Die „Fernsehbilder“ von Petra Maria Runge – Eine gestaltpsychologische Kunstbetrachtung

Welch seltsam strenge Gleichförmigkeit. In einem massigen Glaskasten sind zwanzig ebengroße, erdbraune Tuscheblätter in vier Reihen á 5 Bögen angeordnet.

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Autor:in

Diplom-Psychologe Ralf Debus arbeitet als niedergelassener Psychotherapeut in eigener Praxis in Köln. Er war 18 Jahre lang Paar- und Sexualberater/Therapeut in einer PRO FAMILIA Beratungsstelle. Zwischen 1978 und 1986 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter von Wilhelm Salber, dem Begründer der Morphologischen Psychologie an der Universität zu Köln. Neben seiner Tätigkeit als Psychotherapeut ist die Wirkungspsychologie der Kunst ein weiterer Arbeitsschwerpunkt. Aktuelle Veröffentlichung: Die Gestaltpsychologie der Kunstbetrachtung: Eine Einführung anhand der Werkbeschreibungen von Werner Schmalenbach,  Hamburg 2021.

Kontakt: ralf.h.debus@gmail.com

Die „Fernsehbilder“ von Petra Maria Runge -Eine gestaltpsychologische Kunstbetrachtung

Ein sperriges Objekt – mit einem sinnlichen Versprechen?

Welch seltsam strenge Gleichförmigkeit. In einem massigen Glaskasten sind zwanzig ebengroße, erdbraune Tuscheblätter in vier Reihen á 5 Bögen angeordnet. Diese Strenge kontrastiert mit einer Vielfalt an Personenkonstellationen in den Zeichnungen: Allein, zu zweit oder zu dritt treten sie auf. Es lassen sich in einem ersten Zugriff keine Bezüge zwischen den Blättern herstellen. Jeder Bogen steht isoliert neben den anderen, bildet ein Rätsel, weil das Vorher und Nachher abgetrennt sind. Das ist ein sperriges Objekt. Eine definierte Ordnung, die sich nicht leicht aufschließen lässt und als spontane Reaktionen Verwirrung, Überforderung und Orientierungslosigkeit hervorruft.

Jedoch dann zeigt sich ein Anhalt. Im Schweifen der Blicke springen mehrere erotisch-sexuelle Szenen ins Auge: Ein nacktes Paar fließt aus einem Strich heraus zu einem Geschlechtsakt ineinander. Eine Frau mit einem sinnlichen Mund und herausgehobenen Brustwarzen hebt die Arme wie im freien Tanz; eine andere liegt mit bloßem Oberkörper auf dem Bauch, ihre rechte Hand in die Hose gesteckt, so als würde sie masturbieren. Eine weitere Frau sitzt rittlings, dem Betrachter den nackten Rücken zeigend, zwischen den Beinen ihres Gegenübers. Von ihrem Steißbein steigt eine kräftig betonte phallische Figuration nach oben, was wieder an Geschlechtsverkehr denken lässt. Die Situation scheint sich vor einem Spiegel abzuspielen, was gleichermaßen in der Masturbationsszene sein könnte.

 

Brüche

Die augenfällig sinnlichen Szenen wirken wie ein Versprechen. Könnte es möglich sein, dass das Tableau in einem erotischen Bilderreigen einen inneren Zusammenhang freigibt? Eine Geschichte von Begehren, Erregungen und Befriedigungen? Weitere Blätter scheinen diese Möglichkeit zu unterstreichen. Eine Figur sitzt mit hochgezogen Beinen und ihr Schambereich ist farblich betont. Zwischen einem Paar taucht im Hintergrund ein blasser weiblicher Rückenakt auf. Ein Frauenkopf erinnert an Marylin Monroe.

