbewegungen, von Dynamik und auch Konflikt; Bereitschaft, zuzuhören, sich auch auf Fremdes oder Verrücktes einzulassen; Bereitschaft, es auch einmal anders zu sehen, sich mitzubewegen, ohne mitgerissen zu werden, ein hin und her auszuhalten und nach vermittelnden Worten und Bildern zu suchen. Dies sind kunstvolle Behandlungsmethoden, den Methoden der Kunst selbst verwandt, so dass sie durch Kunstwerke wie Goyas Bilder gestützt und intensiviert werden können.

Zum Abschluss möchte ich noch eines der ‚Schwarzen Bilder‘ zeigen, welches für Wilhelm Salber ein Umbilden und Behandeln von Besessenheit thematisiert. Es zeigt wohl Leocadia Zerolla de Weiß. Sie war die Geliebte Goyas in der Zeit, als er die ‚Schwarzen Bilder‘ gemalt hat.

Salber schreibt dazu:

„Den Schwarzen Bildern der Besessenheit gegenüber hat Goya in Leocadia das Bild der Liebe gemalt. Die zwei verschiedene Menschengeschichten einigende Gestalt der Liebe ist der Widerpart ihrer Besessenheiten, die das Gemeinsame und Bindende menschlicher Werke zerstören. Liebe ist nicht die bequeme Anfangsgabe von Himmel und Erde …. Und Liebe ist auch nicht die ekstatische Verzückung, die sich im Teufelskreis verkehrt. Sie ist das gemeinsame Werk des Alltags, in dem wir mit unseren Besessenheiten zu einer neuen Gestalt finden“ (Salber 1994, S. 47).

 

Literatur

Fitzek, H. (2021): Kultur als Metamorphose. anders: Zeitschrift für psychologische Morphologie (40). Bonn: Bouvier Verlag

Freud, S. (1915c): Triebe und Triebschicksale. GW X, 210-232. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag.

Freud, S. (1920g): Jenseits des Lustprinzips. GW XIII, 1-69. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag.

Grünewald, S. (2019): Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Heubach, F.W. (1996). Das bedingte Leben. Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge. Ein Beitrag zur Psychologie des Alltags. 2. Aufl. München: Fink Verlag.

Salber, W. (1969/81). Wirkungseinheiten. Psychologie von Werbung und Erziehung. Unveränderter Nachdruck. Köln: Verlag der Buchhandlung Moll & Hülser.

Salber, W. (1994). Undinge. Goyas Schwarze Bilder. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König.

Salber, W. (2002). Psychästhetik. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König.

Salber, W. u. Salber, D. (1999): Anarchie und Diktat – Perspektiven für 2020. In: Zwischenschritte – Beiträge zu einer morphologischen Psychologie. (18)1. Bonn: Bouvier

Blothner, D. u. Grünewald, S. (Hrsg.) (1999): Zwischenschritte – Beiträge zu einer psychologischen morphologischen Psychologie. (18)1: Kultur-Schicksale-Millenium. Kulturpsychologische Analyse zur Jahrtausendwende. Bonn: Bouvier

Zwingmann, B. (2019). Begegnung mit dem Ungeheuren. Selbsterfahrungsprozesse mit Goyas schwarzen Bildern. Berlin: HSB University Press.

zwingmann

Autor:in

Prof. Dr. Björn Zwingmann ist Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker. Als Professor für
Medienpsychologie an der BSP Business & Law School Berlin leitet er dort den Studiengang
für das Masterstudium. Er promovierte bei Prof. Dr. Herbert Fitzek mit einer empirischen Ar-
beit über morphologisches Kunstcoaching mit den bereits von Wilhelm Salber beschriebenen
Schwarzen Bildern Goyas, die er als Bilder von Besessenheiten verstand.

bjoern.zwingmann@businessschool-berlin.de

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