Doch schon diese drei Blätter offenbaren, dass die Personen auf ihnen nicht zusammenkommen, wie auf den meisten weiteren Bögen, die Zweier- und Dreierkonstellationen darstellen. Oft sind die Figuren oder Köpfe neben- bzw.  hintereinander angeordnet. Sie zeigen kaum Formen der Bezogenheit. In mehreren Blättern betonen Schraffuren den Abstand zwischen den Menschen. Dieser Eindruck wird verstärkt durch Gesichter, die traurig, zerlaufend und ausgebeult daherkommen. Bei den Dreierkonstellationen ist immer zumindest eine Person abgeschnitten von den anderen. Sind zwei Menschen mal einander zugewandt, schauen so doch aneinander vorbei. Der Ausdrucksgehalt der Gespaltenheit ist ein zentrales Merkmal des Tableaus und zwar in den meisten einzelnen Arbeiten wie im Gesamtobjekt. So wie die sinnlichen Szenen sich isoliert aus dem Ganzen abheben, vermitteln die Figuren überwiegend eine brüchige Nähe.

Die anfängliche Aussicht, wir könnten es hier mit lustvollen Variationen erotisch-sexueller Erfüllungen zu tun haben, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Wie zum Hohn wird die Wirkung des Abgespaltenen und Unverbundenen durch ein Blatt mit zwei Skeletten zugespitzt. Wobei eines absurderweise mit seinem rechten Knochenarm winkt. Eine witzige Groteske. Der linke Arm des anderen Skelettes scheint Kontakt aufnehmen zu wollen, und eine dritte, offensichtlich lebende Person macht vielleicht eine Geste der Vermittlung. Aber diese abwegigen Gebärden laufen völlig ins Leere. Im Tod Kontakt aufnehmen oder vermitteln zu wollen, ist ein boshaft, höhnisch übersteigerter Kommentar zur Sprachlosigkeit, die zwischen den Figuren herrscht.

Mindestens fünf Tuschezeichnungen zeigen abgekapselte Einzelfiguren: Ein Karl-Lagerfeld-Kopf, dessen linkes Brillenglas zugekleckst ist; sein rechtes Auge gibt sich durch einen hellen Fleck auf dem Glas mit einem misstrauischen Blick zu erkennen. Ein ‚Charles-de Gaulle-Kopf‘, dessen Augenstellung auseinandertreibt, mit einem verzerrten Mund und einer Nasenbetonung, die die Gesichtshälften scharf trennt. Eine Figur schlafend auf ihrer linken Körperseite liegend. Die Masturbierende in der Tätigkeit versunken. Der Kopf eines Autofahrers hinter dem Lenkrad, allein in seinem Gehäuse. Variationen des Getrennt-Seins.

Mehrdeutigkeit, die ihren Zusammenhang im malerischen Fluss erfährt

Und gleichzeitig haben alle Szenen in diesem Tableau einen Aufforderungs-charakter. Sie laden dazu ein, Geschichten zu entwickeln. Jede Situation kann der Ausgangspunkt einer Erzählung sein, aber auch an einer x-beliebigen anderen Stelle platziert werden. Geschichten von Wünschen, Begehren und Abweisung, von Erfüllung und Trennung, von Lust und Versagung, von Einbezogen-Werden-Wollen und Ausgeschlossen-Sein. Dieses Mehr- und Vieldeutige bietet einen Reichtum und bedeutet aber auch eine Herausforderung für den Betrachter. Es ist ein Zugleich von Zuviel (an doppelsinnigen Anmutungsqualitäten) und Zuwenig (an stimmigem Zusammenwirken), was wir vor uns haben.

Das Verbindende finden wir nicht im Inhaltlichen, sondern es offenbart sich in der subtilen, wirkmächtigen Gestaltung. Petra Maria Runge beherrscht auf eine außergewöhnliche Weise die Kunst des Zeichnens. Das hat sie eindrücklich unter Beweis gestellt mit ihren „Selbstporträts 1987-1999“ und den grafischen Editionen „Innenraum“ (1997/98) und „Blaubraun“ (2008). Das wenig Gefällige und nicht Ausformulierte der Themenanordnung verwandelt und löst sich, wenn man nur die Virtuosität ihres zeichnerischen Spiels verfolgt: Die malerische Bewegung der Pinselführung unterliegt einem Rhythmus zwischen Betonen und Abschwächen, zwischen Zentrieren und Verfließen, zwischen zart und kraftvoll, zwischen weichen Übergängen und abrupten Begrenzungen; und in jedem Blatt ist dieses ungeheure Tempo zu spüren. Das sind blitzschnelle, höchst gekonnte Handgelenksarbeiten, die ein absichtsvolles Ineinander von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von Angedeutetem und Sinnfälligem, von Präzisem und Ungefährem herstellen. Es gibt zahllose Übergänge in den Kontrasten, sodass jede Szene eine differenzierte Bewegtheit zwischen helleren und dunkleren Massen ist. Kein Blatt strahlt etwas Statisches, geometrisch Festgehaltenes aus, in allen ist eine mehr oder weniger intensive Schwingung spürbar, ein Rhythmus, der den Betrachter gleichzeitig ‚anmacht‘ und auflaufen lässt.

Spannung zwischen Fesselung und Freisetzung

Aus der vibrierenden Verschränkung von komplexem Objekt und Betrachtungs-prozess erwächst eine eigentümliche Wirklichkeitserfahrung: Die strenge Gleichförmigkeit der Anordnung, der durchgängig monochrome erdbraune Vortrag, die stetig variierenden Wechsel der einmal festgelegten gestalterischen Mittel unterlegen dieses Kunsterleben mit einem ungewöhnlichen Formzwang. Dem gegenüber steht die Vielfalt voneinander unabhängiger, aufgeladener Szenen, die Keimformen sind für eine unbegrenzte Zahl möglicher Phantasien, Vorstellungen und Erzählungen. Diese Offenheit hat den Charakter des Beliebigen, Willkürlichen und Flüchtigen. Aber sie birgt auch die Freiheit des Wählen-Könnens in sich. Das Werk lebt aus dem extremen Spannungsverhältnis zwischen der Fesselung durch entschiedene formalisierte Festlegungen und der Freisetzung einer äußerst widersprüchlichen Fülle an Wahlmöglichkeiten, affektiv anzudocken. Dabei changieren die festgehaltenen Szenen zwischen den Polen von inniger Verschmelzung und eigentümlicher Fremdheit der Protagonisten. So verwickelt das Werk den Betrachter in immer neue Spannungs-verhältnisse. Es lässt nie eine wirkliche Ruhe aufkommen. Wir haben es hier mit dem Kunstkriterium der „Störungsform“ zu tun. (1) Die Entstehung von Sinn, Struktur und Gehalt (z. B. durch die sexuellen Szenen, die äußere Form oder durch den Rhythmus der Gestaltung) wird ständig gestört durch die Wirkungen der Vereinzelung, des Gespaltenen, Unbestimmten, Zufälligen, Austauschbaren und Vorübergehenden der mehrdeutigen Blätter.

Spiegelung

Gibt es in diesem rotierenden Verhältnis zwischen einer disparaten Fülle und dem Festgelegt-Sein durch die zwingenden unbedingten Gestaltqualitäten der Präsentation ein ‚Mehr‘ und ein ‚Darüber hinaus‘?

Petra Maria Runge hat diese Arbeiten vor laufenden Fernsehsendungen produziert. Die Rahmung durch das Fernsehgerät ist auf den Blättern weggelassen. Die mittige Anordnung, die klar abgesetzte Gestalt mit ihren bewegten Rändern, das sich wiederholende Maß der Zeichnungen sowie die fluide Materialität der Tusche unterstützen die Suggestion, dass wir Bildschirm-Bilder vor uns haben, einen ‚Motion Flow‘, der mit dem Pinsel für einen Moment eingefangen wurde, ohne dabei seine szenische Bewegtheit zu verlieren.

Nur auf einem Bogen ist ein Fernsehapparat als solcher festgehalten. Die eine Hälfte des Bildschirms ist abgedeckt durch eine zerlaufende dunkle Masse, während auf der helleren Seite der Umriss eines Kopfes und Oberkörpers angedeutet ist. In dieser Extremisierung des Unbestimmten und Beliebigen und einem radikal reduzierten Sinngehalt drängt sich uns eine überraschende Analogie auf. Eine Analogie, die zeigt, wie Kunst die Objekte und Strukturen unseres Alltagshandelns transparent macht:

Die Malerin stellt ein Tableau willkürlich wirkender, von zufällig sie interessierenden Momentaufnahmen zusammen, die sie beim Fernsehschauen gezeichnet hat. Dem Betrachter steht es völlig frei, ob sein Blick von Szene zu Szene wandert oder wahllos hin und her springt. Ihm steht es frei, einen Sinnzusammenhang zu entwickeln oder es zu unterlassen.

Etwas Vergleichbares passiert beim Zapping. Indem wir als Fernsehzuschauer mitten im Schauen aus dem gesehenen Zusammenhang aussteigen, willkürlich in andere Szenen umschalten und diese immer wieder abbrechen, schaffen wir eine Collage von abgehackten Bild- und Sprachstücken. Dabei wird uns die „ewige Wiederkehr“ des Gleichen in unseren Programmen bewusst, und gleichzeitig können wir im Zappen uns davon distanzieren: Von den ständigen Aufgüssen an Abläufen in Nachrichtensendungen, den Imitationen von Werbe-illusionen, den nicht enden wollenden Variationen der Serienplots und der Phrasendrescherei in den Talkshows.

Je länger wir das Zapping ausdehnen, fließen die einzelnen amputierten Sinn-fetzen zu einem undifferenzierten Hintergrundrauschen zusammen, vor dem der Zuschauer seinen Phantasien, Gedanken und Erinnerungsbildern nachhängen kann. Im Zappen realisiert sich zugespitzt ein Spielraum und die Selbstbestimmtheit, sich einlassen zu können oder auch nicht, zu bejahen oder abzulehnen.

Die Fernsehbilder von Petra Maria Runge spiegeln uns diese doppelte Erfahrung. Sie sind gleichsam (um einen Ausdruck von Picasso zu bemühen) „realer als die Realität“ der TV-Bilder. (2)

Einmal wird die Wiederkehr des Genormten, Beliebigen und Austauschbaren in den Massenmedien (das, was Enzensberger das „Nullmedium“ nannte) in einem eigenständigen, individuellen Objekt versinnlicht, und zugleich macht uns dieses Werk auf den Zwang aufmerksam, der in der Wahlfreiheit steckt. (3)

Wählen können heißt entscheiden müssen, auf was wir uns einlassen und woraus wir einen persönlichen Mehrwert ziehen wollen. Wir können die Alltagskost konsumieren oder nach der Perle in der Massenware suchen. Das steht uns frei; aber nie können wir verhindern, dass die uns vermittelten Sinnzusammenhänge und Befriedigungen sich zwischen den Bilderfolgen und dem Never-Ending-Talk auflösen und verloren gehen. So wie in diesem ‚sperrigen Objekt‘ vor uns, an dem alles, was wir dingfest machen, auch immer etwas anderes bedeuten kann.

Fernsehbilder, Tableau Aquarelle, 20 Blätter à 20 x 31 cm

Extremisierung – der Apparat gerät aus den Fugen

Auch hier die strenge Gleichförmigkeit, die klar gegliederte Ordnung einer Reihung, aber darin wird es bunt, aufwühlend und auf eine spezifische Weise dynamisch. Jedes Fernsehbild ist noch von einem altertümlich wirkenden Gehäuse umrahmt. Die Kästen zerlaufen und zerfließen; sie haben Dellen und Löcher; sie platzen, lösen sich auf und verschmelzen mit dem Grund. Es scheint, als ob sie mit Erschütterung auf das vermeintlich Gezeigte und Verkündete reagieren. Auf zwölf Blättern geben die Bildschirme Einzelfiguren wieder, meist Köpfe und angedeutete Oberkörper, unscharf und unbestimmt; nur ein spezielles Detail sticht auffällig heraus: Die Augenpaare. Dunkel, stechend, weit aufgerissen oder stierend, aber auch blass und zerlaufend oder ganz in der Gesichtsmasse verschwindend, dann wieder schwarze tote Blicke.

Aus diesen Augen spricht Härte, Gespenstisches, Entsetzen, Undefiniertes, Verlorenheit, Verletzung, Sich-Auflösendes und Erstorbenes. Die Bewegung der Farbmassen unterstreicht den Eindruck einer zerfallenden Ordnung. Als einzigen Halt bieten sich die wiederholende Reihung der Zeichenblätter und ihr Eingefasst-Sein im Objektkasten an. Die Ausdrucksqualität der Farben kann ebenfalls nicht beruhigen. Ein sich verbreitendes Rot scheint ein Gesicht anzufressen, ein schmutziges Grün, sich um eine mögliche Explosion zu legen. Zwei Häuser stehen schwarz, schief und traurig. Diese Eindrücke korrespondieren mit denjenigen Köpfen, die wie Totenschädel wirken. Vereinzelte Farbverläufe haben etwas Saugendes und Sich-Zusammenballendes ohne Richtung und Rhythmus. Eine sinnliche nackte Frau steht isoliert zwischen all dem. Sie kann mit ihren Reizen kein Gegengewicht bilden. Die Figurationen wirken wie gefangen in der Bildschirmform. Eine Folge bedrückender Atmosphären, die an die standardisierten Abläufe immer neuer Katastrophenmeldungen in den Nachrichtensendungen erinnern.

Im durchsichtigen, auflösenden Duktus liegt das Drama und seine Verfremdung

Inhaltlich-szenisch passiert nichts auf den Blättern. Es sind der Ausdrucksgehalt der Übergänge, die Wahl der Farben und ihre Konfrontation, die ein unheilvolles Fluidum schaffen. Das Düstere, Verschwommene, Blasse, Zerfließende und die verstörenden Augen geben den Blättern eine Anschauungsdynamik, in der die Atmosphäre von Bedrohung, Gewalt und Angst aufkeimt. Diese Stimmung wird verstärkt durch das unverbundene Nebeneinander, der semantischen Isolation der einzelnen Arbeiten.

Aber indem Petra Maria Runge zu dem ätherischen Mittel der Aquarellmalerei greift, kommt es gleichzeitig zu einer massiven Verfremdung und Brechung der bedrohlichen Wirkung des Dargestellten. Unsere Betroffenheit kann übergehen in eine Distanzierung, die uns einen anderen Blick ermöglicht.

Fernsehbilder – künstliche Blumen: Gewöhnlich, böse, poetisch

Nam June Paik war einer der ersten, der dem Medium Fernsehen mit radikalen Formen einer künstlerischen Sprache zu Leibe rückte und es in andere Kontexte setzte. So platzierte er in seiner Installation TV-Garden flimmernde Apparate zwischen ein Ensemble tropischer Gewächse. Damit schuf er ein zutiefst multivalentes Wirkungsfeld, in dem Natur, Mensch, Technik und Kunst in eine Konfrontation und Auseinandersetzung getrieben wurden. Zu seinem Werk „Robot Opera im Jahr 1965 gab Nam June Paik den Kommentar: „Das Fernsehen hat uns ein Leben lang attackiert, jetzt schlagen wir zurück. Ich möchte die Elektronik humanistischer, bewusster für die Problematik der darzustellenden Realität und diese sichtbarer machen.“ (4)

Die destruktive Seite im Chaos der Wirklichkeit dringt über die Zubereitung der Nachrichtensendungen in die Aura unserer persönlichen Umgebung ein. Wir wissen, dass es hergerichtet, gefiltert, vermittelt ist. Wir brauchen diese Vermittlung. Wir wollen nicht Teil eines unmittelbaren bedrohlichen Geschehens sein. Zwischen uns und dem Objekt liegt ein sicherer Abstand. Aber gleichzeitig ist diese Vermittlung die Voraussetzung dafür, dass sich alles Gesendete in einen unablässig fließenden Strom nivellieren kann. Ein Wirklichkeitsfluss, der uns immer wieder künstlich und fassadär vorkommt und regelmäßig die Erfahrung von Entfremdung und Passivität hervorruft.

Kunst schafft es, diese Wirksamkeiten durch eigene bewusst eingesetzte Verfremdungstechniken zur Ansicht zu bringen. Objekte, Personen, Handlungen und ganze Welten werden füreinander durchlässig.

Petra Maria Runge wählt hierfür die Sprache der Aquarellmalerei und stellt damit eine gewagte Metamorphose her. Sie verwandelt das technologisch basierte Medium in die transparente, zarte, fluide Materialität wasserlöslicher Pigmente. Das hat etwas zutiefst Artifizielles, Ironisches und Lächerlich-Machendes an sich. Der unabweisbar ambivalente Einfluss des Fernsehens auf unsere Lebenswelt wird mit einem Aquarell-Pinselchen aufgespießt. Dabei sind kleine hybride Lebewesen entstanden: Künstlich und flüchtig, technisch und ätherisch, poetisch und böse. Aus diesen Verwandlungen spricht die Aufforderung: Schau genau hin! Was ist es, was dich berührt, anzieht, langweilt oder verschreckt, wenn du der simplen Gewohnheit des Fernsehschauens nachgehst?

Englische_Fassung_zu_Fernsehbildern

Anmerkungen

(1) Salber, W.: Kunst-Psychologie-Behandlung. Bonn 1977, S. 107

(2) Zitiert nach I. F. Walther: Picasso. Köln 1986, S. 61

(3) Hans Magnus Enzensberger: Das Nullmedium oder warum alle Klagen gegen das Fernsehen gegenstandslos sind. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn. Frankfurt/M 1988.

(4) Zitiert nach Wulf Herzogenrath: Nam June Paik, Fluxus, Video. München 1983

 

Artikel und Beiträge von Ralf Debus in Zwischenschritte

∙ mit Claudia Busch: Märchen als Schlüssel zur Welt (1/1982)

∙ Die Rekonstruktion einer Stundenwelt – mit ‘Franzi’, dem ‘Mädchen auf dem grünen Sofa’ (M. Pechstein) (2/1984)

∙ „Tagesschau“ im Seelenhaushalt

Eine einführende Studie in die Wirkungspsychologie einer Nachrichtensendung (1/1985)

 

Petra Maria Runge ist eine in Köln lebende und arbeitende Grafikerin und Designerin. Sie wurde 1957 in Hannover geboren und studierte Kunst und Psychologie in Köln, Frankreich und der Schweiz. 1987–1993 arbeitete sie an multidisziplinären Kooperationsprojekten. Seit 1993 arbeitet sie als Porträt- und Bodyprints-Künstlerin und als Designerin in der Objektgestaltung. 2001 erhielt sie eine Nominierung beim Compasso d’Oro für den Spiegel Book and Exhibition von ADI. Seit 1994 arbeitet sie als Grafikerin und Designerin und kreiert künstlerische Arbeit und Ausstellungen mit Bodyprints, Selbstporträts und Porträts.

http://www.p-runge.de/

http://www.getidan.de/author/petra_runge

Kontakt: p-runge@t-online.de

Autor:in

Diplom-Psychologe Ralf Debus arbeitet als niedergelassener Psychotherapeut in eigener Praxis in Köln. Er war 18 Jahre lang Paar- und Sexualberater/Therapeut in einer PRO FAMILIA Beratungsstelle. Zwischen 1978 und 1986 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter von Wilhelm Salber, dem Begründer der Morphologischen Psychologie an der Universität zu Köln. Neben seiner Tätigkeit als Psychotherapeut ist die Wirkungspsychologie der Kunst ein weiterer Arbeitsschwerpunkt. Aktuelle Veröffentlichung: Die Gestaltpsychologie der Kunstbetrachtung: Eine Einführung anhand der Werkbeschreibungen von Werner Schmalenbach,  Hamburg 2021.

Kontakt: ralf.h.debus@gmail.com

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